Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lntstehung des^Forst.

Faust. Wesentlich verändert gegen die erste Gestalt ist, wie der Schiller-
Goethische Briefwechsel bezeugt, nur die Kerkerszene. Die übrigen Veränderungen
beschränken sich auf den Zusatz in der Domszcnc bei der ersten Rede des bösen
Geistes: "Auf deiner Schwelle wessen Blut?" Ferner bei der Szene "Trüber
Tag. Feld" auf den Zusatz der wenigen Worte des Mephistopheles: "Und die
Gefahr, der du dich aussetzest -- wiederkehrenden Mörder" und der kurzen Ant¬
wort des Faust: "Noch das von dir? -- besrei sie."

Von allen diesen Szenen bedürfen zwei einer eingehenden Betrachtung:
die Szene in Wald und Höhle und die Kcrkerszene.

Zunächst die Szene in Wald und Höhle, bestehend ans Fausts Monolog
und dem anschließenden Gespräch mit Mephistopheles. In dem jetzigen Faust
erscheint diese Szene freilich wie ein abgerissenes, fast uumotivirtes Stück. In
der ursprünglichen Komposition enthielt sie den bedeutungsvollsten Moment jeder
wahren Tragödie, den Moment, welchen die Alten die Peripetie genannt haben,
d. h. die Szene, in welcher die vielfach vorbereitete Katastrophe unvermeidlich
wird, indem der tragische Knoten sich unlösbar schlingt. In der Katastrophe
erfüllt sich dann die Peripetie. Die Peripetie enthält sonach den Schlüsselpnnkt
jeder wahren Tragödie, und so war es auch bei der ersten Fausttragödie.

Bei dieser merkwürdigen und bedeutungsvollen Szene kann ich die Zweifel
nicht unberücksichtigt lassen, welche mein langjähriger Freund Julian Schmidt
-- wir haben vor 35 Jahren hier in diesen Blättern mit aller Leidenschaft
empörter Besorgnis vor dem Einbrechen einer schmählichen Barbarei gemeinsam
die Demokratie von 1348 bekämpft -- gegen die Zugehörigkeit derselben zur
erste" Faustgestalt oder zu den dem ersten Erguß der Dichtung entstammenden
Szenen erhebt. Julian Schmidt hat in vielen Jahren vieles über den Faust
gesagt, das Reifste in einem Versuch im Mürzhcft der Preußischen Jahrbücher
von 1877. Er steht ganz auf dem Standpunkte der historischen Kritik und
geht am weitesten in der Zuversicht, diesen Standpunkt für den abschließenden
des Verständnisses zu halten, nur daß er weiß, wie sehr dies einen Mangel
des Werkes bedeutet. Er nimmt auch deswegen unter diesen Kritikern die be¬
deutendste Stelle ein, weil er ein wahrer Goldgräber ist, der nicht bloß dahin
greift, wo andre ein Klümpchen gefunden haben, sondern mit seinen eignen
Augen Neues und Wertvolles findet. In dem Faust sieht er lediglich eine
Sammlung von Reflexen der Pflanzen, welche im Weinberg der deutschen Geistes¬
arbeit während Goethes Lebensgang in den Boden gesteckt wurden. Schmidt erkennt
Goethes Verdienst darin, daß die Stoffe erst dadurch zu Fermenten wurden, daß
Goethe sich ihrer bemächtigte, oder, um bei dem früheren Bilde zu bleiben, daß nur
diejenigen Reben fruchttragende Stöcke gaben, die der Goethische Genius bestrahlte.
Dagegen will Schmidt in keiner Weise die Faustdichtung als ein organisches,
oder, um genauer zu sprechen, weil er eine quasiorganische Entstehung vielleicht
nicht leugnen würde, als ein organisirtes Gebilde anerkennen. Er kommt


Die Lntstehung des^Forst.

Faust. Wesentlich verändert gegen die erste Gestalt ist, wie der Schiller-
Goethische Briefwechsel bezeugt, nur die Kerkerszene. Die übrigen Veränderungen
beschränken sich auf den Zusatz in der Domszcnc bei der ersten Rede des bösen
Geistes: „Auf deiner Schwelle wessen Blut?" Ferner bei der Szene „Trüber
Tag. Feld" auf den Zusatz der wenigen Worte des Mephistopheles: „Und die
Gefahr, der du dich aussetzest — wiederkehrenden Mörder" und der kurzen Ant¬
wort des Faust: „Noch das von dir? — besrei sie."

Von allen diesen Szenen bedürfen zwei einer eingehenden Betrachtung:
die Szene in Wald und Höhle und die Kcrkerszene.

Zunächst die Szene in Wald und Höhle, bestehend ans Fausts Monolog
und dem anschließenden Gespräch mit Mephistopheles. In dem jetzigen Faust
erscheint diese Szene freilich wie ein abgerissenes, fast uumotivirtes Stück. In
der ursprünglichen Komposition enthielt sie den bedeutungsvollsten Moment jeder
wahren Tragödie, den Moment, welchen die Alten die Peripetie genannt haben,
d. h. die Szene, in welcher die vielfach vorbereitete Katastrophe unvermeidlich
wird, indem der tragische Knoten sich unlösbar schlingt. In der Katastrophe
erfüllt sich dann die Peripetie. Die Peripetie enthält sonach den Schlüsselpnnkt
jeder wahren Tragödie, und so war es auch bei der ersten Fausttragödie.

Bei dieser merkwürdigen und bedeutungsvollen Szene kann ich die Zweifel
nicht unberücksichtigt lassen, welche mein langjähriger Freund Julian Schmidt
— wir haben vor 35 Jahren hier in diesen Blättern mit aller Leidenschaft
empörter Besorgnis vor dem Einbrechen einer schmählichen Barbarei gemeinsam
die Demokratie von 1348 bekämpft — gegen die Zugehörigkeit derselben zur
erste» Faustgestalt oder zu den dem ersten Erguß der Dichtung entstammenden
Szenen erhebt. Julian Schmidt hat in vielen Jahren vieles über den Faust
gesagt, das Reifste in einem Versuch im Mürzhcft der Preußischen Jahrbücher
von 1877. Er steht ganz auf dem Standpunkte der historischen Kritik und
geht am weitesten in der Zuversicht, diesen Standpunkt für den abschließenden
des Verständnisses zu halten, nur daß er weiß, wie sehr dies einen Mangel
des Werkes bedeutet. Er nimmt auch deswegen unter diesen Kritikern die be¬
deutendste Stelle ein, weil er ein wahrer Goldgräber ist, der nicht bloß dahin
greift, wo andre ein Klümpchen gefunden haben, sondern mit seinen eignen
Augen Neues und Wertvolles findet. In dem Faust sieht er lediglich eine
Sammlung von Reflexen der Pflanzen, welche im Weinberg der deutschen Geistes¬
arbeit während Goethes Lebensgang in den Boden gesteckt wurden. Schmidt erkennt
Goethes Verdienst darin, daß die Stoffe erst dadurch zu Fermenten wurden, daß
Goethe sich ihrer bemächtigte, oder, um bei dem früheren Bilde zu bleiben, daß nur
diejenigen Reben fruchttragende Stöcke gaben, die der Goethische Genius bestrahlte.
Dagegen will Schmidt in keiner Weise die Faustdichtung als ein organisches,
oder, um genauer zu sprechen, weil er eine quasiorganische Entstehung vielleicht
nicht leugnen würde, als ein organisirtes Gebilde anerkennen. Er kommt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0676" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154841"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Lntstehung des^Forst.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2013" prev="#ID_2012"> Faust. Wesentlich verändert gegen die erste Gestalt ist, wie der Schiller-<lb/>
Goethische Briefwechsel bezeugt, nur die Kerkerszene. Die übrigen Veränderungen<lb/>
beschränken sich auf den Zusatz in der Domszcnc bei der ersten Rede des bösen<lb/>
Geistes: &#x201E;Auf deiner Schwelle wessen Blut?" Ferner bei der Szene &#x201E;Trüber<lb/>
Tag. Feld" auf den Zusatz der wenigen Worte des Mephistopheles: &#x201E;Und die<lb/>
Gefahr, der du dich aussetzest &#x2014; wiederkehrenden Mörder" und der kurzen Ant¬<lb/>
wort des Faust: &#x201E;Noch das von dir? &#x2014; besrei sie."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2014"> Von allen diesen Szenen bedürfen zwei einer eingehenden Betrachtung:<lb/>
die Szene in Wald und Höhle und die Kcrkerszene.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2015"> Zunächst die Szene in Wald und Höhle, bestehend ans Fausts Monolog<lb/>
und dem anschließenden Gespräch mit Mephistopheles. In dem jetzigen Faust<lb/>
erscheint diese Szene freilich wie ein abgerissenes, fast uumotivirtes Stück. In<lb/>
der ursprünglichen Komposition enthielt sie den bedeutungsvollsten Moment jeder<lb/>
wahren Tragödie, den Moment, welchen die Alten die Peripetie genannt haben,<lb/>
d. h. die Szene, in welcher die vielfach vorbereitete Katastrophe unvermeidlich<lb/>
wird, indem der tragische Knoten sich unlösbar schlingt. In der Katastrophe<lb/>
erfüllt sich dann die Peripetie. Die Peripetie enthält sonach den Schlüsselpnnkt<lb/>
jeder wahren Tragödie, und so war es auch bei der ersten Fausttragödie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2016" next="#ID_2017"> Bei dieser merkwürdigen und bedeutungsvollen Szene kann ich die Zweifel<lb/>
nicht unberücksichtigt lassen, welche mein langjähriger Freund Julian Schmidt<lb/>
&#x2014; wir haben vor 35 Jahren hier in diesen Blättern mit aller Leidenschaft<lb/>
empörter Besorgnis vor dem Einbrechen einer schmählichen Barbarei gemeinsam<lb/>
die Demokratie von 1348 bekämpft &#x2014; gegen die Zugehörigkeit derselben zur<lb/>
erste» Faustgestalt oder zu den dem ersten Erguß der Dichtung entstammenden<lb/>
Szenen erhebt. Julian Schmidt hat in vielen Jahren vieles über den Faust<lb/>
gesagt, das Reifste in einem Versuch im Mürzhcft der Preußischen Jahrbücher<lb/>
von 1877. Er steht ganz auf dem Standpunkte der historischen Kritik und<lb/>
geht am weitesten in der Zuversicht, diesen Standpunkt für den abschließenden<lb/>
des Verständnisses zu halten, nur daß er weiß, wie sehr dies einen Mangel<lb/>
des Werkes bedeutet. Er nimmt auch deswegen unter diesen Kritikern die be¬<lb/>
deutendste Stelle ein, weil er ein wahrer Goldgräber ist, der nicht bloß dahin<lb/>
greift, wo andre ein Klümpchen gefunden haben, sondern mit seinen eignen<lb/>
Augen Neues und Wertvolles findet. In dem Faust sieht er lediglich eine<lb/>
Sammlung von Reflexen der Pflanzen, welche im Weinberg der deutschen Geistes¬<lb/>
arbeit während Goethes Lebensgang in den Boden gesteckt wurden. Schmidt erkennt<lb/>
Goethes Verdienst darin, daß die Stoffe erst dadurch zu Fermenten wurden, daß<lb/>
Goethe sich ihrer bemächtigte, oder, um bei dem früheren Bilde zu bleiben, daß nur<lb/>
diejenigen Reben fruchttragende Stöcke gaben, die der Goethische Genius bestrahlte.<lb/>
Dagegen will Schmidt in keiner Weise die Faustdichtung als ein organisches,<lb/>
oder, um genauer zu sprechen, weil er eine quasiorganische Entstehung vielleicht<lb/>
nicht leugnen würde, als ein organisirtes Gebilde anerkennen.  Er kommt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0676] Die Lntstehung des^Forst. Faust. Wesentlich verändert gegen die erste Gestalt ist, wie der Schiller- Goethische Briefwechsel bezeugt, nur die Kerkerszene. Die übrigen Veränderungen beschränken sich auf den Zusatz in der Domszcnc bei der ersten Rede des bösen Geistes: „Auf deiner Schwelle wessen Blut?" Ferner bei der Szene „Trüber Tag. Feld" auf den Zusatz der wenigen Worte des Mephistopheles: „Und die Gefahr, der du dich aussetzest — wiederkehrenden Mörder" und der kurzen Ant¬ wort des Faust: „Noch das von dir? — besrei sie." Von allen diesen Szenen bedürfen zwei einer eingehenden Betrachtung: die Szene in Wald und Höhle und die Kcrkerszene. Zunächst die Szene in Wald und Höhle, bestehend ans Fausts Monolog und dem anschließenden Gespräch mit Mephistopheles. In dem jetzigen Faust erscheint diese Szene freilich wie ein abgerissenes, fast uumotivirtes Stück. In der ursprünglichen Komposition enthielt sie den bedeutungsvollsten Moment jeder wahren Tragödie, den Moment, welchen die Alten die Peripetie genannt haben, d. h. die Szene, in welcher die vielfach vorbereitete Katastrophe unvermeidlich wird, indem der tragische Knoten sich unlösbar schlingt. In der Katastrophe erfüllt sich dann die Peripetie. Die Peripetie enthält sonach den Schlüsselpnnkt jeder wahren Tragödie, und so war es auch bei der ersten Fausttragödie. Bei dieser merkwürdigen und bedeutungsvollen Szene kann ich die Zweifel nicht unberücksichtigt lassen, welche mein langjähriger Freund Julian Schmidt — wir haben vor 35 Jahren hier in diesen Blättern mit aller Leidenschaft empörter Besorgnis vor dem Einbrechen einer schmählichen Barbarei gemeinsam die Demokratie von 1348 bekämpft — gegen die Zugehörigkeit derselben zur erste» Faustgestalt oder zu den dem ersten Erguß der Dichtung entstammenden Szenen erhebt. Julian Schmidt hat in vielen Jahren vieles über den Faust gesagt, das Reifste in einem Versuch im Mürzhcft der Preußischen Jahrbücher von 1877. Er steht ganz auf dem Standpunkte der historischen Kritik und geht am weitesten in der Zuversicht, diesen Standpunkt für den abschließenden des Verständnisses zu halten, nur daß er weiß, wie sehr dies einen Mangel des Werkes bedeutet. Er nimmt auch deswegen unter diesen Kritikern die be¬ deutendste Stelle ein, weil er ein wahrer Goldgräber ist, der nicht bloß dahin greift, wo andre ein Klümpchen gefunden haben, sondern mit seinen eignen Augen Neues und Wertvolles findet. In dem Faust sieht er lediglich eine Sammlung von Reflexen der Pflanzen, welche im Weinberg der deutschen Geistes¬ arbeit während Goethes Lebensgang in den Boden gesteckt wurden. Schmidt erkennt Goethes Verdienst darin, daß die Stoffe erst dadurch zu Fermenten wurden, daß Goethe sich ihrer bemächtigte, oder, um bei dem früheren Bilde zu bleiben, daß nur diejenigen Reben fruchttragende Stöcke gaben, die der Goethische Genius bestrahlte. Dagegen will Schmidt in keiner Weise die Faustdichtung als ein organisches, oder, um genauer zu sprechen, weil er eine quasiorganische Entstehung vielleicht nicht leugnen würde, als ein organisirtes Gebilde anerkennen. Er kommt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/676
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/676>, abgerufen am 28.07.2024.