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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

leben aufgehört. Es war Nachmittag um 2^ Uhr. Als Gvmin vom Konvent
kurz darauf zurückkehrte, fand er nur noch eine Leiche.

Lahne hat später anläßlich der Prvzeßverhandlungen, welche durch die be¬
trügerischen Ansprüche falscher Prätendenten herbeigeführt wurden, zu wieder¬
holten malen vor deu Pariser Tribunalen die Glaubhaftigkeit dieser auch durch
den -- freilich erst neuerdings aufgefundenen -- Bericht Damonts bestätigten Dar¬
stellung feierlich bekräftigt: das eine mal im Jahre 1834, als der sogenannte
Baron Nichemvnd als Thronanwärter auftrat, später, am 6. Juni 1851, gegen¬
über den Behauptungen der Familie Naundorff. Jeder Zweifel an der Wahr¬
heit seiner Angaben wird durch die bestätigenden Mitteilungen Damonts aus¬
geschlossen. Wie die Schwester des Verstorbenen, die später ihre Memoiren
herausgab und sich dabei vielfach auf die Mitteilungen des ihr tren ergebenen
Gomin stützte, anführt, brachen beide Wächter in Thränen ans, denn sie hatten nicht
nur tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Königssohne empfunden, sondern ihn auch
wegen seines sanften und kindlich unbefangenen Wesens aufrichtig liebgewonnen.

Nachdem sie den ersten Ansturm ihrer schmerzlichen Gefühle überwunden
hatten, machte sich Lahne an die Arbeit, um dem Konvent schleunigst einen
möglichst ausführlichen Bericht über die wichtigen Vorkommnisse der letzten
Stunden abzustatten. Dämone schickte Gomin inzwischen nochmals nach der
Nationalversammlung, um für sich und die beiden Wächter neue Verhaltungs¬
maßregeln zu erbitten. Da indessen die Sitzung gerade geschlossen werden sollte,
so empfahl der Präsident dem genannten Beamten, das strengste Geheimnis zu
bewahren und nach eignem Ermessen zu verfahren, denn er hielt es für zweck¬
mäßig, den Tod des Prinzen erst in der nächstfolgenden Sitzung zu verkünden.
Am folgenden Tage, am 9. Juni, erschienen vier Abgesandte des Konvents, um
sich von der Richtigkeit der Meldung zu überzeugen, und ordneten, nachdem dies
geschehen war, ein einfaches Leichenbegängnis an, wobei sie bemerkten, daß der
Sache durchaus keine Bedeutung beizumessen sei. Auf die Einwendung der
Wachthabenden, daß militärische Wache, die stets im Temple lag und die Auf¬
gabe hatte, den Zugang wie den Ausgang aller in dem Gefängnis verkehrenden
Personen aufs genaueste zu kontroliren, den Transport des Sarges wahrscheinlich
nicht hindurchlassen werde, kam man überein, sowohl die Offiziere der alten wie
diejenigen der sie ablösenden Abteilung hinauszurufen und sie die Leiche inspi-
ziren zu lassen. Dies geschah, und etwa zwanzig Offiziere erklärten in Gegen¬
wart der beiden Zivilwächter, wie auch des Zivilkommissars Dämone auf die
ausdrückliche Frage, ob sie "in dem Toten deu Sohn Ludwigs Capets wieder¬
erkannten," der Mehrzahl nach, daß sie in der That den Prinzen, den sie häufig
im Tuilcriengarten und anderwärts gesehen zu haben versicherten, erkannt
hätten. Nicht nur von Dämone, sondern auch von andrer Seite wird dies
auf Grund der Gewähr seiner mündlich gemachten Mitteilungen konstatirt.
Überdies waren auch Lahne und Gomin Zeugen jenes Vorganges.


Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

leben aufgehört. Es war Nachmittag um 2^ Uhr. Als Gvmin vom Konvent
kurz darauf zurückkehrte, fand er nur noch eine Leiche.

Lahne hat später anläßlich der Prvzeßverhandlungen, welche durch die be¬
trügerischen Ansprüche falscher Prätendenten herbeigeführt wurden, zu wieder¬
holten malen vor deu Pariser Tribunalen die Glaubhaftigkeit dieser auch durch
den — freilich erst neuerdings aufgefundenen — Bericht Damonts bestätigten Dar¬
stellung feierlich bekräftigt: das eine mal im Jahre 1834, als der sogenannte
Baron Nichemvnd als Thronanwärter auftrat, später, am 6. Juni 1851, gegen¬
über den Behauptungen der Familie Naundorff. Jeder Zweifel an der Wahr¬
heit seiner Angaben wird durch die bestätigenden Mitteilungen Damonts aus¬
geschlossen. Wie die Schwester des Verstorbenen, die später ihre Memoiren
herausgab und sich dabei vielfach auf die Mitteilungen des ihr tren ergebenen
Gomin stützte, anführt, brachen beide Wächter in Thränen ans, denn sie hatten nicht
nur tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Königssohne empfunden, sondern ihn auch
wegen seines sanften und kindlich unbefangenen Wesens aufrichtig liebgewonnen.

Nachdem sie den ersten Ansturm ihrer schmerzlichen Gefühle überwunden
hatten, machte sich Lahne an die Arbeit, um dem Konvent schleunigst einen
möglichst ausführlichen Bericht über die wichtigen Vorkommnisse der letzten
Stunden abzustatten. Dämone schickte Gomin inzwischen nochmals nach der
Nationalversammlung, um für sich und die beiden Wächter neue Verhaltungs¬
maßregeln zu erbitten. Da indessen die Sitzung gerade geschlossen werden sollte,
so empfahl der Präsident dem genannten Beamten, das strengste Geheimnis zu
bewahren und nach eignem Ermessen zu verfahren, denn er hielt es für zweck¬
mäßig, den Tod des Prinzen erst in der nächstfolgenden Sitzung zu verkünden.
Am folgenden Tage, am 9. Juni, erschienen vier Abgesandte des Konvents, um
sich von der Richtigkeit der Meldung zu überzeugen, und ordneten, nachdem dies
geschehen war, ein einfaches Leichenbegängnis an, wobei sie bemerkten, daß der
Sache durchaus keine Bedeutung beizumessen sei. Auf die Einwendung der
Wachthabenden, daß militärische Wache, die stets im Temple lag und die Auf¬
gabe hatte, den Zugang wie den Ausgang aller in dem Gefängnis verkehrenden
Personen aufs genaueste zu kontroliren, den Transport des Sarges wahrscheinlich
nicht hindurchlassen werde, kam man überein, sowohl die Offiziere der alten wie
diejenigen der sie ablösenden Abteilung hinauszurufen und sie die Leiche inspi-
ziren zu lassen. Dies geschah, und etwa zwanzig Offiziere erklärten in Gegen¬
wart der beiden Zivilwächter, wie auch des Zivilkommissars Dämone auf die
ausdrückliche Frage, ob sie „in dem Toten deu Sohn Ludwigs Capets wieder¬
erkannten," der Mehrzahl nach, daß sie in der That den Prinzen, den sie häufig
im Tuilcriengarten und anderwärts gesehen zu haben versicherten, erkannt
hätten. Nicht nur von Dämone, sondern auch von andrer Seite wird dies
auf Grund der Gewähr seiner mündlich gemachten Mitteilungen konstatirt.
Überdies waren auch Lahne und Gomin Zeugen jenes Vorganges.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/524>, abgerufen am 27.09.2024.