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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

die Begleiterin des Weibes, die ihn: half, den Faden zu drehen und aufzuwinden --
ein anmutiges Werkzeug, eine leichte Arbeit, die die Gedanken frei ließ und
den schönen Leib in der natürlichen Grazie seiner Bewegungen nicht hinderte.
So gehört bei Homer die ^"x",,/ zu den i'^/" /^"lxos, z. B. der Penelope;
und auch die Königin Helena, die Gattin des Menelaos in Lakedämon, tritt
ins Gemach, und eine der Mägde trägt ihr den silbernen Korb nach und die
mit veilcheufarbener Wolle umwundene goldene Spindel; nnter Theokrits Jdyllien
ist eines an die elfenbeinerne gerichtet: sie ist häuslichen Frauen lieb,
die Kunstreiches damit schaffen und nicht gern müßig sind, und der Dichter
will sie der Thevgenis, der Gattin seines Freundes, schenken. Schön und cha¬
rakteristisch ist auch die Szene, die Herodot (5, 12) schildert: das pcionischc
Mädchen, schlank und wohlgebildet, geht mit der Spindel in der Hand und
dem Wassergefäß auf dem Haupte und ein Roß am Zügel führend zum Flusse
hinab; sie füllt ihren Krug und tränkt das Roß und wandelt so zurück, immer
neben den andern Geschäften ihre Spindel drehend, und König Darius schaut
ihr verwundert nach und gebietet, sie vor sein Angesicht zu führen. So sieht
man auch jetzt noch in den Ländern am Mittelmeer die Frauen aus dem Volke
nicht leicht ohne die Spindel in der Hand; sie fehlt fast bei keiner Arbeit, so¬
wohl im Hause als auf dem Felde und bei der Hut der Tiere, und das schalk¬
hafte Mädchen, hoch auf der Mauer der Gartenterrasfe sitzend, senkt ihre Spindel
bis auf den Weg hinab, zu dem vorübergehenden Wanderer; er greift danach --
schnell aber hat sie ihren Pfeil zurück in die Höhe gezogen, er faßt in die
leere Luft, und sie lacht ihn spottend aus. Aber in dem größten Teile des
gebildeten Europas ist die Spindel jetzt völlig unbekannt, die meisten Frauen
haben sie kaum je mit Augen gesehen; sie ist durch die Mechanik des Spinn¬
rades verdrängt, einer Maschine, die nicht mitgetragen werden kann, die den
Menschen fesselt, ihn an sich und in die Stube bannt und das freie Spiel der
Glieder hemmt. Doch hat auch das Spinnrad noch seine poetische Seite; sein
Schnurren erlaubt noch das Nachdenken, den Gesang, die Unterhaltung; spinnend
singt Gretchen ihr Lied von der Zerrüttung durch Liebe:


Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer --

und zu der "Spinnerin" tritt der junge Mann, und der Faden reißt und


Was sie in dem Kämmerlein
Still und fein gesponnen,
Kommt, wie konnt' es anders sein,
Endlich an die Sonnen.

Wie bei Vergil in dem krystallenen Gemach tief unten im Grunde der Wasser
um die Clymene die andern Nymphen sitzen, mit weiblicher Arbeit beschäftigt,
und sie ihnen erzählt von den süßen Liebcshcindcln der Götter, z, B. wie Mars


Grenzboten IV. 1883. N
Gedanken über Goethe.

die Begleiterin des Weibes, die ihn: half, den Faden zu drehen und aufzuwinden —
ein anmutiges Werkzeug, eine leichte Arbeit, die die Gedanken frei ließ und
den schönen Leib in der natürlichen Grazie seiner Bewegungen nicht hinderte.
So gehört bei Homer die ^«x«,,/ zu den i'^/« /^«lxos, z. B. der Penelope;
und auch die Königin Helena, die Gattin des Menelaos in Lakedämon, tritt
ins Gemach, und eine der Mägde trägt ihr den silbernen Korb nach und die
mit veilcheufarbener Wolle umwundene goldene Spindel; nnter Theokrits Jdyllien
ist eines an die elfenbeinerne gerichtet: sie ist häuslichen Frauen lieb,
die Kunstreiches damit schaffen und nicht gern müßig sind, und der Dichter
will sie der Thevgenis, der Gattin seines Freundes, schenken. Schön und cha¬
rakteristisch ist auch die Szene, die Herodot (5, 12) schildert: das pcionischc
Mädchen, schlank und wohlgebildet, geht mit der Spindel in der Hand und
dem Wassergefäß auf dem Haupte und ein Roß am Zügel führend zum Flusse
hinab; sie füllt ihren Krug und tränkt das Roß und wandelt so zurück, immer
neben den andern Geschäften ihre Spindel drehend, und König Darius schaut
ihr verwundert nach und gebietet, sie vor sein Angesicht zu führen. So sieht
man auch jetzt noch in den Ländern am Mittelmeer die Frauen aus dem Volke
nicht leicht ohne die Spindel in der Hand; sie fehlt fast bei keiner Arbeit, so¬
wohl im Hause als auf dem Felde und bei der Hut der Tiere, und das schalk¬
hafte Mädchen, hoch auf der Mauer der Gartenterrasfe sitzend, senkt ihre Spindel
bis auf den Weg hinab, zu dem vorübergehenden Wanderer; er greift danach —
schnell aber hat sie ihren Pfeil zurück in die Höhe gezogen, er faßt in die
leere Luft, und sie lacht ihn spottend aus. Aber in dem größten Teile des
gebildeten Europas ist die Spindel jetzt völlig unbekannt, die meisten Frauen
haben sie kaum je mit Augen gesehen; sie ist durch die Mechanik des Spinn¬
rades verdrängt, einer Maschine, die nicht mitgetragen werden kann, die den
Menschen fesselt, ihn an sich und in die Stube bannt und das freie Spiel der
Glieder hemmt. Doch hat auch das Spinnrad noch seine poetische Seite; sein
Schnurren erlaubt noch das Nachdenken, den Gesang, die Unterhaltung; spinnend
singt Gretchen ihr Lied von der Zerrüttung durch Liebe:


Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer —

und zu der „Spinnerin" tritt der junge Mann, und der Faden reißt und


Was sie in dem Kämmerlein
Still und fein gesponnen,
Kommt, wie konnt' es anders sein,
Endlich an die Sonnen.

Wie bei Vergil in dem krystallenen Gemach tief unten im Grunde der Wasser
um die Clymene die andern Nymphen sitzen, mit weiblicher Arbeit beschäftigt,
und sie ihnen erzählt von den süßen Liebcshcindcln der Götter, z, B. wie Mars


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[0091] Gedanken über Goethe. die Begleiterin des Weibes, die ihn: half, den Faden zu drehen und aufzuwinden — ein anmutiges Werkzeug, eine leichte Arbeit, die die Gedanken frei ließ und den schönen Leib in der natürlichen Grazie seiner Bewegungen nicht hinderte. So gehört bei Homer die ^«x«,,/ zu den i'^/« /^«lxos, z. B. der Penelope; und auch die Königin Helena, die Gattin des Menelaos in Lakedämon, tritt ins Gemach, und eine der Mägde trägt ihr den silbernen Korb nach und die mit veilcheufarbener Wolle umwundene goldene Spindel; nnter Theokrits Jdyllien ist eines an die elfenbeinerne gerichtet: sie ist häuslichen Frauen lieb, die Kunstreiches damit schaffen und nicht gern müßig sind, und der Dichter will sie der Thevgenis, der Gattin seines Freundes, schenken. Schön und cha¬ rakteristisch ist auch die Szene, die Herodot (5, 12) schildert: das pcionischc Mädchen, schlank und wohlgebildet, geht mit der Spindel in der Hand und dem Wassergefäß auf dem Haupte und ein Roß am Zügel führend zum Flusse hinab; sie füllt ihren Krug und tränkt das Roß und wandelt so zurück, immer neben den andern Geschäften ihre Spindel drehend, und König Darius schaut ihr verwundert nach und gebietet, sie vor sein Angesicht zu führen. So sieht man auch jetzt noch in den Ländern am Mittelmeer die Frauen aus dem Volke nicht leicht ohne die Spindel in der Hand; sie fehlt fast bei keiner Arbeit, so¬ wohl im Hause als auf dem Felde und bei der Hut der Tiere, und das schalk¬ hafte Mädchen, hoch auf der Mauer der Gartenterrasfe sitzend, senkt ihre Spindel bis auf den Weg hinab, zu dem vorübergehenden Wanderer; er greift danach — schnell aber hat sie ihren Pfeil zurück in die Höhe gezogen, er faßt in die leere Luft, und sie lacht ihn spottend aus. Aber in dem größten Teile des gebildeten Europas ist die Spindel jetzt völlig unbekannt, die meisten Frauen haben sie kaum je mit Augen gesehen; sie ist durch die Mechanik des Spinn¬ rades verdrängt, einer Maschine, die nicht mitgetragen werden kann, die den Menschen fesselt, ihn an sich und in die Stube bannt und das freie Spiel der Glieder hemmt. Doch hat auch das Spinnrad noch seine poetische Seite; sein Schnurren erlaubt noch das Nachdenken, den Gesang, die Unterhaltung; spinnend singt Gretchen ihr Lied von der Zerrüttung durch Liebe: Meine Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer — und zu der „Spinnerin" tritt der junge Mann, und der Faden reißt und Was sie in dem Kämmerlein Still und fein gesponnen, Kommt, wie konnt' es anders sein, Endlich an die Sonnen. Wie bei Vergil in dem krystallenen Gemach tief unten im Grunde der Wasser um die Clymene die andern Nymphen sitzen, mit weiblicher Arbeit beschäftigt, und sie ihnen erzählt von den süßen Liebcshcindcln der Götter, z, B. wie Mars Grenzboten IV. 1883. N

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/91>, abgerufen am 27.07.2024.