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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

daß diesen beiden Cyklen eine willige Phantasie schon entgegenkommt. Der einen
wie der andern liegt ein Schumannsches Thema zu gründe. Dieser Meister kommt
in beiden Werken wiederholt deutlich zu Worte -- in ox. 9 besonders getreu
in der siebenten Variation --, was ist natürlicher, als daß man die Variationen zu
einem Gedenkbilde zusammenfaßt? Der Cyklus ox. 23 gilt dem toten Meister:
die letzte Variation in diesem Werke beginnt mit einem Trauermarsch. Das
Thema selbst hat seine rührende, traurige Geschichte. In diesem Werke gehören
die Variationen fast durchweg der Gattung der sogenannten freien Variationen
an; im c>x. 9 wechseln solche mit strengen. Die freiere Art herrscht auch in
den Variationen über ein eignes Thema im ox. 21. Dieses Werk birgt viel
subtile Kleinarbeit, das Thema wird auf die minimalsten Bestandteile hin unter-
sucht -- gegen den Schluß hin entstehen aus winzigen Modellen große, kraft¬
volle Gestalten -- die Verbindung der einzelnen Nummern hat poetischen Cha¬
rakter. Über dem studirenden Meister der Form wacht der Dichter -- das
Ende ist wieder von der zarten, gewinnenden Feinheit, mit welcher Brahms
gern schließt. Das zweite Heft desselben Cyklus bringt Variationen über ein
ungarisches Thema. Das magyarische Element, dem wir bereits in einer Va¬
riation in ox. 9 zu begegnen glauben, wird hier offen proklamirt. Als das Meister¬
werk der Variationskunst dürfen die 25 Variationen mit Fuge über das Thema
aus Handels I^vns bezeichnet werden, welche Brahms als ox. 24 veröffentlicht
hat. Händel selbst, der seine Jnstrumentalgedanken nie ausnutzte, hat über das
kernig heitere Thema nur fünf bescheidne Variationen geschrieben. Sein Geist
lebt aber ersichtlich in dem Werke des jungen Meisters: Kraft, Feuer, Glanz,
Frische und Schwung beherrschen die Erfindung, und auch da, wo sie sich dem Zarten,
und da, wo sie sich schwierigen und feinen Kunstaufgaben zuwendet, bleibt der
Ausdruck immer drastisch. Dieser Cyklus besitzt demzufolge einen ausgesprochenen
Konzertcharakter, seine Wirkung nach außen ist sicher und bedeutend. Ohne auf
äußere und sinnliche Effekte zu spekuliren, hat der Komponist hier dem Klavier
Klänge entlockt, die man bis dahin noch nicht gehört hatte. Es sei nur auf
die vierte Variation und ans die zweiundzwanzigste verwiesen. Wie ins Unga¬
rische übertragen, erscheint der Händelsche Gedanke in der dreizehnten, mit Schu-
bertschen Schlüssen versehen in der neunzehnten Nummer. Eine imposante Fuge
schließt den Cyklus -- im Charakter des Grundgedankens -- diesmal rauschend
ab. In seinem letzten Variationenwerke, den zwei Heften von ox. 35, hat
Brahms ein simples Thema von Paganini benutzt, das selbst schon eine Va¬
riation über ein kurzes einaktiges Motiv ist. Daraus sind dreißig Variationen
gebildet. Zunächst gehen dieselben allerdings den Pianisten von Fach an; denn
die erste Absicht des Komponisten war offenbar, technische Probleme aufzusuchen
und die schwierigsten und ungewöhnlichsten Spielarten methodisch zu entwickeln
und zu bewältigen. Es wimmelt hier von manuellen Kühnheiten ersten Ranges.
Wer bei diesen Doppelgriffen, diesen Spannungen, diesen überschlagenden Par-


Johannes Brahms.

daß diesen beiden Cyklen eine willige Phantasie schon entgegenkommt. Der einen
wie der andern liegt ein Schumannsches Thema zu gründe. Dieser Meister kommt
in beiden Werken wiederholt deutlich zu Worte — in ox. 9 besonders getreu
in der siebenten Variation —, was ist natürlicher, als daß man die Variationen zu
einem Gedenkbilde zusammenfaßt? Der Cyklus ox. 23 gilt dem toten Meister:
die letzte Variation in diesem Werke beginnt mit einem Trauermarsch. Das
Thema selbst hat seine rührende, traurige Geschichte. In diesem Werke gehören
die Variationen fast durchweg der Gattung der sogenannten freien Variationen
an; im c>x. 9 wechseln solche mit strengen. Die freiere Art herrscht auch in
den Variationen über ein eignes Thema im ox. 21. Dieses Werk birgt viel
subtile Kleinarbeit, das Thema wird auf die minimalsten Bestandteile hin unter-
sucht — gegen den Schluß hin entstehen aus winzigen Modellen große, kraft¬
volle Gestalten — die Verbindung der einzelnen Nummern hat poetischen Cha¬
rakter. Über dem studirenden Meister der Form wacht der Dichter — das
Ende ist wieder von der zarten, gewinnenden Feinheit, mit welcher Brahms
gern schließt. Das zweite Heft desselben Cyklus bringt Variationen über ein
ungarisches Thema. Das magyarische Element, dem wir bereits in einer Va¬
riation in ox. 9 zu begegnen glauben, wird hier offen proklamirt. Als das Meister¬
werk der Variationskunst dürfen die 25 Variationen mit Fuge über das Thema
aus Handels I^vns bezeichnet werden, welche Brahms als ox. 24 veröffentlicht
hat. Händel selbst, der seine Jnstrumentalgedanken nie ausnutzte, hat über das
kernig heitere Thema nur fünf bescheidne Variationen geschrieben. Sein Geist
lebt aber ersichtlich in dem Werke des jungen Meisters: Kraft, Feuer, Glanz,
Frische und Schwung beherrschen die Erfindung, und auch da, wo sie sich dem Zarten,
und da, wo sie sich schwierigen und feinen Kunstaufgaben zuwendet, bleibt der
Ausdruck immer drastisch. Dieser Cyklus besitzt demzufolge einen ausgesprochenen
Konzertcharakter, seine Wirkung nach außen ist sicher und bedeutend. Ohne auf
äußere und sinnliche Effekte zu spekuliren, hat der Komponist hier dem Klavier
Klänge entlockt, die man bis dahin noch nicht gehört hatte. Es sei nur auf
die vierte Variation und ans die zweiundzwanzigste verwiesen. Wie ins Unga¬
rische übertragen, erscheint der Händelsche Gedanke in der dreizehnten, mit Schu-
bertschen Schlüssen versehen in der neunzehnten Nummer. Eine imposante Fuge
schließt den Cyklus — im Charakter des Grundgedankens — diesmal rauschend
ab. In seinem letzten Variationenwerke, den zwei Heften von ox. 35, hat
Brahms ein simples Thema von Paganini benutzt, das selbst schon eine Va¬
riation über ein kurzes einaktiges Motiv ist. Daraus sind dreißig Variationen
gebildet. Zunächst gehen dieselben allerdings den Pianisten von Fach an; denn
die erste Absicht des Komponisten war offenbar, technische Probleme aufzusuchen
und die schwierigsten und ungewöhnlichsten Spielarten methodisch zu entwickeln
und zu bewältigen. Es wimmelt hier von manuellen Kühnheiten ersten Ranges.
Wer bei diesen Doppelgriffen, diesen Spannungen, diesen überschlagenden Par-


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[0179] Johannes Brahms. daß diesen beiden Cyklen eine willige Phantasie schon entgegenkommt. Der einen wie der andern liegt ein Schumannsches Thema zu gründe. Dieser Meister kommt in beiden Werken wiederholt deutlich zu Worte — in ox. 9 besonders getreu in der siebenten Variation —, was ist natürlicher, als daß man die Variationen zu einem Gedenkbilde zusammenfaßt? Der Cyklus ox. 23 gilt dem toten Meister: die letzte Variation in diesem Werke beginnt mit einem Trauermarsch. Das Thema selbst hat seine rührende, traurige Geschichte. In diesem Werke gehören die Variationen fast durchweg der Gattung der sogenannten freien Variationen an; im c>x. 9 wechseln solche mit strengen. Die freiere Art herrscht auch in den Variationen über ein eignes Thema im ox. 21. Dieses Werk birgt viel subtile Kleinarbeit, das Thema wird auf die minimalsten Bestandteile hin unter- sucht — gegen den Schluß hin entstehen aus winzigen Modellen große, kraft¬ volle Gestalten — die Verbindung der einzelnen Nummern hat poetischen Cha¬ rakter. Über dem studirenden Meister der Form wacht der Dichter — das Ende ist wieder von der zarten, gewinnenden Feinheit, mit welcher Brahms gern schließt. Das zweite Heft desselben Cyklus bringt Variationen über ein ungarisches Thema. Das magyarische Element, dem wir bereits in einer Va¬ riation in ox. 9 zu begegnen glauben, wird hier offen proklamirt. Als das Meister¬ werk der Variationskunst dürfen die 25 Variationen mit Fuge über das Thema aus Handels I^vns bezeichnet werden, welche Brahms als ox. 24 veröffentlicht hat. Händel selbst, der seine Jnstrumentalgedanken nie ausnutzte, hat über das kernig heitere Thema nur fünf bescheidne Variationen geschrieben. Sein Geist lebt aber ersichtlich in dem Werke des jungen Meisters: Kraft, Feuer, Glanz, Frische und Schwung beherrschen die Erfindung, und auch da, wo sie sich dem Zarten, und da, wo sie sich schwierigen und feinen Kunstaufgaben zuwendet, bleibt der Ausdruck immer drastisch. Dieser Cyklus besitzt demzufolge einen ausgesprochenen Konzertcharakter, seine Wirkung nach außen ist sicher und bedeutend. Ohne auf äußere und sinnliche Effekte zu spekuliren, hat der Komponist hier dem Klavier Klänge entlockt, die man bis dahin noch nicht gehört hatte. Es sei nur auf die vierte Variation und ans die zweiundzwanzigste verwiesen. Wie ins Unga¬ rische übertragen, erscheint der Händelsche Gedanke in der dreizehnten, mit Schu- bertschen Schlüssen versehen in der neunzehnten Nummer. Eine imposante Fuge schließt den Cyklus — im Charakter des Grundgedankens — diesmal rauschend ab. In seinem letzten Variationenwerke, den zwei Heften von ox. 35, hat Brahms ein simples Thema von Paganini benutzt, das selbst schon eine Va¬ riation über ein kurzes einaktiges Motiv ist. Daraus sind dreißig Variationen gebildet. Zunächst gehen dieselben allerdings den Pianisten von Fach an; denn die erste Absicht des Komponisten war offenbar, technische Probleme aufzusuchen und die schwierigsten und ungewöhnlichsten Spielarten methodisch zu entwickeln und zu bewältigen. Es wimmelt hier von manuellen Kühnheiten ersten Ranges. Wer bei diesen Doppelgriffen, diesen Spannungen, diesen überschlagenden Par-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/179>, abgerufen am 27.09.2024.