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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der neue Merlin.
N Adolf Storm, ovelle von
(Schluß,)

n solcher Stimmung kehrte ich am Spätnachmittag nach Venedig
zurück. An Padua und meine beabsichtigten Studien dachte ich
nicht mehr, meine eigne Lage hatte ich vergessen und nur die
der schönen bedrängten Frau stand vor meinen Augen, Gewiß
war mir nur das eine, daß ich sie andern Tages in der
Morgenfrühe in der Dalmatinerkirche wiedersehen werde und müsse, daß
ich ihr sogen wollte, daß mein Blut und mein Leben zu ihren Dieiisteii stünden!
Ach, Signor Federigv, wenn ich Ihnen deutlich machen könnte, was in der Nacht
vor jenem Morgen alles durch meinen ungeprüfter Sinn ging, wie mir mit
einemmale mein dunkles Geschick, mein Alleinstehen in der Welt als eine Fügung
Gottes erschien! Ich war frei, ich konnte alles thun und wagen -- wenn es
Gabricllas Wille war. Und sie mußte ja wohl daran denke", meinen Schutz,
meine Hilfe in Anspruch zu nehmen -- wozu hätten sonst die Mitteilungen des
Priesters auf Torcello dienen sollen? Sie mögen sich aber vorstellen, wie mir
zu Mute war, als ich, zur gewohnten Stunde die Kirche betretend, umsonst
lange und bange auf Gabriella harrte. Sie erschien nicht, und keine Kunde
ward mir von ihr zu teil. Wohl nahm ich einmal in der Kirche ein kleines
Mädchen wahr, das sich schüchtern umsah und von der ich einen Augenblick
glaubte, daß sie mich aufmerksam betrachte. Aber da das scheue Kind unmittelbar
darauf zu einem der Altäre ging und dort einen Veilchenstrauß niederlegte,
den es in der Hand trug, so achtete ich seiner nicht weiter. In und vor der
Kirche verweilte ich bis zum Mittag, mit jeder Viertelstunde wuchs ein unbeschreib-
barcs Gefühl in meiner Seele. Ich schaute den schmalen grünlichen Kanal
hinab, nach den rotbraunen Palastecken hinüber, zwischen denen die Gondel des
Hauses Parmi hervorschießen mußte, als könnte ich die ersehnte Erscheinung aus
den Mauern hervorzwingen. Und als es endlich Mittag ward, gab es weder




Der neue Merlin.
N Adolf Storm, ovelle von
(Schluß,)

n solcher Stimmung kehrte ich am Spätnachmittag nach Venedig
zurück. An Padua und meine beabsichtigten Studien dachte ich
nicht mehr, meine eigne Lage hatte ich vergessen und nur die
der schönen bedrängten Frau stand vor meinen Augen, Gewiß
war mir nur das eine, daß ich sie andern Tages in der
Morgenfrühe in der Dalmatinerkirche wiedersehen werde und müsse, daß
ich ihr sogen wollte, daß mein Blut und mein Leben zu ihren Dieiisteii stünden!
Ach, Signor Federigv, wenn ich Ihnen deutlich machen könnte, was in der Nacht
vor jenem Morgen alles durch meinen ungeprüfter Sinn ging, wie mir mit
einemmale mein dunkles Geschick, mein Alleinstehen in der Welt als eine Fügung
Gottes erschien! Ich war frei, ich konnte alles thun und wagen — wenn es
Gabricllas Wille war. Und sie mußte ja wohl daran denke», meinen Schutz,
meine Hilfe in Anspruch zu nehmen — wozu hätten sonst die Mitteilungen des
Priesters auf Torcello dienen sollen? Sie mögen sich aber vorstellen, wie mir
zu Mute war, als ich, zur gewohnten Stunde die Kirche betretend, umsonst
lange und bange auf Gabriella harrte. Sie erschien nicht, und keine Kunde
ward mir von ihr zu teil. Wohl nahm ich einmal in der Kirche ein kleines
Mädchen wahr, das sich schüchtern umsah und von der ich einen Augenblick
glaubte, daß sie mich aufmerksam betrachte. Aber da das scheue Kind unmittelbar
darauf zu einem der Altäre ging und dort einen Veilchenstrauß niederlegte,
den es in der Hand trug, so achtete ich seiner nicht weiter. In und vor der
Kirche verweilte ich bis zum Mittag, mit jeder Viertelstunde wuchs ein unbeschreib-
barcs Gefühl in meiner Seele. Ich schaute den schmalen grünlichen Kanal
hinab, nach den rotbraunen Palastecken hinüber, zwischen denen die Gondel des
Hauses Parmi hervorschießen mußte, als könnte ich die ersehnte Erscheinung aus
den Mauern hervorzwingen. Und als es endlich Mittag ward, gab es weder


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[0696] [Abbildung] Der neue Merlin. N Adolf Storm, ovelle von (Schluß,) n solcher Stimmung kehrte ich am Spätnachmittag nach Venedig zurück. An Padua und meine beabsichtigten Studien dachte ich nicht mehr, meine eigne Lage hatte ich vergessen und nur die der schönen bedrängten Frau stand vor meinen Augen, Gewiß war mir nur das eine, daß ich sie andern Tages in der Morgenfrühe in der Dalmatinerkirche wiedersehen werde und müsse, daß ich ihr sogen wollte, daß mein Blut und mein Leben zu ihren Dieiisteii stünden! Ach, Signor Federigv, wenn ich Ihnen deutlich machen könnte, was in der Nacht vor jenem Morgen alles durch meinen ungeprüfter Sinn ging, wie mir mit einemmale mein dunkles Geschick, mein Alleinstehen in der Welt als eine Fügung Gottes erschien! Ich war frei, ich konnte alles thun und wagen — wenn es Gabricllas Wille war. Und sie mußte ja wohl daran denke», meinen Schutz, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen — wozu hätten sonst die Mitteilungen des Priesters auf Torcello dienen sollen? Sie mögen sich aber vorstellen, wie mir zu Mute war, als ich, zur gewohnten Stunde die Kirche betretend, umsonst lange und bange auf Gabriella harrte. Sie erschien nicht, und keine Kunde ward mir von ihr zu teil. Wohl nahm ich einmal in der Kirche ein kleines Mädchen wahr, das sich schüchtern umsah und von der ich einen Augenblick glaubte, daß sie mich aufmerksam betrachte. Aber da das scheue Kind unmittelbar darauf zu einem der Altäre ging und dort einen Veilchenstrauß niederlegte, den es in der Hand trug, so achtete ich seiner nicht weiter. In und vor der Kirche verweilte ich bis zum Mittag, mit jeder Viertelstunde wuchs ein unbeschreib- barcs Gefühl in meiner Seele. Ich schaute den schmalen grünlichen Kanal hinab, nach den rotbraunen Palastecken hinüber, zwischen denen die Gondel des Hauses Parmi hervorschießen mußte, als könnte ich die ersehnte Erscheinung aus den Mauern hervorzwingen. Und als es endlich Mittag ward, gab es weder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/696>, abgerufen am 13.11.2024.