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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Mit meinem Geist das Höchst- und Tiefste greifen.

Ferner: nachdem Faust seiner Verzweiflung den stärksten Ausdruck geliehen,
nachdem er gefragt hat: Was willst du armer Teufel geben? läßt er sich
später von Mephistopheles noch einmal belehren, daß es nicht möglich ist, der
Menschheit Krone zu erringen, und fühlt nun erst mit Wehmut, was er vorher
bereits mit wilder Verzweiflung durchlebte, daß er vergebens alle Schätze des
Menschengeistes herbeigerafft. Um aber den Widersprüchen die Krone aufzu¬
setzen, spricht Mephistopheles vor dem Eintritt des Schülers den bekannten
Monolog: "Verachte mir Vernunft und Wissenschaft" n. s. w.

Man vergegenwärtige sich die ursprüngliche Situation. Mephistopheles
kommt zu Faust, der noch ganz und gar nicht von seinem Urquell abgezogen ist,
um ihn erst in diesem hohen Streben irre zu machen. Er gewinnt ans Fausts
leidenschaftlichem Wesen die Hoffnung, daß dieser in seiner Ungeduld den einzigen
Weg der Erlösung von der Pein der Endlichkeit, den Weg der wissenschaftlichen
Kontemplation, obwohl er ihn begehrt, nicht finde" wird. In dieser Hoffnung
spricht er die Worte: "Verachte nur Vernunft und Wissenschaft" u. f. w. Der
Ausspruch in Mephistopheles' Munde: "Er wird Erquickung sich umsonst er¬
stehn" ist ganz undenkbar für denjenigen Mephistopheles, der angehört hat,
wie Faust diese Erquickung mit dem ganzen Pathos der Verzweiflung abweist.
Die Worte des Mephistopheles, worin dieser Ausspruch vorkommt, beziehen sich
auf einen Faust, der noch mit voller Inbrunst Erquickung sich erfleht, der sie
noch von dem Erdgeiste durch die Vermittlung des Mephistopheles erwartet.
Mephistopheles stellt sich daher die Aufgabe, Faust um diese Erquickung zu be¬
trügen. Der Betrug gelingt ihm nicht, und es ist ein andres Mittel, zu dem
er greifen muß, um Faust ins Verderben zu stürzen.

Man beachte die Worte:


O glaube mir, der manche tausend Jahre u, s, w.

Der Gott, von dem hier die Rede, ist der Erdgeist, der in der Zerstörung sich
als Schöpfer, im Schaffen sich als Zerstörer genießt und seinerseits im ewige"
Glänze der unerschöpflichen Kraft bleibt. Die Finsternis, in welche er die
Dämonen gebracht hat, ist nicht der höllische Strafort, sondern der Trieb und
die Illusion der völligen Zerstörung. Tag und Nacht, welche für den Menschen
taugen, zeichnen die Stellung des endlichen Geistes zwischen dem Sein, welches
er behaupten und erweitern möchte, und der Zerstörung, der er stückweise zum
Opfer fallen muß.

Wenn Mephistopheles seinen Monolog über Faust rin den Worten schließt:


Und hätt' er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
Er müßte doch zu Grunde gehen;

so war die ursprüngliche Bedeutung derselben: Hätte er auch "icht die Hilfe


Die Entstehung des Faust.

Mit meinem Geist das Höchst- und Tiefste greifen.

Ferner: nachdem Faust seiner Verzweiflung den stärksten Ausdruck geliehen,
nachdem er gefragt hat: Was willst du armer Teufel geben? läßt er sich
später von Mephistopheles noch einmal belehren, daß es nicht möglich ist, der
Menschheit Krone zu erringen, und fühlt nun erst mit Wehmut, was er vorher
bereits mit wilder Verzweiflung durchlebte, daß er vergebens alle Schätze des
Menschengeistes herbeigerafft. Um aber den Widersprüchen die Krone aufzu¬
setzen, spricht Mephistopheles vor dem Eintritt des Schülers den bekannten
Monolog: „Verachte mir Vernunft und Wissenschaft" n. s. w.

Man vergegenwärtige sich die ursprüngliche Situation. Mephistopheles
kommt zu Faust, der noch ganz und gar nicht von seinem Urquell abgezogen ist,
um ihn erst in diesem hohen Streben irre zu machen. Er gewinnt ans Fausts
leidenschaftlichem Wesen die Hoffnung, daß dieser in seiner Ungeduld den einzigen
Weg der Erlösung von der Pein der Endlichkeit, den Weg der wissenschaftlichen
Kontemplation, obwohl er ihn begehrt, nicht finde» wird. In dieser Hoffnung
spricht er die Worte: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft" u. f. w. Der
Ausspruch in Mephistopheles' Munde: „Er wird Erquickung sich umsonst er¬
stehn" ist ganz undenkbar für denjenigen Mephistopheles, der angehört hat,
wie Faust diese Erquickung mit dem ganzen Pathos der Verzweiflung abweist.
Die Worte des Mephistopheles, worin dieser Ausspruch vorkommt, beziehen sich
auf einen Faust, der noch mit voller Inbrunst Erquickung sich erfleht, der sie
noch von dem Erdgeiste durch die Vermittlung des Mephistopheles erwartet.
Mephistopheles stellt sich daher die Aufgabe, Faust um diese Erquickung zu be¬
trügen. Der Betrug gelingt ihm nicht, und es ist ein andres Mittel, zu dem
er greifen muß, um Faust ins Verderben zu stürzen.

Man beachte die Worte:


O glaube mir, der manche tausend Jahre u, s, w.

Der Gott, von dem hier die Rede, ist der Erdgeist, der in der Zerstörung sich
als Schöpfer, im Schaffen sich als Zerstörer genießt und seinerseits im ewige»
Glänze der unerschöpflichen Kraft bleibt. Die Finsternis, in welche er die
Dämonen gebracht hat, ist nicht der höllische Strafort, sondern der Trieb und
die Illusion der völligen Zerstörung. Tag und Nacht, welche für den Menschen
taugen, zeichnen die Stellung des endlichen Geistes zwischen dem Sein, welches
er behaupten und erweitern möchte, und der Zerstörung, der er stückweise zum
Opfer fallen muß.

Wenn Mephistopheles seinen Monolog über Faust rin den Worten schließt:


Und hätt' er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
Er müßte doch zu Grunde gehen;

so war die ursprüngliche Bedeutung derselben: Hätte er auch »icht die Hilfe


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[0674] Die Entstehung des Faust. Mit meinem Geist das Höchst- und Tiefste greifen. Ferner: nachdem Faust seiner Verzweiflung den stärksten Ausdruck geliehen, nachdem er gefragt hat: Was willst du armer Teufel geben? läßt er sich später von Mephistopheles noch einmal belehren, daß es nicht möglich ist, der Menschheit Krone zu erringen, und fühlt nun erst mit Wehmut, was er vorher bereits mit wilder Verzweiflung durchlebte, daß er vergebens alle Schätze des Menschengeistes herbeigerafft. Um aber den Widersprüchen die Krone aufzu¬ setzen, spricht Mephistopheles vor dem Eintritt des Schülers den bekannten Monolog: „Verachte mir Vernunft und Wissenschaft" n. s. w. Man vergegenwärtige sich die ursprüngliche Situation. Mephistopheles kommt zu Faust, der noch ganz und gar nicht von seinem Urquell abgezogen ist, um ihn erst in diesem hohen Streben irre zu machen. Er gewinnt ans Fausts leidenschaftlichem Wesen die Hoffnung, daß dieser in seiner Ungeduld den einzigen Weg der Erlösung von der Pein der Endlichkeit, den Weg der wissenschaftlichen Kontemplation, obwohl er ihn begehrt, nicht finde» wird. In dieser Hoffnung spricht er die Worte: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft" u. f. w. Der Ausspruch in Mephistopheles' Munde: „Er wird Erquickung sich umsonst er¬ stehn" ist ganz undenkbar für denjenigen Mephistopheles, der angehört hat, wie Faust diese Erquickung mit dem ganzen Pathos der Verzweiflung abweist. Die Worte des Mephistopheles, worin dieser Ausspruch vorkommt, beziehen sich auf einen Faust, der noch mit voller Inbrunst Erquickung sich erfleht, der sie noch von dem Erdgeiste durch die Vermittlung des Mephistopheles erwartet. Mephistopheles stellt sich daher die Aufgabe, Faust um diese Erquickung zu be¬ trügen. Der Betrug gelingt ihm nicht, und es ist ein andres Mittel, zu dem er greifen muß, um Faust ins Verderben zu stürzen. Man beachte die Worte: O glaube mir, der manche tausend Jahre u, s, w. Der Gott, von dem hier die Rede, ist der Erdgeist, der in der Zerstörung sich als Schöpfer, im Schaffen sich als Zerstörer genießt und seinerseits im ewige» Glänze der unerschöpflichen Kraft bleibt. Die Finsternis, in welche er die Dämonen gebracht hat, ist nicht der höllische Strafort, sondern der Trieb und die Illusion der völligen Zerstörung. Tag und Nacht, welche für den Menschen taugen, zeichnen die Stellung des endlichen Geistes zwischen dem Sein, welches er behaupten und erweitern möchte, und der Zerstörung, der er stückweise zum Opfer fallen muß. Wenn Mephistopheles seinen Monolog über Faust rin den Worten schließt: Und hätt' er sich auch nicht dem Teufel übergeben, Er müßte doch zu Grunde gehen; so war die ursprüngliche Bedeutung derselben: Hätte er auch »icht die Hilfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/674>, abgerufen am 28.07.2024.