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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Spaziergängern vor dem Eintritt in das Stadtthor trennte, beim Weggang
aber plötzlich die Gestalt des fahrenden Schülers annahm.

Hierauf ist in der ursprünglichen Gestalt diejenige Szene im Studirzimmer
gefolgt, welche wir jetzt als die dritte kennen, aber nur der Schluß derselben
und mit einem andern Eingang. Wir dürfen uns den Eingang folgendermaßen
vorstellen. Mephistopheles klopft und wird von Faust beim Eintritt als ein
Fremder behandelt. Er giebt sich als der fahrende Schüler vom Ostertag zu
erkennen, und jetzt ahnt Faust den Gesandten des Erdgeistes. Diesem beginnt
Faust seine Wünsche vorzutragen und die Dienste anzuzeigen, welche er erwartet.
Er schließt mit der Rede, mit welcher das Fragment von 1790 diese Szene
beginnen läßt, indem es vorher eine Lücke anzeigt, mit der Rede: "Und was
der ganzen Menschheit zugeteilt ist" bis "zerscheitern." Von da verlief die Szene
wie im Fragment und wie im jetzigen Faust mit der Episode des Schülers bis
zum Antritt der Fahrt.

Den Worten:


Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen

sind keinesfalls die jetzigen Reimzeilen vorausgegangen:


Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen.

Denn ich bitte meine Leser, sich scharf zu vergegenwärtigen, daß in der ersten
Gestalt des Gedichts Mephistopheles zu einem Faust kommt, der von seinen
Ansprüchen an das Wissen noch nicht das Geringste aufgegeben hat. Der Ver¬
lauf der Unterredung von den Worten an, mit welchen sie das Fragment be¬
ginnen läßt, wie er den unveränderten Schluß der jetzigen dritten Szene im
Studirzimmer bildet, zeigt dies auf das allerdeutlichste.

Hier stoßen wir nun freilich wiederum auf die doppelte Unbegreiflichkeit,
wie der Dichter den zu den später vorangestellten Motiven garnicht mehr
passenden Schluß unverändert aufnehmen konnte, und wie der Schaar der Faust¬
kritiker dieser Widerspruch, der wie eine schwere Kugel auf den Aufmerksamer
prallt, hat unbemerkt bleiben können. Man sehe sich doch nur die Worte an.
In der jetzigen Szene heißt es (V. 1393):


Vor mir verschließt sich die Natur,
Des Denkens Faden ist zerrissen,
Mir ekelt lange vor allem Wissen.
Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit
Uns glühnde Leidenschaften stillen,
In undurchdrungnen Zciuberhüllcu
Sei jedes Wunder gleich bereit;

und V. 1418 heißt es:


Die Entstehung des Faust.

Spaziergängern vor dem Eintritt in das Stadtthor trennte, beim Weggang
aber plötzlich die Gestalt des fahrenden Schülers annahm.

Hierauf ist in der ursprünglichen Gestalt diejenige Szene im Studirzimmer
gefolgt, welche wir jetzt als die dritte kennen, aber nur der Schluß derselben
und mit einem andern Eingang. Wir dürfen uns den Eingang folgendermaßen
vorstellen. Mephistopheles klopft und wird von Faust beim Eintritt als ein
Fremder behandelt. Er giebt sich als der fahrende Schüler vom Ostertag zu
erkennen, und jetzt ahnt Faust den Gesandten des Erdgeistes. Diesem beginnt
Faust seine Wünsche vorzutragen und die Dienste anzuzeigen, welche er erwartet.
Er schließt mit der Rede, mit welcher das Fragment von 1790 diese Szene
beginnen läßt, indem es vorher eine Lücke anzeigt, mit der Rede: „Und was
der ganzen Menschheit zugeteilt ist" bis „zerscheitern." Von da verlief die Szene
wie im Fragment und wie im jetzigen Faust mit der Episode des Schülers bis
zum Antritt der Fahrt.

Den Worten:


Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen

sind keinesfalls die jetzigen Reimzeilen vorausgegangen:


Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen.

Denn ich bitte meine Leser, sich scharf zu vergegenwärtigen, daß in der ersten
Gestalt des Gedichts Mephistopheles zu einem Faust kommt, der von seinen
Ansprüchen an das Wissen noch nicht das Geringste aufgegeben hat. Der Ver¬
lauf der Unterredung von den Worten an, mit welchen sie das Fragment be¬
ginnen läßt, wie er den unveränderten Schluß der jetzigen dritten Szene im
Studirzimmer bildet, zeigt dies auf das allerdeutlichste.

Hier stoßen wir nun freilich wiederum auf die doppelte Unbegreiflichkeit,
wie der Dichter den zu den später vorangestellten Motiven garnicht mehr
passenden Schluß unverändert aufnehmen konnte, und wie der Schaar der Faust¬
kritiker dieser Widerspruch, der wie eine schwere Kugel auf den Aufmerksamer
prallt, hat unbemerkt bleiben können. Man sehe sich doch nur die Worte an.
In der jetzigen Szene heißt es (V. 1393):


Vor mir verschließt sich die Natur,
Des Denkens Faden ist zerrissen,
Mir ekelt lange vor allem Wissen.
Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit
Uns glühnde Leidenschaften stillen,
In undurchdrungnen Zciuberhüllcu
Sei jedes Wunder gleich bereit;

und V. 1418 heißt es:


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[0673] Die Entstehung des Faust. Spaziergängern vor dem Eintritt in das Stadtthor trennte, beim Weggang aber plötzlich die Gestalt des fahrenden Schülers annahm. Hierauf ist in der ursprünglichen Gestalt diejenige Szene im Studirzimmer gefolgt, welche wir jetzt als die dritte kennen, aber nur der Schluß derselben und mit einem andern Eingang. Wir dürfen uns den Eingang folgendermaßen vorstellen. Mephistopheles klopft und wird von Faust beim Eintritt als ein Fremder behandelt. Er giebt sich als der fahrende Schüler vom Ostertag zu erkennen, und jetzt ahnt Faust den Gesandten des Erdgeistes. Diesem beginnt Faust seine Wünsche vorzutragen und die Dienste anzuzeigen, welche er erwartet. Er schließt mit der Rede, mit welcher das Fragment von 1790 diese Szene beginnen läßt, indem es vorher eine Lücke anzeigt, mit der Rede: „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist" bis „zerscheitern." Von da verlief die Szene wie im Fragment und wie im jetzigen Faust mit der Episode des Schülers bis zum Antritt der Fahrt. Den Worten: Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst genießen sind keinesfalls die jetzigen Reimzeilen vorausgegangen: Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen. Denn ich bitte meine Leser, sich scharf zu vergegenwärtigen, daß in der ersten Gestalt des Gedichts Mephistopheles zu einem Faust kommt, der von seinen Ansprüchen an das Wissen noch nicht das Geringste aufgegeben hat. Der Ver¬ lauf der Unterredung von den Worten an, mit welchen sie das Fragment be¬ ginnen läßt, wie er den unveränderten Schluß der jetzigen dritten Szene im Studirzimmer bildet, zeigt dies auf das allerdeutlichste. Hier stoßen wir nun freilich wiederum auf die doppelte Unbegreiflichkeit, wie der Dichter den zu den später vorangestellten Motiven garnicht mehr passenden Schluß unverändert aufnehmen konnte, und wie der Schaar der Faust¬ kritiker dieser Widerspruch, der wie eine schwere Kugel auf den Aufmerksamer prallt, hat unbemerkt bleiben können. Man sehe sich doch nur die Worte an. In der jetzigen Szene heißt es (V. 1393): Vor mir verschließt sich die Natur, Des Denkens Faden ist zerrissen, Mir ekelt lange vor allem Wissen. Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit Uns glühnde Leidenschaften stillen, In undurchdrungnen Zciuberhüllcu Sei jedes Wunder gleich bereit; und V. 1418 heißt es:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/673>, abgerufen am 28.07.2024.