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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die große Kunstausstellung in Berlin.

wahrt, als er in koloristische Extravaganzen verfiel, deren Motiv man wohl
begreifen, die man aber nicht billigen kann. In seine Lehrzeit in Paris fiel
nämlich die plötzliche, sieghafte Ausbreitung jener Richtung, die aus Millet,
Courbet und den Impressionisten ihre Nahrung gesogen hat und die ich der
Kürze halber als Naturalismus bezeichne, obwohl dieses Schlagwort den Inhalt
jener künstlerischen Richtung nicht völlig erschöpft. Man müßte z. B. noch
den Begriff der Trivialität hinzufügen, um diese Art noch schärfer zu charak-
terisiren. Der von den Impressionisten übernommene Grundsatz der Malerei
su xlsin iür, des Malens in freier Luft, ist einer der wesentlichsten und zu¬
gleich unanfechtbarsten Punkte ihres Programms. In Wahrheit ist durch die
Gewohnheit, die Bilder im Atelier fertig zu malen und auch die für sie not¬
wendig vorbereitenden Studien im geschlossenen Raume zu machen, eine falsche
Manier des Sehens in die moderne Malerei hineingeraten. Das Auge hat
sich gewöhnt, die Figuren, auch wenn sie sich in freier Luft bewegen, viel zu
dunkel zu sehen. Das Auge ist für die Lichtfülle der Natur allmählich weniger
empfänglich, es ist blöde und stumpf geworden. Wie vielen Entdeckern, ist es
aber auch den Naturalisten ergangen: sie haben vor Freude über ihre Ent¬
deckung den Kopf verloren. Wenn sie den Malern alten Stils vorwerfen
konnten, daß ihre Gemälde aussähen, als wären sie im Keller gemalt und
ihre Figuren wie Schornsteinfeger, so kann man ihnen dagegen zum Vorwurf
machen, daß sie ihre Figuren mit Mehlstaub bestreuen. Diese Übertreibung ist
ebenso sehr eine wunde Stelle ihrer Prinzipien wie das absichtliche Jgnoriren
der Luft. Infolgedessen fehlt es den in den Raum hineingcsetzten Figuren an
Körperlichkeit. Sie sehen aus wie die Pappfiguren eines Kindertheaters. Sie
kommen vom Hintergrunde nicht los, und wenn sich die Figuren in verschie¬
denen Plänen zu bewegen haben, geraten sie so hart aneinander, daß die Kom¬
position unverständlich wird. Abbe und sein gleichstrebender Landsmann Max
Licbermann schlössen sich in Paris mit vollen Segeln der naturalistischen Be¬
wegung an und übertrieben ihre Prinzipien gleich so gründlich, daß ihre Ar¬
beiten zum Teil wie Karikaturen aussahen und daher der Lächerlichkeit anheim¬
fielen oder auf ernsten Widerspruch stießen. Das letztere ist in Berlin mit
Abtes Heiland, der die Kindlein zu sich kommen läßt, der Fall. Man glaubt,
daß Abbe den Gegenstand der Verehrung aus rationalistischen Absichten in die
trivialste Wirklichkeit hinabziehen will, und protestirt, weil man sich den gött¬
lichen Glanz nicht gern rauben läßt. Und befremdlich genug ist Abtes Bild:
naiv aufgefaßt und doch mit höchstem Raffinement durchgeführt. Wir blicken
in eine kahle Bauernstube, durch deren Fenster ein kaltes, bleiches Frühlingslicht
bei leicht bedecktem Himmel blickt. Auf einem Lehnstuhle sitzt der Heiland, eine
schmächtige Gestalt mit hagerem Antlitz und abgehärmten Zügen. Sein langes
dunkelblaues Gewand sieht aus, als wäre ein müder Wanderer von der stau¬
bigen Landstraße eingekehrt, um in dem Bauernhause kurze Rast zu halten --


Die große Kunstausstellung in Berlin.

wahrt, als er in koloristische Extravaganzen verfiel, deren Motiv man wohl
begreifen, die man aber nicht billigen kann. In seine Lehrzeit in Paris fiel
nämlich die plötzliche, sieghafte Ausbreitung jener Richtung, die aus Millet,
Courbet und den Impressionisten ihre Nahrung gesogen hat und die ich der
Kürze halber als Naturalismus bezeichne, obwohl dieses Schlagwort den Inhalt
jener künstlerischen Richtung nicht völlig erschöpft. Man müßte z. B. noch
den Begriff der Trivialität hinzufügen, um diese Art noch schärfer zu charak-
terisiren. Der von den Impressionisten übernommene Grundsatz der Malerei
su xlsin iür, des Malens in freier Luft, ist einer der wesentlichsten und zu¬
gleich unanfechtbarsten Punkte ihres Programms. In Wahrheit ist durch die
Gewohnheit, die Bilder im Atelier fertig zu malen und auch die für sie not¬
wendig vorbereitenden Studien im geschlossenen Raume zu machen, eine falsche
Manier des Sehens in die moderne Malerei hineingeraten. Das Auge hat
sich gewöhnt, die Figuren, auch wenn sie sich in freier Luft bewegen, viel zu
dunkel zu sehen. Das Auge ist für die Lichtfülle der Natur allmählich weniger
empfänglich, es ist blöde und stumpf geworden. Wie vielen Entdeckern, ist es
aber auch den Naturalisten ergangen: sie haben vor Freude über ihre Ent¬
deckung den Kopf verloren. Wenn sie den Malern alten Stils vorwerfen
konnten, daß ihre Gemälde aussähen, als wären sie im Keller gemalt und
ihre Figuren wie Schornsteinfeger, so kann man ihnen dagegen zum Vorwurf
machen, daß sie ihre Figuren mit Mehlstaub bestreuen. Diese Übertreibung ist
ebenso sehr eine wunde Stelle ihrer Prinzipien wie das absichtliche Jgnoriren
der Luft. Infolgedessen fehlt es den in den Raum hineingcsetzten Figuren an
Körperlichkeit. Sie sehen aus wie die Pappfiguren eines Kindertheaters. Sie
kommen vom Hintergrunde nicht los, und wenn sich die Figuren in verschie¬
denen Plänen zu bewegen haben, geraten sie so hart aneinander, daß die Kom¬
position unverständlich wird. Abbe und sein gleichstrebender Landsmann Max
Licbermann schlössen sich in Paris mit vollen Segeln der naturalistischen Be¬
wegung an und übertrieben ihre Prinzipien gleich so gründlich, daß ihre Ar¬
beiten zum Teil wie Karikaturen aussahen und daher der Lächerlichkeit anheim¬
fielen oder auf ernsten Widerspruch stießen. Das letztere ist in Berlin mit
Abtes Heiland, der die Kindlein zu sich kommen läßt, der Fall. Man glaubt,
daß Abbe den Gegenstand der Verehrung aus rationalistischen Absichten in die
trivialste Wirklichkeit hinabziehen will, und protestirt, weil man sich den gött¬
lichen Glanz nicht gern rauben läßt. Und befremdlich genug ist Abtes Bild:
naiv aufgefaßt und doch mit höchstem Raffinement durchgeführt. Wir blicken
in eine kahle Bauernstube, durch deren Fenster ein kaltes, bleiches Frühlingslicht
bei leicht bedecktem Himmel blickt. Auf einem Lehnstuhle sitzt der Heiland, eine
schmächtige Gestalt mit hagerem Antlitz und abgehärmten Zügen. Sein langes
dunkelblaues Gewand sieht aus, als wäre ein müder Wanderer von der stau¬
bigen Landstraße eingekehrt, um in dem Bauernhause kurze Rast zu halten —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/623>, abgerufen am 27.09.2024.