Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die große Kunstausstellung in Berlin,

Von der eigentlichen Aktion des Spiels wird man nichts gewahr. Nur die
vor den Spielern aufgehäuften Goldstücke lassen uns erraten, was mitten im
Gewühl vorgeht. Zwischen und vor den Tischen haben sich andre Gruppen von
plaudernden Herren und Damen gebildet. Hier wie dort fesselt die modische
Eleganz der Damentoiletten so sehr unsre Aufmerksamkeit, daß man auf den
ersten Blick an ein kolonrtes Modenbild erinnert wird. Auch bei näherem
Nachforschen dringt man nicht allzusehr in die Tiefe. Bei der großen Menge
der Figuren ist jede einzelne nur oberflächlich charakterisirt. In den Physio¬
gnomien spürt man nichts von den Emotionen und Leidenschaften, welche das
Spiel wachruft. Es müßte denn sein, daß der Maler die Absicht hatte, zu
zeigen, wie der feine Ton des internationalen Verkehrs über diese ganze Ge¬
sellschaft so sehr die Oberhand gewonnen hat, daß jeder seine persönlichen Em¬
pfindungen unter der Maske konventioneller Höflichkeit zu verbergen weiß. In
dem Bestreben, der Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen, hat der Maler
seinen Rahmen zu weit gespannt und auf jede feinere Individualisirung, auf
eine effektvolle, um einen Mittelpunkt gruppirte Komposition verzichten müssen.
Es fehlt die psychologische Vertiefung und die novellistische Verbindung der Fi¬
guren, und deshalb macht das Gemälde, ungeachtet des virtuosen Vortrags,
einen unbefriedigender Eindruck.

Die Münchener sind es, welche in ihrer Gesamtheit auf dein Gebiete der
Genremalerei einen Vorsprung über Berlin und Düsseldorf hinaus gewonnen
haben. Sie haben sich dabei nicht einmal ihre Sache leicht gemacht, indem sie
etwa die Treffer ihrer vorjährigen internationalen Ausstellung nach Berlin
schickten. Abgesehen von zwei hervorragenden Werken, der Rettung der ver¬
unglückten Edelweißpflückerin von Matthias Schmid und der Übergabe von
Warschau an den Großen Kurfürsten von W. Räuber, sind sie vielmehr
mit lauter neuen Arbeiten erschienen, welche von einer durch die Erfolge der
Ausstellung gesteigerten Produktivnslust zeugen. Die Grenzen, in welchen sich
die Münchener Genremalerei bewegt, sind freilich nicht weitgezogen. Auf der
einen Seite der Humor, welcher seiue Hauptvertreter in Defregger, Grützner
und Harburger steht, auf der andern Seite das Kostümbild, welches zum Teil
nur aus Wohlgefallen an den farbigen und schillernden Stoffe" kultivirt, zum
Teil aber auch mit größerm Ernste und mit eindringlicher Vertiefung in das
Charakteristische und Physiognomische behandelt wird. Unter den Vertretern
der letztern Gruppe steht Claus Meyer aus Linden bei Hannover obenan. Vor
zwei Jahren noch ein unbekannter Anfänger, hat er sich durch ein sorgfältiges
Studium des niederländischen Volkslebens und der altniederländischen Kunst zu
der Stellung eines Genremalers von erstem Range emporgeschwungen, nachdem
er freilich vorher durch den Unterricht von Löfftz in München in den Besitz
einer durchgebildeten, zur Lösung aller Probleme befähigten Technik gelangt
war. Wenn man sein Rauchkolleginm, eine Gesellschaft von fünf zum Teil be-


Die große Kunstausstellung in Berlin,

Von der eigentlichen Aktion des Spiels wird man nichts gewahr. Nur die
vor den Spielern aufgehäuften Goldstücke lassen uns erraten, was mitten im
Gewühl vorgeht. Zwischen und vor den Tischen haben sich andre Gruppen von
plaudernden Herren und Damen gebildet. Hier wie dort fesselt die modische
Eleganz der Damentoiletten so sehr unsre Aufmerksamkeit, daß man auf den
ersten Blick an ein kolonrtes Modenbild erinnert wird. Auch bei näherem
Nachforschen dringt man nicht allzusehr in die Tiefe. Bei der großen Menge
der Figuren ist jede einzelne nur oberflächlich charakterisirt. In den Physio¬
gnomien spürt man nichts von den Emotionen und Leidenschaften, welche das
Spiel wachruft. Es müßte denn sein, daß der Maler die Absicht hatte, zu
zeigen, wie der feine Ton des internationalen Verkehrs über diese ganze Ge¬
sellschaft so sehr die Oberhand gewonnen hat, daß jeder seine persönlichen Em¬
pfindungen unter der Maske konventioneller Höflichkeit zu verbergen weiß. In
dem Bestreben, der Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen, hat der Maler
seinen Rahmen zu weit gespannt und auf jede feinere Individualisirung, auf
eine effektvolle, um einen Mittelpunkt gruppirte Komposition verzichten müssen.
Es fehlt die psychologische Vertiefung und die novellistische Verbindung der Fi¬
guren, und deshalb macht das Gemälde, ungeachtet des virtuosen Vortrags,
einen unbefriedigender Eindruck.

Die Münchener sind es, welche in ihrer Gesamtheit auf dein Gebiete der
Genremalerei einen Vorsprung über Berlin und Düsseldorf hinaus gewonnen
haben. Sie haben sich dabei nicht einmal ihre Sache leicht gemacht, indem sie
etwa die Treffer ihrer vorjährigen internationalen Ausstellung nach Berlin
schickten. Abgesehen von zwei hervorragenden Werken, der Rettung der ver¬
unglückten Edelweißpflückerin von Matthias Schmid und der Übergabe von
Warschau an den Großen Kurfürsten von W. Räuber, sind sie vielmehr
mit lauter neuen Arbeiten erschienen, welche von einer durch die Erfolge der
Ausstellung gesteigerten Produktivnslust zeugen. Die Grenzen, in welchen sich
die Münchener Genremalerei bewegt, sind freilich nicht weitgezogen. Auf der
einen Seite der Humor, welcher seiue Hauptvertreter in Defregger, Grützner
und Harburger steht, auf der andern Seite das Kostümbild, welches zum Teil
nur aus Wohlgefallen an den farbigen und schillernden Stoffe» kultivirt, zum
Teil aber auch mit größerm Ernste und mit eindringlicher Vertiefung in das
Charakteristische und Physiognomische behandelt wird. Unter den Vertretern
der letztern Gruppe steht Claus Meyer aus Linden bei Hannover obenan. Vor
zwei Jahren noch ein unbekannter Anfänger, hat er sich durch ein sorgfältiges
Studium des niederländischen Volkslebens und der altniederländischen Kunst zu
der Stellung eines Genremalers von erstem Range emporgeschwungen, nachdem
er freilich vorher durch den Unterricht von Löfftz in München in den Besitz
einer durchgebildeten, zur Lösung aller Probleme befähigten Technik gelangt
war. Wenn man sein Rauchkolleginm, eine Gesellschaft von fünf zum Teil be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0572" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156843"/>
          <fw type="header" place="top"> Die große Kunstausstellung in Berlin,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2585" prev="#ID_2584"> Von der eigentlichen Aktion des Spiels wird man nichts gewahr. Nur die<lb/>
vor den Spielern aufgehäuften Goldstücke lassen uns erraten, was mitten im<lb/>
Gewühl vorgeht. Zwischen und vor den Tischen haben sich andre Gruppen von<lb/>
plaudernden Herren und Damen gebildet. Hier wie dort fesselt die modische<lb/>
Eleganz der Damentoiletten so sehr unsre Aufmerksamkeit, daß man auf den<lb/>
ersten Blick an ein kolonrtes Modenbild erinnert wird. Auch bei näherem<lb/>
Nachforschen dringt man nicht allzusehr in die Tiefe. Bei der großen Menge<lb/>
der Figuren ist jede einzelne nur oberflächlich charakterisirt. In den Physio¬<lb/>
gnomien spürt man nichts von den Emotionen und Leidenschaften, welche das<lb/>
Spiel wachruft. Es müßte denn sein, daß der Maler die Absicht hatte, zu<lb/>
zeigen, wie der feine Ton des internationalen Verkehrs über diese ganze Ge¬<lb/>
sellschaft so sehr die Oberhand gewonnen hat, daß jeder seine persönlichen Em¬<lb/>
pfindungen unter der Maske konventioneller Höflichkeit zu verbergen weiß. In<lb/>
dem Bestreben, der Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen, hat der Maler<lb/>
seinen Rahmen zu weit gespannt und auf jede feinere Individualisirung, auf<lb/>
eine effektvolle, um einen Mittelpunkt gruppirte Komposition verzichten müssen.<lb/>
Es fehlt die psychologische Vertiefung und die novellistische Verbindung der Fi¬<lb/>
guren, und deshalb macht das Gemälde, ungeachtet des virtuosen Vortrags,<lb/>
einen unbefriedigender Eindruck.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2586" next="#ID_2587"> Die Münchener sind es, welche in ihrer Gesamtheit auf dein Gebiete der<lb/>
Genremalerei einen Vorsprung über Berlin und Düsseldorf hinaus gewonnen<lb/>
haben. Sie haben sich dabei nicht einmal ihre Sache leicht gemacht, indem sie<lb/>
etwa die Treffer ihrer vorjährigen internationalen Ausstellung nach Berlin<lb/>
schickten. Abgesehen von zwei hervorragenden Werken, der Rettung der ver¬<lb/>
unglückten Edelweißpflückerin von Matthias Schmid und der Übergabe von<lb/>
Warschau an den Großen Kurfürsten von W. Räuber, sind sie vielmehr<lb/>
mit lauter neuen Arbeiten erschienen, welche von einer durch die Erfolge der<lb/>
Ausstellung gesteigerten Produktivnslust zeugen. Die Grenzen, in welchen sich<lb/>
die Münchener Genremalerei bewegt, sind freilich nicht weitgezogen. Auf der<lb/>
einen Seite der Humor, welcher seiue Hauptvertreter in Defregger, Grützner<lb/>
und Harburger steht, auf der andern Seite das Kostümbild, welches zum Teil<lb/>
nur aus Wohlgefallen an den farbigen und schillernden Stoffe» kultivirt, zum<lb/>
Teil aber auch mit größerm Ernste und mit eindringlicher Vertiefung in das<lb/>
Charakteristische und Physiognomische behandelt wird. Unter den Vertretern<lb/>
der letztern Gruppe steht Claus Meyer aus Linden bei Hannover obenan. Vor<lb/>
zwei Jahren noch ein unbekannter Anfänger, hat er sich durch ein sorgfältiges<lb/>
Studium des niederländischen Volkslebens und der altniederländischen Kunst zu<lb/>
der Stellung eines Genremalers von erstem Range emporgeschwungen, nachdem<lb/>
er freilich vorher durch den Unterricht von Löfftz in München in den Besitz<lb/>
einer durchgebildeten, zur Lösung aller Probleme befähigten Technik gelangt<lb/>
war. Wenn man sein Rauchkolleginm, eine Gesellschaft von fünf zum Teil be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0572] Die große Kunstausstellung in Berlin, Von der eigentlichen Aktion des Spiels wird man nichts gewahr. Nur die vor den Spielern aufgehäuften Goldstücke lassen uns erraten, was mitten im Gewühl vorgeht. Zwischen und vor den Tischen haben sich andre Gruppen von plaudernden Herren und Damen gebildet. Hier wie dort fesselt die modische Eleganz der Damentoiletten so sehr unsre Aufmerksamkeit, daß man auf den ersten Blick an ein kolonrtes Modenbild erinnert wird. Auch bei näherem Nachforschen dringt man nicht allzusehr in die Tiefe. Bei der großen Menge der Figuren ist jede einzelne nur oberflächlich charakterisirt. In den Physio¬ gnomien spürt man nichts von den Emotionen und Leidenschaften, welche das Spiel wachruft. Es müßte denn sein, daß der Maler die Absicht hatte, zu zeigen, wie der feine Ton des internationalen Verkehrs über diese ganze Ge¬ sellschaft so sehr die Oberhand gewonnen hat, daß jeder seine persönlichen Em¬ pfindungen unter der Maske konventioneller Höflichkeit zu verbergen weiß. In dem Bestreben, der Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen, hat der Maler seinen Rahmen zu weit gespannt und auf jede feinere Individualisirung, auf eine effektvolle, um einen Mittelpunkt gruppirte Komposition verzichten müssen. Es fehlt die psychologische Vertiefung und die novellistische Verbindung der Fi¬ guren, und deshalb macht das Gemälde, ungeachtet des virtuosen Vortrags, einen unbefriedigender Eindruck. Die Münchener sind es, welche in ihrer Gesamtheit auf dein Gebiete der Genremalerei einen Vorsprung über Berlin und Düsseldorf hinaus gewonnen haben. Sie haben sich dabei nicht einmal ihre Sache leicht gemacht, indem sie etwa die Treffer ihrer vorjährigen internationalen Ausstellung nach Berlin schickten. Abgesehen von zwei hervorragenden Werken, der Rettung der ver¬ unglückten Edelweißpflückerin von Matthias Schmid und der Übergabe von Warschau an den Großen Kurfürsten von W. Räuber, sind sie vielmehr mit lauter neuen Arbeiten erschienen, welche von einer durch die Erfolge der Ausstellung gesteigerten Produktivnslust zeugen. Die Grenzen, in welchen sich die Münchener Genremalerei bewegt, sind freilich nicht weitgezogen. Auf der einen Seite der Humor, welcher seiue Hauptvertreter in Defregger, Grützner und Harburger steht, auf der andern Seite das Kostümbild, welches zum Teil nur aus Wohlgefallen an den farbigen und schillernden Stoffe» kultivirt, zum Teil aber auch mit größerm Ernste und mit eindringlicher Vertiefung in das Charakteristische und Physiognomische behandelt wird. Unter den Vertretern der letztern Gruppe steht Claus Meyer aus Linden bei Hannover obenan. Vor zwei Jahren noch ein unbekannter Anfänger, hat er sich durch ein sorgfältiges Studium des niederländischen Volkslebens und der altniederländischen Kunst zu der Stellung eines Genremalers von erstem Range emporgeschwungen, nachdem er freilich vorher durch den Unterricht von Löfftz in München in den Besitz einer durchgebildeten, zur Lösung aller Probleme befähigten Technik gelangt war. Wenn man sein Rauchkolleginm, eine Gesellschaft von fünf zum Teil be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/572
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/572>, abgerufen am 28.09.2024.