Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Entstehung des Faust.

eines der Dämonen angenommen, welche ins Verderben locken, er würde den
Weg der Erlösung durch seine eigne Ungeduld verlieren. Dem äußern Laut
nach schienen die Worte allerdings trefflich dem späteren Motiv zu entsprechen,
wonach Faust sich durch eine" Vertrag dem Teufel für einen gewissen Fall
übergeben hatte. Desto klaffender ist der innere Widerspruch. Mephistopheles
erwartet Fausts Untergang davon, daß dieser keine Erquickung findet, und vorher
hat er mit Faust eine Wette geschloffen, wonach Faust ihm nur um den Preis
verfällt, daß es den Künsten des Mephistopheles gelingt, Faust eine Erquickung
sei es zuzuführen, sei es vorzuspiegeln. Vorn ist Fausts Nichterquicktsein die
Bürgschaft seiner Rettung, am Schluß die Bürgschaft seines Verderbens.

Man kann nicht leugnen: die ganze Unterredung mit Mephistopheles, wie
sie nunmehr aus den Motiven des ersten Gedichts und aus der späteren Um¬
formung zusammengesetzt ist, bildet ein Chaos von Pleonasmen und Wider¬
sprüchen durch die Häufung von Motiven, die mit einander unverträg¬
lich sind. Der Dichter ist hier aus dem Widerstreben, das bereits wirksam
Gestaltete um der spätere" Motive willen in den Papierkorb zu werfen, in der
Sorglosigkeit der Redaktion soweit gegangen, wie an keiner andern Stelle des
Gedichts. Der Umstand, daß die Widersprüche bisher eigentlich noch garnicht
bemerkt worden sind, scheint ihn zu rechtfertigen.

Auf die Unterredung mit Mephistopheles folgte die Szene in Auerbachs
Keller. Möglicherweise ist diese Szene eines der zuletzt geschriebenen Stücke
der ersten Gestalt. (Vgl. Löper a. a. O. S. VII.) Dies ändert nicht ihre
Stelle in der strengen Kontinuität der Entwicklung. Denn wir müssen sehen,
wie Mephistopheles den Faust auf Reisen führt, müssen sehen, wie er ihn zu¬
nächst in lustige Gesellschaft bringt. Der Versuch ist entzückend für alle Leser,
aber nicht für Faust. Für eine oberflächliche Betäubung der Gedanken durch
die Sinne ist dieser Geist unzugänglich. Das überrascht uns nicht und wahr¬
scheinlich auch nicht den Mephistopheles. Nichtsdestoweniger mußte der Versuch
angestellt werden. Nachdem er gescheitert ist, greift Mephistopheles zu dem
stärksten Mittel, das ihm zu Gebote steht, um Faust in die irdische Beschränkt¬
heit zu fesseln und ihn durch das Zerbrechen dieser Fessel früher oder später
sich verwunden zu lassen: er zeigt ihm in dieser Beschränktheit die Unschuld
und den Adel der Menschenseele. Nun folgen in der ersten Faustgestalt zu¬
nächst die Gretchenszcnen, wie im jetzigen Faust bis zur ersten Gartenszene ein¬
schließlich. Die weitere Folge der Szenen aber ist wie im Fragment von 1790.
Also zunächst Gretchen am Spinnrad, dann die zweite Gartenszene mit dem
Gespräch über die Religion und mit der Überreichung des Schlaftrunks; dann
die Szene am Brunnen; dann die Szene in Wald und Höhle; dann die Szene
im Zwinger, dann die Szene im Dom; hierauf die beiden im Fragment fehlenden
Schlußszenen: die Szene "Trüber Tag. Feld" und dann die Kerkerszcne, mit
welcher die erste Faustgestalt schloß. Wir haben diese Szenen alle im jetzigen


Grc.OoWi IV 1883. 84
Die Entstehung des Faust.

eines der Dämonen angenommen, welche ins Verderben locken, er würde den
Weg der Erlösung durch seine eigne Ungeduld verlieren. Dem äußern Laut
nach schienen die Worte allerdings trefflich dem späteren Motiv zu entsprechen,
wonach Faust sich durch eine» Vertrag dem Teufel für einen gewissen Fall
übergeben hatte. Desto klaffender ist der innere Widerspruch. Mephistopheles
erwartet Fausts Untergang davon, daß dieser keine Erquickung findet, und vorher
hat er mit Faust eine Wette geschloffen, wonach Faust ihm nur um den Preis
verfällt, daß es den Künsten des Mephistopheles gelingt, Faust eine Erquickung
sei es zuzuführen, sei es vorzuspiegeln. Vorn ist Fausts Nichterquicktsein die
Bürgschaft seiner Rettung, am Schluß die Bürgschaft seines Verderbens.

Man kann nicht leugnen: die ganze Unterredung mit Mephistopheles, wie
sie nunmehr aus den Motiven des ersten Gedichts und aus der späteren Um¬
formung zusammengesetzt ist, bildet ein Chaos von Pleonasmen und Wider¬
sprüchen durch die Häufung von Motiven, die mit einander unverträg¬
lich sind. Der Dichter ist hier aus dem Widerstreben, das bereits wirksam
Gestaltete um der spätere» Motive willen in den Papierkorb zu werfen, in der
Sorglosigkeit der Redaktion soweit gegangen, wie an keiner andern Stelle des
Gedichts. Der Umstand, daß die Widersprüche bisher eigentlich noch garnicht
bemerkt worden sind, scheint ihn zu rechtfertigen.

Auf die Unterredung mit Mephistopheles folgte die Szene in Auerbachs
Keller. Möglicherweise ist diese Szene eines der zuletzt geschriebenen Stücke
der ersten Gestalt. (Vgl. Löper a. a. O. S. VII.) Dies ändert nicht ihre
Stelle in der strengen Kontinuität der Entwicklung. Denn wir müssen sehen,
wie Mephistopheles den Faust auf Reisen führt, müssen sehen, wie er ihn zu¬
nächst in lustige Gesellschaft bringt. Der Versuch ist entzückend für alle Leser,
aber nicht für Faust. Für eine oberflächliche Betäubung der Gedanken durch
die Sinne ist dieser Geist unzugänglich. Das überrascht uns nicht und wahr¬
scheinlich auch nicht den Mephistopheles. Nichtsdestoweniger mußte der Versuch
angestellt werden. Nachdem er gescheitert ist, greift Mephistopheles zu dem
stärksten Mittel, das ihm zu Gebote steht, um Faust in die irdische Beschränkt¬
heit zu fesseln und ihn durch das Zerbrechen dieser Fessel früher oder später
sich verwunden zu lassen: er zeigt ihm in dieser Beschränktheit die Unschuld
und den Adel der Menschenseele. Nun folgen in der ersten Faustgestalt zu¬
nächst die Gretchenszcnen, wie im jetzigen Faust bis zur ersten Gartenszene ein¬
schließlich. Die weitere Folge der Szenen aber ist wie im Fragment von 1790.
Also zunächst Gretchen am Spinnrad, dann die zweite Gartenszene mit dem
Gespräch über die Religion und mit der Überreichung des Schlaftrunks; dann
die Szene am Brunnen; dann die Szene in Wald und Höhle; dann die Szene
im Zwinger, dann die Szene im Dom; hierauf die beiden im Fragment fehlenden
Schlußszenen: die Szene „Trüber Tag. Feld" und dann die Kerkerszcne, mit
welcher die erste Faustgestalt schloß. Wir haben diese Szenen alle im jetzigen


Grc.OoWi IV 1883. 84
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0675" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154840"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Entstehung des Faust.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2010" prev="#ID_2009"> eines der Dämonen angenommen, welche ins Verderben locken, er würde den<lb/>
Weg der Erlösung durch seine eigne Ungeduld verlieren. Dem äußern Laut<lb/>
nach schienen die Worte allerdings trefflich dem späteren Motiv zu entsprechen,<lb/>
wonach Faust sich durch eine» Vertrag dem Teufel für einen gewissen Fall<lb/>
übergeben hatte. Desto klaffender ist der innere Widerspruch. Mephistopheles<lb/>
erwartet Fausts Untergang davon, daß dieser keine Erquickung findet, und vorher<lb/>
hat er mit Faust eine Wette geschloffen, wonach Faust ihm nur um den Preis<lb/>
verfällt, daß es den Künsten des Mephistopheles gelingt, Faust eine Erquickung<lb/>
sei es zuzuführen, sei es vorzuspiegeln. Vorn ist Fausts Nichterquicktsein die<lb/>
Bürgschaft seiner Rettung, am Schluß die Bürgschaft seines Verderbens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2011"> Man kann nicht leugnen: die ganze Unterredung mit Mephistopheles, wie<lb/>
sie nunmehr aus den Motiven des ersten Gedichts und aus der späteren Um¬<lb/>
formung zusammengesetzt ist, bildet ein Chaos von Pleonasmen und Wider¬<lb/>
sprüchen durch die Häufung von Motiven, die mit einander unverträg¬<lb/>
lich sind. Der Dichter ist hier aus dem Widerstreben, das bereits wirksam<lb/>
Gestaltete um der spätere» Motive willen in den Papierkorb zu werfen, in der<lb/>
Sorglosigkeit der Redaktion soweit gegangen, wie an keiner andern Stelle des<lb/>
Gedichts. Der Umstand, daß die Widersprüche bisher eigentlich noch garnicht<lb/>
bemerkt worden sind, scheint ihn zu rechtfertigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2012" next="#ID_2013"> Auf die Unterredung mit Mephistopheles folgte die Szene in Auerbachs<lb/>
Keller. Möglicherweise ist diese Szene eines der zuletzt geschriebenen Stücke<lb/>
der ersten Gestalt. (Vgl. Löper a. a. O. S. VII.) Dies ändert nicht ihre<lb/>
Stelle in der strengen Kontinuität der Entwicklung. Denn wir müssen sehen,<lb/>
wie Mephistopheles den Faust auf Reisen führt, müssen sehen, wie er ihn zu¬<lb/>
nächst in lustige Gesellschaft bringt. Der Versuch ist entzückend für alle Leser,<lb/>
aber nicht für Faust. Für eine oberflächliche Betäubung der Gedanken durch<lb/>
die Sinne ist dieser Geist unzugänglich. Das überrascht uns nicht und wahr¬<lb/>
scheinlich auch nicht den Mephistopheles. Nichtsdestoweniger mußte der Versuch<lb/>
angestellt werden. Nachdem er gescheitert ist, greift Mephistopheles zu dem<lb/>
stärksten Mittel, das ihm zu Gebote steht, um Faust in die irdische Beschränkt¬<lb/>
heit zu fesseln und ihn durch das Zerbrechen dieser Fessel früher oder später<lb/>
sich verwunden zu lassen: er zeigt ihm in dieser Beschränktheit die Unschuld<lb/>
und den Adel der Menschenseele. Nun folgen in der ersten Faustgestalt zu¬<lb/>
nächst die Gretchenszcnen, wie im jetzigen Faust bis zur ersten Gartenszene ein¬<lb/>
schließlich. Die weitere Folge der Szenen aber ist wie im Fragment von 1790.<lb/>
Also zunächst Gretchen am Spinnrad, dann die zweite Gartenszene mit dem<lb/>
Gespräch über die Religion und mit der Überreichung des Schlaftrunks; dann<lb/>
die Szene am Brunnen; dann die Szene in Wald und Höhle; dann die Szene<lb/>
im Zwinger, dann die Szene im Dom; hierauf die beiden im Fragment fehlenden<lb/>
Schlußszenen: die Szene &#x201E;Trüber Tag. Feld" und dann die Kerkerszcne, mit<lb/>
welcher die erste Faustgestalt schloß. Wir haben diese Szenen alle im jetzigen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grc.OoWi IV 1883. 84</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0675] Die Entstehung des Faust. eines der Dämonen angenommen, welche ins Verderben locken, er würde den Weg der Erlösung durch seine eigne Ungeduld verlieren. Dem äußern Laut nach schienen die Worte allerdings trefflich dem späteren Motiv zu entsprechen, wonach Faust sich durch eine» Vertrag dem Teufel für einen gewissen Fall übergeben hatte. Desto klaffender ist der innere Widerspruch. Mephistopheles erwartet Fausts Untergang davon, daß dieser keine Erquickung findet, und vorher hat er mit Faust eine Wette geschloffen, wonach Faust ihm nur um den Preis verfällt, daß es den Künsten des Mephistopheles gelingt, Faust eine Erquickung sei es zuzuführen, sei es vorzuspiegeln. Vorn ist Fausts Nichterquicktsein die Bürgschaft seiner Rettung, am Schluß die Bürgschaft seines Verderbens. Man kann nicht leugnen: die ganze Unterredung mit Mephistopheles, wie sie nunmehr aus den Motiven des ersten Gedichts und aus der späteren Um¬ formung zusammengesetzt ist, bildet ein Chaos von Pleonasmen und Wider¬ sprüchen durch die Häufung von Motiven, die mit einander unverträg¬ lich sind. Der Dichter ist hier aus dem Widerstreben, das bereits wirksam Gestaltete um der spätere» Motive willen in den Papierkorb zu werfen, in der Sorglosigkeit der Redaktion soweit gegangen, wie an keiner andern Stelle des Gedichts. Der Umstand, daß die Widersprüche bisher eigentlich noch garnicht bemerkt worden sind, scheint ihn zu rechtfertigen. Auf die Unterredung mit Mephistopheles folgte die Szene in Auerbachs Keller. Möglicherweise ist diese Szene eines der zuletzt geschriebenen Stücke der ersten Gestalt. (Vgl. Löper a. a. O. S. VII.) Dies ändert nicht ihre Stelle in der strengen Kontinuität der Entwicklung. Denn wir müssen sehen, wie Mephistopheles den Faust auf Reisen führt, müssen sehen, wie er ihn zu¬ nächst in lustige Gesellschaft bringt. Der Versuch ist entzückend für alle Leser, aber nicht für Faust. Für eine oberflächliche Betäubung der Gedanken durch die Sinne ist dieser Geist unzugänglich. Das überrascht uns nicht und wahr¬ scheinlich auch nicht den Mephistopheles. Nichtsdestoweniger mußte der Versuch angestellt werden. Nachdem er gescheitert ist, greift Mephistopheles zu dem stärksten Mittel, das ihm zu Gebote steht, um Faust in die irdische Beschränkt¬ heit zu fesseln und ihn durch das Zerbrechen dieser Fessel früher oder später sich verwunden zu lassen: er zeigt ihm in dieser Beschränktheit die Unschuld und den Adel der Menschenseele. Nun folgen in der ersten Faustgestalt zu¬ nächst die Gretchenszcnen, wie im jetzigen Faust bis zur ersten Gartenszene ein¬ schließlich. Die weitere Folge der Szenen aber ist wie im Fragment von 1790. Also zunächst Gretchen am Spinnrad, dann die zweite Gartenszene mit dem Gespräch über die Religion und mit der Überreichung des Schlaftrunks; dann die Szene am Brunnen; dann die Szene in Wald und Höhle; dann die Szene im Zwinger, dann die Szene im Dom; hierauf die beiden im Fragment fehlenden Schlußszenen: die Szene „Trüber Tag. Feld" und dann die Kerkerszcne, mit welcher die erste Faustgestalt schloß. Wir haben diese Szenen alle im jetzigen Grc.OoWi IV 1883. 84

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/675
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/675>, abgerufen am 28.07.2024.