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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Eine Wanderung durch Schwaben.

dreizehnten und im Beginne des vierzehnten Jahrhunderts im untern Neckar-
thcil und am Bodensee. Am Ende des vierzehnten Jahrhunderts übernahmen
die drei Reichsstädte Augsburg, Eßlingen und Ulm auch in der Baukunst wie
im öffentlichen Leben die Führung und bildeten den spätgothischen Stil aus.
In Augsburg ist der Dom der Gegenstand einer fast das ganze Jahrhundert
hindurch andauernden Bauthätigkeit. In Eßlingen zeigt die Frauenkirche in der
Gliederung der Pfeiler, der Fenster und des Strebewerkes eine hohe Vollendung.
In Ulm wird 1377 der Grundstein zum Münster gelegt, das in der Reihe der
deutschen Dome unmittelbar neben Köln und Straßburg dasteht.

Neben diesen großartigen Bauwerken mußte die Plastik und Malerei natur¬
gemäß zurücktreten. Aus der romanischen Zeit sind von Skulpturwerken allein
die Reliefs der in den ersten Jahrzehnten des elften Jahrhunderts entstandenen
Domthüre in Augsburg zu nennen, während Wandmalereien sich nur im Chor
der Kirche zu Kleinkomburg und in der mittlern Kryptennische der Alpirsbachcr
Klosterkirche erhielten. Aus der gothischen Zeit sind zwar die Überreste zahl¬
reicher, doch nur selten von künstlerischem Wert. Erst nach der Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts erwachten Plastik und Malerei aus ihrem vielhundert¬
jährigen Schlafe, um sich binnen kurzem zur höchsten Blüte zu entfalten.

Die Lieblingstechnik der deutschen Skulptur dieses Zeitraumes war die
Holzschnitzerei. Wie in Italien die Erzarbeit, so bildet in Deutschland die
Holzskulptur den wichtigsten Zweig der Plastik. Ein wunderbar phantastischer
Eifer hatte die Menschen ergriffen. Die Hochaltare der Kirchen durchbrechen
alle Schranken, streben turmartig wie kleine Dome in die Höhe. Der Hauptteil
besteht aus einem tiefen Schrein, der mit großen Statuen oder mit vielen
kleinen Reliefszenen angefüllt ist, die sich malerisch von landschaftlichen Hinter¬
gründen abheben. Das Holz ist mit Leinwand und Kreidegrund überzogen und
erstrahlt in den brennendsten Farben. Wir glauben ein lebendes Bild vor uns
zu haben oder einem Mysterienspiele des Mittelalters beizuwohnen. Außer den
Hochaltären schmilzt man zierliche Sakramentshäuschen und prächtige Chorstühle.
Eine ganze Reihe von Künstlern war in dieser Technik thätig. In Schwaben
wird aber immer nur ein Meister genannt: Jörg Syrlin, dessen Name in
diesen Gegenden Gattungsbegriff geworden ist wie derjenige Bramantes oder
Luca della Robbias in Italien.

Der wichtigste Ort, den jeder aufsuchen muß, der sich ein Bild von den
Holzschnitzarbeiten jener Zeit machen will, ist das südwestlich von Ulm gelegene
Blaubeuren. Das Städtchen liegt inmitten eines tiefen Thalkessels. Großartig
und malerisch sind die Felsen mit den Ruinen des alten Rusenschlosfes, dessen
Trümmer noch heute hoch in die Lüfte emporragen. Am Fuße der felsigen
und steilen Alpwand, die kreisförmig im Norden den Thalkessel mit Blaubeuren
abschließt, liegt, überschattet von mächtigen Baumriesen, der Blaukopf mit seinem
tiefblauen Wasserspiegel. Hart an diesem See erheben sich die Mauern des


GrenzbotiM III. 1884. 3
Eine Wanderung durch Schwaben.

dreizehnten und im Beginne des vierzehnten Jahrhunderts im untern Neckar-
thcil und am Bodensee. Am Ende des vierzehnten Jahrhunderts übernahmen
die drei Reichsstädte Augsburg, Eßlingen und Ulm auch in der Baukunst wie
im öffentlichen Leben die Führung und bildeten den spätgothischen Stil aus.
In Augsburg ist der Dom der Gegenstand einer fast das ganze Jahrhundert
hindurch andauernden Bauthätigkeit. In Eßlingen zeigt die Frauenkirche in der
Gliederung der Pfeiler, der Fenster und des Strebewerkes eine hohe Vollendung.
In Ulm wird 1377 der Grundstein zum Münster gelegt, das in der Reihe der
deutschen Dome unmittelbar neben Köln und Straßburg dasteht.

Neben diesen großartigen Bauwerken mußte die Plastik und Malerei natur¬
gemäß zurücktreten. Aus der romanischen Zeit sind von Skulpturwerken allein
die Reliefs der in den ersten Jahrzehnten des elften Jahrhunderts entstandenen
Domthüre in Augsburg zu nennen, während Wandmalereien sich nur im Chor
der Kirche zu Kleinkomburg und in der mittlern Kryptennische der Alpirsbachcr
Klosterkirche erhielten. Aus der gothischen Zeit sind zwar die Überreste zahl¬
reicher, doch nur selten von künstlerischem Wert. Erst nach der Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts erwachten Plastik und Malerei aus ihrem vielhundert¬
jährigen Schlafe, um sich binnen kurzem zur höchsten Blüte zu entfalten.

Die Lieblingstechnik der deutschen Skulptur dieses Zeitraumes war die
Holzschnitzerei. Wie in Italien die Erzarbeit, so bildet in Deutschland die
Holzskulptur den wichtigsten Zweig der Plastik. Ein wunderbar phantastischer
Eifer hatte die Menschen ergriffen. Die Hochaltare der Kirchen durchbrechen
alle Schranken, streben turmartig wie kleine Dome in die Höhe. Der Hauptteil
besteht aus einem tiefen Schrein, der mit großen Statuen oder mit vielen
kleinen Reliefszenen angefüllt ist, die sich malerisch von landschaftlichen Hinter¬
gründen abheben. Das Holz ist mit Leinwand und Kreidegrund überzogen und
erstrahlt in den brennendsten Farben. Wir glauben ein lebendes Bild vor uns
zu haben oder einem Mysterienspiele des Mittelalters beizuwohnen. Außer den
Hochaltären schmilzt man zierliche Sakramentshäuschen und prächtige Chorstühle.
Eine ganze Reihe von Künstlern war in dieser Technik thätig. In Schwaben
wird aber immer nur ein Meister genannt: Jörg Syrlin, dessen Name in
diesen Gegenden Gattungsbegriff geworden ist wie derjenige Bramantes oder
Luca della Robbias in Italien.

Der wichtigste Ort, den jeder aufsuchen muß, der sich ein Bild von den
Holzschnitzarbeiten jener Zeit machen will, ist das südwestlich von Ulm gelegene
Blaubeuren. Das Städtchen liegt inmitten eines tiefen Thalkessels. Großartig
und malerisch sind die Felsen mit den Ruinen des alten Rusenschlosfes, dessen
Trümmer noch heute hoch in die Lüfte emporragen. Am Fuße der felsigen
und steilen Alpwand, die kreisförmig im Norden den Thalkessel mit Blaubeuren
abschließt, liegt, überschattet von mächtigen Baumriesen, der Blaukopf mit seinem
tiefblauen Wasserspiegel. Hart an diesem See erheben sich die Mauern des


GrenzbotiM III. 1884. 3
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[0025] Eine Wanderung durch Schwaben. dreizehnten und im Beginne des vierzehnten Jahrhunderts im untern Neckar- thcil und am Bodensee. Am Ende des vierzehnten Jahrhunderts übernahmen die drei Reichsstädte Augsburg, Eßlingen und Ulm auch in der Baukunst wie im öffentlichen Leben die Führung und bildeten den spätgothischen Stil aus. In Augsburg ist der Dom der Gegenstand einer fast das ganze Jahrhundert hindurch andauernden Bauthätigkeit. In Eßlingen zeigt die Frauenkirche in der Gliederung der Pfeiler, der Fenster und des Strebewerkes eine hohe Vollendung. In Ulm wird 1377 der Grundstein zum Münster gelegt, das in der Reihe der deutschen Dome unmittelbar neben Köln und Straßburg dasteht. Neben diesen großartigen Bauwerken mußte die Plastik und Malerei natur¬ gemäß zurücktreten. Aus der romanischen Zeit sind von Skulpturwerken allein die Reliefs der in den ersten Jahrzehnten des elften Jahrhunderts entstandenen Domthüre in Augsburg zu nennen, während Wandmalereien sich nur im Chor der Kirche zu Kleinkomburg und in der mittlern Kryptennische der Alpirsbachcr Klosterkirche erhielten. Aus der gothischen Zeit sind zwar die Überreste zahl¬ reicher, doch nur selten von künstlerischem Wert. Erst nach der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts erwachten Plastik und Malerei aus ihrem vielhundert¬ jährigen Schlafe, um sich binnen kurzem zur höchsten Blüte zu entfalten. Die Lieblingstechnik der deutschen Skulptur dieses Zeitraumes war die Holzschnitzerei. Wie in Italien die Erzarbeit, so bildet in Deutschland die Holzskulptur den wichtigsten Zweig der Plastik. Ein wunderbar phantastischer Eifer hatte die Menschen ergriffen. Die Hochaltare der Kirchen durchbrechen alle Schranken, streben turmartig wie kleine Dome in die Höhe. Der Hauptteil besteht aus einem tiefen Schrein, der mit großen Statuen oder mit vielen kleinen Reliefszenen angefüllt ist, die sich malerisch von landschaftlichen Hinter¬ gründen abheben. Das Holz ist mit Leinwand und Kreidegrund überzogen und erstrahlt in den brennendsten Farben. Wir glauben ein lebendes Bild vor uns zu haben oder einem Mysterienspiele des Mittelalters beizuwohnen. Außer den Hochaltären schmilzt man zierliche Sakramentshäuschen und prächtige Chorstühle. Eine ganze Reihe von Künstlern war in dieser Technik thätig. In Schwaben wird aber immer nur ein Meister genannt: Jörg Syrlin, dessen Name in diesen Gegenden Gattungsbegriff geworden ist wie derjenige Bramantes oder Luca della Robbias in Italien. Der wichtigste Ort, den jeder aufsuchen muß, der sich ein Bild von den Holzschnitzarbeiten jener Zeit machen will, ist das südwestlich von Ulm gelegene Blaubeuren. Das Städtchen liegt inmitten eines tiefen Thalkessels. Großartig und malerisch sind die Felsen mit den Ruinen des alten Rusenschlosfes, dessen Trümmer noch heute hoch in die Lüfte emporragen. Am Fuße der felsigen und steilen Alpwand, die kreisförmig im Norden den Thalkessel mit Blaubeuren abschließt, liegt, überschattet von mächtigen Baumriesen, der Blaukopf mit seinem tiefblauen Wasserspiegel. Hart an diesem See erheben sich die Mauern des GrenzbotiM III. 1884. 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/25>, abgerufen am 27.09.2024.