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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

(Andere haben die Werke des hcilkraftreichm Paccon,
Aerzte; und selbige sind nicht des Erfolges gewiß.
Oft aus minderen Schmerzen entsteht ein gewaltiges Leiden,
Niemand löst mit der Kraft lindernder Mittel es auf;
Doch den ganz von bösen und leidigen Uebeln Empörten,
Durch Aalegen der Hand macht er ihn eilig gesund.
Moira sührwahr bringt beides den Sterblichen, Böses und Gutes,
Und vor der Götter Geschenk ist es umsonst zu entfliehen.)

So schildert Solon das Leben, und wenn wir unser eignes dagegen halten, so
erkennen wir leicht die Identität der Grundlage: so treibt es noch jetzt der
Schiffer, der Bauer, der Handwerker; der Arzt verzweifelt noch jetzt an seiner
Kunst; der Geistliche ist kein Opfcrschauer mehr, aber er predigt doch auch Er¬
gebung und deutet die Zeichen des Himmels; wir würden von dem Unsrigen
vielleicht den Lehrer, den Richter, den Krieger hinzufügen, die aber damals noch
nicht als besondre Art des Erwerbes oder der Nahrung hervorgetreten waren. So
ist in Hesiods "Werken und Tagen" zwar unser heutiges Landleben und unsre
ländliche Wirtschaft in kindlicher Urgestalt vorgebildet, aber bei manchem Zuge
stutzen wir doch und mögen ihm keine Geltung mehr zugestehen. Wenn der
Dichter sagt, um das dreißigste Lebensjahr sei für den Mann die beste Zeit
zum Heiraten, für das Mädchen im fünften Jahr nach der Mannbarkeit; wenn
Platon an zwei Stellen dieselbe Zeit ansetzt (Vom Staate 6 und Von den Gesetzen 6)
und Aristoteles den Maun gar bis zum siebenunddreißigsten Jahre warten lassen
will (Politik 7, 14), so mag in dem Jahrhundert, welchem beide Philosophen
ihre Erfahrungen entnahmen, die Auflösung der Sitten solchen Verzug rätlich
gemacht haben; aber zu der Zeit, aus der die Hesiodischen Gedichte stammen,
waren frühere Eheverbindungen gewiß die Regel, und wir erkennen hier, daß
mitten in der Herrschaft substantieller Einfalt und Notwendigkeit doch schon die
Spuren der Klugheit auftauchen, die sich mit der Natur in Widerstreit setzt.
Indeß auch bei den Germane" galt lange bewahrte Enthaltsamkeit für das
höchste Lob, ja als gebotene Sitte (Cäsar 6, 21): "Mi ämtissims imxuvörös xsr-
MMZLrunt, iQg-xillmiu mehr suos teruirt lemäsm. Indra, s-unum. vioeÄilmw. tsiliiimö
notitis-in tmduisss in wrxissinüs liÄvMt rslvus. (Tacitus, Germania 20):
serg, Mvsrmiu venus -- rwo viiMQös tsstinMwr. Die in sich gehaltene und
gesammelte Art des Nordens, die dem Ausbruch der Sinnlichkeit mißtraut,
vielleicht auch die kriegerische Stimmung der damaligen germanischen Stämme,
mag unter ihnen dieser Einrichtung Bestand und Wert gegeben haben. Aber
als Luther dem asketischen Mönchtum des Mittelalters und der Herrschaft eines
ehelosen Priestertums über den unheiligen Laienstand entgegentrat, sah er sich
gedrängt, im Punkte der Eheschließung dem Gebote der Natur in vollem Maße,
ja fast im Übermaße gerecht zu werden (Vom ehelichen Leben): "Ein Knab
aufs längest, wenn er zwanzig, ein Mägdlin, Wenns funfzehen oder achtzehen


Gedanken über Goethe.

(Andere haben die Werke des hcilkraftreichm Paccon,
Aerzte; und selbige sind nicht des Erfolges gewiß.
Oft aus minderen Schmerzen entsteht ein gewaltiges Leiden,
Niemand löst mit der Kraft lindernder Mittel es auf;
Doch den ganz von bösen und leidigen Uebeln Empörten,
Durch Aalegen der Hand macht er ihn eilig gesund.
Moira sührwahr bringt beides den Sterblichen, Böses und Gutes,
Und vor der Götter Geschenk ist es umsonst zu entfliehen.)

So schildert Solon das Leben, und wenn wir unser eignes dagegen halten, so
erkennen wir leicht die Identität der Grundlage: so treibt es noch jetzt der
Schiffer, der Bauer, der Handwerker; der Arzt verzweifelt noch jetzt an seiner
Kunst; der Geistliche ist kein Opfcrschauer mehr, aber er predigt doch auch Er¬
gebung und deutet die Zeichen des Himmels; wir würden von dem Unsrigen
vielleicht den Lehrer, den Richter, den Krieger hinzufügen, die aber damals noch
nicht als besondre Art des Erwerbes oder der Nahrung hervorgetreten waren. So
ist in Hesiods „Werken und Tagen" zwar unser heutiges Landleben und unsre
ländliche Wirtschaft in kindlicher Urgestalt vorgebildet, aber bei manchem Zuge
stutzen wir doch und mögen ihm keine Geltung mehr zugestehen. Wenn der
Dichter sagt, um das dreißigste Lebensjahr sei für den Mann die beste Zeit
zum Heiraten, für das Mädchen im fünften Jahr nach der Mannbarkeit; wenn
Platon an zwei Stellen dieselbe Zeit ansetzt (Vom Staate 6 und Von den Gesetzen 6)
und Aristoteles den Maun gar bis zum siebenunddreißigsten Jahre warten lassen
will (Politik 7, 14), so mag in dem Jahrhundert, welchem beide Philosophen
ihre Erfahrungen entnahmen, die Auflösung der Sitten solchen Verzug rätlich
gemacht haben; aber zu der Zeit, aus der die Hesiodischen Gedichte stammen,
waren frühere Eheverbindungen gewiß die Regel, und wir erkennen hier, daß
mitten in der Herrschaft substantieller Einfalt und Notwendigkeit doch schon die
Spuren der Klugheit auftauchen, die sich mit der Natur in Widerstreit setzt.
Indeß auch bei den Germane» galt lange bewahrte Enthaltsamkeit für das
höchste Lob, ja als gebotene Sitte (Cäsar 6, 21): «Mi ämtissims imxuvörös xsr-
MMZLrunt, iQg-xillmiu mehr suos teruirt lemäsm. Indra, s-unum. vioeÄilmw. tsiliiimö
notitis-in tmduisss in wrxissinüs liÄvMt rslvus. (Tacitus, Germania 20):
serg, Mvsrmiu venus — rwo viiMQös tsstinMwr. Die in sich gehaltene und
gesammelte Art des Nordens, die dem Ausbruch der Sinnlichkeit mißtraut,
vielleicht auch die kriegerische Stimmung der damaligen germanischen Stämme,
mag unter ihnen dieser Einrichtung Bestand und Wert gegeben haben. Aber
als Luther dem asketischen Mönchtum des Mittelalters und der Herrschaft eines
ehelosen Priestertums über den unheiligen Laienstand entgegentrat, sah er sich
gedrängt, im Punkte der Eheschließung dem Gebote der Natur in vollem Maße,
ja fast im Übermaße gerecht zu werden (Vom ehelichen Leben): „Ein Knab
aufs längest, wenn er zwanzig, ein Mägdlin, Wenns funfzehen oder achtzehen


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[0094] Gedanken über Goethe. (Andere haben die Werke des hcilkraftreichm Paccon, Aerzte; und selbige sind nicht des Erfolges gewiß. Oft aus minderen Schmerzen entsteht ein gewaltiges Leiden, Niemand löst mit der Kraft lindernder Mittel es auf; Doch den ganz von bösen und leidigen Uebeln Empörten, Durch Aalegen der Hand macht er ihn eilig gesund. Moira sührwahr bringt beides den Sterblichen, Böses und Gutes, Und vor der Götter Geschenk ist es umsonst zu entfliehen.) So schildert Solon das Leben, und wenn wir unser eignes dagegen halten, so erkennen wir leicht die Identität der Grundlage: so treibt es noch jetzt der Schiffer, der Bauer, der Handwerker; der Arzt verzweifelt noch jetzt an seiner Kunst; der Geistliche ist kein Opfcrschauer mehr, aber er predigt doch auch Er¬ gebung und deutet die Zeichen des Himmels; wir würden von dem Unsrigen vielleicht den Lehrer, den Richter, den Krieger hinzufügen, die aber damals noch nicht als besondre Art des Erwerbes oder der Nahrung hervorgetreten waren. So ist in Hesiods „Werken und Tagen" zwar unser heutiges Landleben und unsre ländliche Wirtschaft in kindlicher Urgestalt vorgebildet, aber bei manchem Zuge stutzen wir doch und mögen ihm keine Geltung mehr zugestehen. Wenn der Dichter sagt, um das dreißigste Lebensjahr sei für den Mann die beste Zeit zum Heiraten, für das Mädchen im fünften Jahr nach der Mannbarkeit; wenn Platon an zwei Stellen dieselbe Zeit ansetzt (Vom Staate 6 und Von den Gesetzen 6) und Aristoteles den Maun gar bis zum siebenunddreißigsten Jahre warten lassen will (Politik 7, 14), so mag in dem Jahrhundert, welchem beide Philosophen ihre Erfahrungen entnahmen, die Auflösung der Sitten solchen Verzug rätlich gemacht haben; aber zu der Zeit, aus der die Hesiodischen Gedichte stammen, waren frühere Eheverbindungen gewiß die Regel, und wir erkennen hier, daß mitten in der Herrschaft substantieller Einfalt und Notwendigkeit doch schon die Spuren der Klugheit auftauchen, die sich mit der Natur in Widerstreit setzt. Indeß auch bei den Germane» galt lange bewahrte Enthaltsamkeit für das höchste Lob, ja als gebotene Sitte (Cäsar 6, 21): «Mi ämtissims imxuvörös xsr- MMZLrunt, iQg-xillmiu mehr suos teruirt lemäsm. Indra, s-unum. vioeÄilmw. tsiliiimö notitis-in tmduisss in wrxissinüs liÄvMt rslvus. (Tacitus, Germania 20): serg, Mvsrmiu venus — rwo viiMQös tsstinMwr. Die in sich gehaltene und gesammelte Art des Nordens, die dem Ausbruch der Sinnlichkeit mißtraut, vielleicht auch die kriegerische Stimmung der damaligen germanischen Stämme, mag unter ihnen dieser Einrichtung Bestand und Wert gegeben haben. Aber als Luther dem asketischen Mönchtum des Mittelalters und der Herrschaft eines ehelosen Priestertums über den unheiligen Laienstand entgegentrat, sah er sich gedrängt, im Punkte der Eheschließung dem Gebote der Natur in vollem Maße, ja fast im Übermaße gerecht zu werden (Vom ehelichen Leben): „Ein Knab aufs längest, wenn er zwanzig, ein Mägdlin, Wenns funfzehen oder achtzehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/94>, abgerufen am 01.09.2024.