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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Lndo einer weltgeschichtlichen Legende.

des Blutes und die Unantastbarkeit des Stammbaumes hält, allen Ernstes von
jenem grob ersonnenen Lügenmärchen als von einer historischen Glaubwürdigkeit
gesprochen. Seltsamerweise ist dem frommen Blatt jedoch zu Lebzeiten des
Noi eine derartige ketzerische Skepsis an der Unanfechtbarkeit der königlichen
Rechtstitel des letzteren nie in den Sinn gekommen. Erst seit dem Wieder¬
aufleben des alten untilgbaren Haders zwischen den Anhängern der weißen und
denjenigen der dreifarbigen Fahne hat es für gut erachtet, diesen zweifelhaften
Trumpf gegen die verhaßten "Abkömmlinge der Revolution" auszuspielen, ohne
zu bedenken, wie sehr er zum Schaden der eignen Partei wirken kann, ohne
vielleicht auch zu wissen, daß es eine Geschichte giebt, deren eherner Griffel mit
einem einzigen Striche erschlichene Dokumente zu vernichten und falsche Kronen
von den Häuptern zu werfen vermag.

Mit dem Buche von Chantelauze ist solch ein Akt historischer Justifikation
geschehen. Hatte bereits vor ihm Beauchesne in das Labyrinth von Mythen-
bildung und Fälschung, von bewußter und unbewußter Verkehrung der That¬
sachen ein blendendes und wahrhaft überraschendes Licht fallen lassen, so hat
Chantelauze selbst die letzten, noch dunkel und unerforscht gebliebenen Ecken und
Winkel, in welche sich die Fälscher zurückziehen konnten, durchstöbert und dem
Zutritte des Tageslichtes der Wahrheit frei gelegt. Die Legende von dem aus
dem Kerker entkommenen Ludwig XVII. ist fortan auf den Trödelboden ver¬
kommener Makulaturkrämer verwiesen.

Unerklärlich freilich bleibt trotzdem auch noch heute, wie es hat geschehen
können, daß die Welt, oder wenigstens ein nicht unbedeutender Bruchteil der¬
selben, über ein halbes Säculum von Betrügern und Betrogenen am Narrenseile
herumgeführt worden ist. Denn bis zum Jahre 1874, wo auf Grund des
endlich in den französischen Archiven wieder aufgefundenen Totenscheines Lud¬
wigs XVII. der Pariser Appellhof die Ansprüche der Naundorsfschen Erben
für alle Zeit als ungegründet zurückgewiesen hat, gab es sogar noch zahlreiche
Juristen, Richter und Anwälte, die an die Echtheit des Naundvrffscheu Flucht¬
romans glaubten, obgleich bereits im Jahre 1851 das Pariser Seinctribunal
diese Prätendenten wegen Mangels an genügenden Beweismitteln abschlägig
beschieden hatte. Man findet keine geeignete Antwort auf die oben gestellte
Frage, wenn man nicht eben die merkwürdige Neigung der menschlichen Natur
zum Glauben an das Wunderbare, den geheimen Trieb zum Mystischen in
betracht zieht. Außerdem freilich scheint auch die Lässigkeit mancher Behörden,
die in der Lage gewesen wären, bei genügenden Eifer in der Ermittlung der
Thatsachen zur Entlarvung des Betrügers -- denn ein solcher ist Naundorff
unzweifelhaft gewesen -- beizutragen, einen Teil der Schuld an dem langen
Bestände des Lügengewebes zu tragen.

Wer ein Freund seltsamer Abenteurerromantik ist und die Fähigkeit besitzt,
sich über Lücken und Widersprüche in der dichterischen Komposition hinwegzu-


Das Lndo einer weltgeschichtlichen Legende.

des Blutes und die Unantastbarkeit des Stammbaumes hält, allen Ernstes von
jenem grob ersonnenen Lügenmärchen als von einer historischen Glaubwürdigkeit
gesprochen. Seltsamerweise ist dem frommen Blatt jedoch zu Lebzeiten des
Noi eine derartige ketzerische Skepsis an der Unanfechtbarkeit der königlichen
Rechtstitel des letzteren nie in den Sinn gekommen. Erst seit dem Wieder¬
aufleben des alten untilgbaren Haders zwischen den Anhängern der weißen und
denjenigen der dreifarbigen Fahne hat es für gut erachtet, diesen zweifelhaften
Trumpf gegen die verhaßten „Abkömmlinge der Revolution" auszuspielen, ohne
zu bedenken, wie sehr er zum Schaden der eignen Partei wirken kann, ohne
vielleicht auch zu wissen, daß es eine Geschichte giebt, deren eherner Griffel mit
einem einzigen Striche erschlichene Dokumente zu vernichten und falsche Kronen
von den Häuptern zu werfen vermag.

Mit dem Buche von Chantelauze ist solch ein Akt historischer Justifikation
geschehen. Hatte bereits vor ihm Beauchesne in das Labyrinth von Mythen-
bildung und Fälschung, von bewußter und unbewußter Verkehrung der That¬
sachen ein blendendes und wahrhaft überraschendes Licht fallen lassen, so hat
Chantelauze selbst die letzten, noch dunkel und unerforscht gebliebenen Ecken und
Winkel, in welche sich die Fälscher zurückziehen konnten, durchstöbert und dem
Zutritte des Tageslichtes der Wahrheit frei gelegt. Die Legende von dem aus
dem Kerker entkommenen Ludwig XVII. ist fortan auf den Trödelboden ver¬
kommener Makulaturkrämer verwiesen.

Unerklärlich freilich bleibt trotzdem auch noch heute, wie es hat geschehen
können, daß die Welt, oder wenigstens ein nicht unbedeutender Bruchteil der¬
selben, über ein halbes Säculum von Betrügern und Betrogenen am Narrenseile
herumgeführt worden ist. Denn bis zum Jahre 1874, wo auf Grund des
endlich in den französischen Archiven wieder aufgefundenen Totenscheines Lud¬
wigs XVII. der Pariser Appellhof die Ansprüche der Naundorsfschen Erben
für alle Zeit als ungegründet zurückgewiesen hat, gab es sogar noch zahlreiche
Juristen, Richter und Anwälte, die an die Echtheit des Naundvrffscheu Flucht¬
romans glaubten, obgleich bereits im Jahre 1851 das Pariser Seinctribunal
diese Prätendenten wegen Mangels an genügenden Beweismitteln abschlägig
beschieden hatte. Man findet keine geeignete Antwort auf die oben gestellte
Frage, wenn man nicht eben die merkwürdige Neigung der menschlichen Natur
zum Glauben an das Wunderbare, den geheimen Trieb zum Mystischen in
betracht zieht. Außerdem freilich scheint auch die Lässigkeit mancher Behörden,
die in der Lage gewesen wären, bei genügenden Eifer in der Ermittlung der
Thatsachen zur Entlarvung des Betrügers — denn ein solcher ist Naundorff
unzweifelhaft gewesen — beizutragen, einen Teil der Schuld an dem langen
Bestände des Lügengewebes zu tragen.

Wer ein Freund seltsamer Abenteurerromantik ist und die Fähigkeit besitzt,
sich über Lücken und Widersprüche in der dichterischen Komposition hinwegzu-


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[0528] Das Lndo einer weltgeschichtlichen Legende. des Blutes und die Unantastbarkeit des Stammbaumes hält, allen Ernstes von jenem grob ersonnenen Lügenmärchen als von einer historischen Glaubwürdigkeit gesprochen. Seltsamerweise ist dem frommen Blatt jedoch zu Lebzeiten des Noi eine derartige ketzerische Skepsis an der Unanfechtbarkeit der königlichen Rechtstitel des letzteren nie in den Sinn gekommen. Erst seit dem Wieder¬ aufleben des alten untilgbaren Haders zwischen den Anhängern der weißen und denjenigen der dreifarbigen Fahne hat es für gut erachtet, diesen zweifelhaften Trumpf gegen die verhaßten „Abkömmlinge der Revolution" auszuspielen, ohne zu bedenken, wie sehr er zum Schaden der eignen Partei wirken kann, ohne vielleicht auch zu wissen, daß es eine Geschichte giebt, deren eherner Griffel mit einem einzigen Striche erschlichene Dokumente zu vernichten und falsche Kronen von den Häuptern zu werfen vermag. Mit dem Buche von Chantelauze ist solch ein Akt historischer Justifikation geschehen. Hatte bereits vor ihm Beauchesne in das Labyrinth von Mythen- bildung und Fälschung, von bewußter und unbewußter Verkehrung der That¬ sachen ein blendendes und wahrhaft überraschendes Licht fallen lassen, so hat Chantelauze selbst die letzten, noch dunkel und unerforscht gebliebenen Ecken und Winkel, in welche sich die Fälscher zurückziehen konnten, durchstöbert und dem Zutritte des Tageslichtes der Wahrheit frei gelegt. Die Legende von dem aus dem Kerker entkommenen Ludwig XVII. ist fortan auf den Trödelboden ver¬ kommener Makulaturkrämer verwiesen. Unerklärlich freilich bleibt trotzdem auch noch heute, wie es hat geschehen können, daß die Welt, oder wenigstens ein nicht unbedeutender Bruchteil der¬ selben, über ein halbes Säculum von Betrügern und Betrogenen am Narrenseile herumgeführt worden ist. Denn bis zum Jahre 1874, wo auf Grund des endlich in den französischen Archiven wieder aufgefundenen Totenscheines Lud¬ wigs XVII. der Pariser Appellhof die Ansprüche der Naundorsfschen Erben für alle Zeit als ungegründet zurückgewiesen hat, gab es sogar noch zahlreiche Juristen, Richter und Anwälte, die an die Echtheit des Naundvrffscheu Flucht¬ romans glaubten, obgleich bereits im Jahre 1851 das Pariser Seinctribunal diese Prätendenten wegen Mangels an genügenden Beweismitteln abschlägig beschieden hatte. Man findet keine geeignete Antwort auf die oben gestellte Frage, wenn man nicht eben die merkwürdige Neigung der menschlichen Natur zum Glauben an das Wunderbare, den geheimen Trieb zum Mystischen in betracht zieht. Außerdem freilich scheint auch die Lässigkeit mancher Behörden, die in der Lage gewesen wären, bei genügenden Eifer in der Ermittlung der Thatsachen zur Entlarvung des Betrügers — denn ein solcher ist Naundorff unzweifelhaft gewesen — beizutragen, einen Teil der Schuld an dem langen Bestände des Lügengewebes zu tragen. Wer ein Freund seltsamer Abenteurerromantik ist und die Fähigkeit besitzt, sich über Lücken und Widersprüche in der dichterischen Komposition hinwegzu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/528>, abgerufen am 27.09.2024.