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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Marie von Vlfers.

Voreingenommenheit. Da giebt es Bücher, die gleich bei ihrem Erscheinen auf
dem Büchermarkt eine ganze Flut von Artikeln hervorrufen; jede Zeitung hält
es für ihre Pflicht, diese Bücher zu besprechen. Über andre dagegen, die einem
oft der Zufall in die Hände spielt, und die man nach wiederholter Lektüre
immer mehr liebgewinnt, wird geschwiegen. Warum? Ist der Autor zu stolz,
um selbst nach Rezensionen zu streben, wie es so oft geschieht? Oder ist sein
Buch zu apart, zu eigentümlich, um auf den ersten Blick aller Welt zu gefallen?
Es pflegt sich beides häufig zu vereinigen.

Auch mit den Büchern der Frau Marie vou Olfers scheint es sich so
zu Verhalten. Außer einer Besprechung, die Friedrich Spielhagen ihren No¬
vellen*) in seinen "Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans" (S. 245
bis 257) gewidmet hat und die schon aus dem Jahre 1876 stammt, ist mir
keine andre Kritik darüber begegnet, und ihr neuestes Werk: Simplizitas**)
habe ich auch noch nirgends besprochen gefunden. Es sei daher der Versuch
gemacht, den Fehler gut zu machen.

In die eigentümlichen Reize der Poesie dieser Dichterin muß man sich erst
nach und nach hineinlesen. Sie hat auf den ersten Blick nichts Fesselndes, und
das, was man zuerst merkt, sind eben keine Vorzüge. Ihre Sprache ist die
schlichteste und entstammt dem alltäglichen Leben; die Diktion läuft in kurzen
Sätzen dahin, die sich gern zu sinnreichen aphoristischen Gnomen zuspitzen, aber
eben deswegen den raschen Fortgang hemmen. Sie hat eigentlich keine große
Erfindungsgabe, die Handlungen sind weder besonders originell, noch besonders
verwickelt. Auch die Form der Komposition weicht von der üblichen Novellen¬
form ab; wollte man nach Heyseschem Gesetz den Inhalt ihrer Geschichten in
einem Satze wiedergeben, man wäre gar sehr in Verlegenheit. Gleichwohl
giebt es auch bei ihr in jeder Erzählung eine Pointe, den "Falken," den
Heyse in der Peripetie der Novelle fordert. Aber sie arbeitet nicht klar darauf
los; vielmehr hat man das Gefühl, daß die Erzählerin, wenn sie beginnt, das
Ende der Geschichte noch nicht kenne.

Es ist ihr überhaupt nicht um die "Geschichte," die spannende Fabel zu
thun, sie will ganz wo anders hinaus; alles zielt bei ihr auf die Darstellung
des Zuständlichen, das sich Schritt für Schritt ablöst und mit ungemeiner
Innigkeit durchgefühlt wird. Ihr ganzes Sinnen ist vertieft in die Charaktere,
deren innerstes Wesen sie intensiv fühlt, sobald diese einmal vor ihrer Phantasie
aufgetaucht sind, und die sich nun mit großer Konsequenz "ausleben," ganz nach
eignem Belieben und Müssen, wozu die Erzählerin, wie es scheint, selbst gar-
nichts hinzuthun kann, deren Entfaltung sie aber aufs genaueste, in feinsten
psychologischen Fortschritten, wenn auch bei größter Freiheit in der Behandlung




*) Novellen, 1372; Neue Novellen, 1376. Berlin, Wilhelm Hertz,
**) Ebenda, 1884.
Marie von Vlfers.

Voreingenommenheit. Da giebt es Bücher, die gleich bei ihrem Erscheinen auf
dem Büchermarkt eine ganze Flut von Artikeln hervorrufen; jede Zeitung hält
es für ihre Pflicht, diese Bücher zu besprechen. Über andre dagegen, die einem
oft der Zufall in die Hände spielt, und die man nach wiederholter Lektüre
immer mehr liebgewinnt, wird geschwiegen. Warum? Ist der Autor zu stolz,
um selbst nach Rezensionen zu streben, wie es so oft geschieht? Oder ist sein
Buch zu apart, zu eigentümlich, um auf den ersten Blick aller Welt zu gefallen?
Es pflegt sich beides häufig zu vereinigen.

Auch mit den Büchern der Frau Marie vou Olfers scheint es sich so
zu Verhalten. Außer einer Besprechung, die Friedrich Spielhagen ihren No¬
vellen*) in seinen „Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans" (S. 245
bis 257) gewidmet hat und die schon aus dem Jahre 1876 stammt, ist mir
keine andre Kritik darüber begegnet, und ihr neuestes Werk: Simplizitas**)
habe ich auch noch nirgends besprochen gefunden. Es sei daher der Versuch
gemacht, den Fehler gut zu machen.

In die eigentümlichen Reize der Poesie dieser Dichterin muß man sich erst
nach und nach hineinlesen. Sie hat auf den ersten Blick nichts Fesselndes, und
das, was man zuerst merkt, sind eben keine Vorzüge. Ihre Sprache ist die
schlichteste und entstammt dem alltäglichen Leben; die Diktion läuft in kurzen
Sätzen dahin, die sich gern zu sinnreichen aphoristischen Gnomen zuspitzen, aber
eben deswegen den raschen Fortgang hemmen. Sie hat eigentlich keine große
Erfindungsgabe, die Handlungen sind weder besonders originell, noch besonders
verwickelt. Auch die Form der Komposition weicht von der üblichen Novellen¬
form ab; wollte man nach Heyseschem Gesetz den Inhalt ihrer Geschichten in
einem Satze wiedergeben, man wäre gar sehr in Verlegenheit. Gleichwohl
giebt es auch bei ihr in jeder Erzählung eine Pointe, den „Falken," den
Heyse in der Peripetie der Novelle fordert. Aber sie arbeitet nicht klar darauf
los; vielmehr hat man das Gefühl, daß die Erzählerin, wenn sie beginnt, das
Ende der Geschichte noch nicht kenne.

Es ist ihr überhaupt nicht um die „Geschichte," die spannende Fabel zu
thun, sie will ganz wo anders hinaus; alles zielt bei ihr auf die Darstellung
des Zuständlichen, das sich Schritt für Schritt ablöst und mit ungemeiner
Innigkeit durchgefühlt wird. Ihr ganzes Sinnen ist vertieft in die Charaktere,
deren innerstes Wesen sie intensiv fühlt, sobald diese einmal vor ihrer Phantasie
aufgetaucht sind, und die sich nun mit großer Konsequenz „ausleben," ganz nach
eignem Belieben und Müssen, wozu die Erzählerin, wie es scheint, selbst gar-
nichts hinzuthun kann, deren Entfaltung sie aber aufs genaueste, in feinsten
psychologischen Fortschritten, wenn auch bei größter Freiheit in der Behandlung




*) Novellen, 1372; Neue Novellen, 1376. Berlin, Wilhelm Hertz,
**) Ebenda, 1884.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/136>, abgerufen am 29.12.2024.