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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

erinnert an den der lateinischen Dichter, und das elegische Versmaß kam dieseni
Charakter begünstigend entgegen. Daß Wilhelm von Humboldt das Gedicht
mit Begeisterung aufnahm und in ihm "ein unbegreiflich schön organisirtes
Ganzes" fand, lag an Humboldts nahe verwandter Anlage, die als Adel der
Gesinnung und Idealität, aber auch als Eleganz und Kälte bezeichnet werden
kann. Auch das "Eleusische Fest" (oder das "Bürgerlied," 1798) behandelt
einen Abschnitt der Kulturgeschichte, und zwar die Stiftung des Ackerbaues und
die auf diesem Grunde sich ordnende bürgerliche Gesellschaft als Werk und Unter¬
richt der olympischen Götter. Diese Götter lebten einst als wirkliche Wesen im
Glauben der Menschen, und die natürlichen Vorgänge und sittlichen Mächte,
die in ihnen verkörpert waren, kamen für sich und abgetrennt nicht zum Bewußt¬
sein. Dem Dichter aber sind seine Gedanken das erste, und die göttlichen Per¬
sonen, die er herabruft und Hand anlegen läßt, nur ein poetisches Gewand,
ein rednerischer Ausdruck, ein Hauch Wärme in der strengen Luft der Abstrak¬
tion. Dem griechischen Mythus wohnt eine unversiegliche Jugend inne, und so
ist uns diese Art Umschreibung immerhin willkommener als jede andre. Die
Verse fließen leicht und in natürlicher Schönheit dahin, die Sprache ist weniger
als sonst von der Last der Mctaphorik gedrückt, und will man einmal die selt¬
same Kategorie der konstrnirenden Lyrik gelten lassen, so mag unter den Ge¬
dichten dieser Gattung das "Eleusische Fest" leicht das beste sein. Populärer
als die beiden genannten Gedichte ist das "Lied von der Glocke," das sogar
von der zeichnenden Kunst nachgebildet und umrankt und von der Musik in
Töne umgesetzt worden ist. Wie der Kanzelredner ein Bibelwort durch Ver-
gleichung und sinnbildliche Deutung über seinen Kreis erweitert und es dadurch
zu sittlicher Lehre und religiöser Erbauung fruchtbar macht, so verwendet der
Dichter hier die Technik des Glockengusses und die einzelnen Verrichtungen und
Abschnitte desselben, nach derselben symmetrischen Formel, im ernsten Spiel der
Allegorik, zu Bildern des Menschenlebens überhaupt und sinnenden Betrach¬
tungen allgemeiner Art. Die Übergänge sind mehr oder minder glücklich, die
Schilderungen nicht alle von gleichem Wert. In einigen, wie der des Jüng¬
lings und der Jungfrau und der erwachenden ersten Liebe oder der Anrufung
der Ordnung und des Friedens kehrt das abstrakt Jdealische und Rednerische
wieder, das Schiller nie ganz ablegen konnte; in andern, wie denen, wo des
Waltens der Mutter im Hause oder der Ruhe des Abends gedacht wird, er¬
freut uns eine schöne, maßvolle Annäherung an die Wirklichkeit; in noch andern,
wie der der Feuersbrunst, scheint das Streben nach greifbarer Wiedergabe der
Dinge fast über die Grenze des Poetischen, wo der gemeine Boden beginnt,
hinauszugehen; in allen verrät der Überfluß in der Ausführung die Hand des
beschreibenden Darstellers, dem es schwer wird, in Worten und Zeichen sich
genug zu thun. Die Strophen aber, die dem Werke des Gusses selbst gewidmet
sind, beweisen wieder, wie Schiller, wenn er durchaus keinen Raum fand, seinem


Gedanken über Goethe.

erinnert an den der lateinischen Dichter, und das elegische Versmaß kam dieseni
Charakter begünstigend entgegen. Daß Wilhelm von Humboldt das Gedicht
mit Begeisterung aufnahm und in ihm „ein unbegreiflich schön organisirtes
Ganzes" fand, lag an Humboldts nahe verwandter Anlage, die als Adel der
Gesinnung und Idealität, aber auch als Eleganz und Kälte bezeichnet werden
kann. Auch das „Eleusische Fest" (oder das „Bürgerlied," 1798) behandelt
einen Abschnitt der Kulturgeschichte, und zwar die Stiftung des Ackerbaues und
die auf diesem Grunde sich ordnende bürgerliche Gesellschaft als Werk und Unter¬
richt der olympischen Götter. Diese Götter lebten einst als wirkliche Wesen im
Glauben der Menschen, und die natürlichen Vorgänge und sittlichen Mächte,
die in ihnen verkörpert waren, kamen für sich und abgetrennt nicht zum Bewußt¬
sein. Dem Dichter aber sind seine Gedanken das erste, und die göttlichen Per¬
sonen, die er herabruft und Hand anlegen läßt, nur ein poetisches Gewand,
ein rednerischer Ausdruck, ein Hauch Wärme in der strengen Luft der Abstrak¬
tion. Dem griechischen Mythus wohnt eine unversiegliche Jugend inne, und so
ist uns diese Art Umschreibung immerhin willkommener als jede andre. Die
Verse fließen leicht und in natürlicher Schönheit dahin, die Sprache ist weniger
als sonst von der Last der Mctaphorik gedrückt, und will man einmal die selt¬
same Kategorie der konstrnirenden Lyrik gelten lassen, so mag unter den Ge¬
dichten dieser Gattung das „Eleusische Fest" leicht das beste sein. Populärer
als die beiden genannten Gedichte ist das „Lied von der Glocke," das sogar
von der zeichnenden Kunst nachgebildet und umrankt und von der Musik in
Töne umgesetzt worden ist. Wie der Kanzelredner ein Bibelwort durch Ver-
gleichung und sinnbildliche Deutung über seinen Kreis erweitert und es dadurch
zu sittlicher Lehre und religiöser Erbauung fruchtbar macht, so verwendet der
Dichter hier die Technik des Glockengusses und die einzelnen Verrichtungen und
Abschnitte desselben, nach derselben symmetrischen Formel, im ernsten Spiel der
Allegorik, zu Bildern des Menschenlebens überhaupt und sinnenden Betrach¬
tungen allgemeiner Art. Die Übergänge sind mehr oder minder glücklich, die
Schilderungen nicht alle von gleichem Wert. In einigen, wie der des Jüng¬
lings und der Jungfrau und der erwachenden ersten Liebe oder der Anrufung
der Ordnung und des Friedens kehrt das abstrakt Jdealische und Rednerische
wieder, das Schiller nie ganz ablegen konnte; in andern, wie denen, wo des
Waltens der Mutter im Hause oder der Ruhe des Abends gedacht wird, er¬
freut uns eine schöne, maßvolle Annäherung an die Wirklichkeit; in noch andern,
wie der der Feuersbrunst, scheint das Streben nach greifbarer Wiedergabe der
Dinge fast über die Grenze des Poetischen, wo der gemeine Boden beginnt,
hinauszugehen; in allen verrät der Überfluß in der Ausführung die Hand des
beschreibenden Darstellers, dem es schwer wird, in Worten und Zeichen sich
genug zu thun. Die Strophen aber, die dem Werke des Gusses selbst gewidmet
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/97>, abgerufen am 01.09.2024.