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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Politische Wetterfahnen,

Als (Zirousttss, im Jahre 1815 in Paris erschienen. Das Datum läßt sich
sogar ziemlich genau bestimmen: nach Waterloo und vor der Gefangennahme des
Marschall Ney. Auf 491 Seiten giebt es die mehr oder weniger ausführliche
Geschichte von wohl einigen tausend damals lebenden Franzosen, welche in dem
abgelaufenen Vierteljahrhundert sich auf irgend einem Gebiete bemerklich gemacht
und mit Grazie den Weg aus einem Lager in das andre wiederholt zurückge¬
legt hatten. Von vielen kennt heute schwerlich noch jemand den Namen; der
Verfasser schont in seinem Grimme keinen von den armseligen Dichterlingen, die
mit ihrer Leier immer bereit standen und ihre gereimten Bettelbriefe jedem
Machthaber ohne Ansehen seines Rechtstitels demütig überreichten, und keinen
Beamten, dem seine Stelle teurer war als seine Überzeugung; er muß schon
lauge Zeit vorher das Material für seine Anklageschrift gesammelt haben, denn
eingedenk des zweiten Titels des Buches: Ms OontöinxorÄms psints et'M'of
"zuxmßinö", läßt er die meisten mit ihren eignen Worten sich beschuldigen, und
dazu braucht er alte Zeitungen, verschollene Flugblätter, Kuplcts und dergleichen
Aktenstücke mehr, die oft bereits am Tage nach ihrem Auftauchen nicht mehr
zu beschaffen sind. Allein wir begegnen unter dksem Schwärme von "Wetter--
fahren" natürlich auch zahlreichen geschichtlichen Personen, wir finden den Wort¬
laut so manches Glaubensbekenntnisses, welches nicht in Vergessenheit zu geraten
verdient. Und so glauben wir unsre Leser zu einem Gange durch die ehren¬
werte Versammlung einladen zu dürfen, deren Mitglieder je nach Verdienst ein,
zwei bis zwölf Fähnchen als Auszeichnung erhalten haben.

Unter A wird einem Herrn Amabert nachgerechnet, daß er vor der Revo¬
lution Genieoffizier, unter Napoleon Generalsekretär im Finanzministerium, unter
Ludwig XVIII. Generaldirektor der Lotterie, während der hundert Tage wieder
Generalsekretär im Ministerium und nach der Rückkehr des Königs wieder
Lottcriedirektor gewesen ist. Wir nehmen ihn lediglich als Repräsentanten einer
großen Gruppe auf, über welche zuletzt ein Wort zu sagen sein wird.

Einer andern Kategorie gehört der Marschall Augereau an. Nachdem er
unter Napoleon die höchsten Würden erlangt hatte, erklärte er sich im April
1814 für die Wiederherstellung der bourbonischen Dynastie; die vom 16. jenes
Monats datirte Proklamation an seine Truppen teilt diesen mit, daß "der
Senat, der Dolmetsch des Volkswillens, müde des tyrannischen Joches Napoleon
Bonapartes," diesen und seine Familie entsetzt habe. "Eine neue monarchische
Verfassung, stark und freisinnig, und ein Abkömmling unsrer alten Könige werden
an die Stelle Bonapartes und seines Despotismus treten. . . . Soldaten, ihr
seid eures Schwures entbunden; ihr seid es durch die Nation, in welcher die
Souveränität lebt; ihr seid es ferner, wenn das notwendig ist, durch die Ent¬
sagung eines Menschen, der, nachdem Millionen von Opfern seines grau¬
samen Ehrgeizes hingeschlachtet worden, nicht verstanden hat, als Soldat zu
sterben____ Pflanzen wir die wahre französische Farbe auf, vor welcher jedes


Politische Wetterfahnen,

Als (Zirousttss, im Jahre 1815 in Paris erschienen. Das Datum läßt sich
sogar ziemlich genau bestimmen: nach Waterloo und vor der Gefangennahme des
Marschall Ney. Auf 491 Seiten giebt es die mehr oder weniger ausführliche
Geschichte von wohl einigen tausend damals lebenden Franzosen, welche in dem
abgelaufenen Vierteljahrhundert sich auf irgend einem Gebiete bemerklich gemacht
und mit Grazie den Weg aus einem Lager in das andre wiederholt zurückge¬
legt hatten. Von vielen kennt heute schwerlich noch jemand den Namen; der
Verfasser schont in seinem Grimme keinen von den armseligen Dichterlingen, die
mit ihrer Leier immer bereit standen und ihre gereimten Bettelbriefe jedem
Machthaber ohne Ansehen seines Rechtstitels demütig überreichten, und keinen
Beamten, dem seine Stelle teurer war als seine Überzeugung; er muß schon
lauge Zeit vorher das Material für seine Anklageschrift gesammelt haben, denn
eingedenk des zweiten Titels des Buches: Ms OontöinxorÄms psints et'M'of
«zuxmßinö«, läßt er die meisten mit ihren eignen Worten sich beschuldigen, und
dazu braucht er alte Zeitungen, verschollene Flugblätter, Kuplcts und dergleichen
Aktenstücke mehr, die oft bereits am Tage nach ihrem Auftauchen nicht mehr
zu beschaffen sind. Allein wir begegnen unter dksem Schwärme von „Wetter--
fahren" natürlich auch zahlreichen geschichtlichen Personen, wir finden den Wort¬
laut so manches Glaubensbekenntnisses, welches nicht in Vergessenheit zu geraten
verdient. Und so glauben wir unsre Leser zu einem Gange durch die ehren¬
werte Versammlung einladen zu dürfen, deren Mitglieder je nach Verdienst ein,
zwei bis zwölf Fähnchen als Auszeichnung erhalten haben.

Unter A wird einem Herrn Amabert nachgerechnet, daß er vor der Revo¬
lution Genieoffizier, unter Napoleon Generalsekretär im Finanzministerium, unter
Ludwig XVIII. Generaldirektor der Lotterie, während der hundert Tage wieder
Generalsekretär im Ministerium und nach der Rückkehr des Königs wieder
Lottcriedirektor gewesen ist. Wir nehmen ihn lediglich als Repräsentanten einer
großen Gruppe auf, über welche zuletzt ein Wort zu sagen sein wird.

Einer andern Kategorie gehört der Marschall Augereau an. Nachdem er
unter Napoleon die höchsten Würden erlangt hatte, erklärte er sich im April
1814 für die Wiederherstellung der bourbonischen Dynastie; die vom 16. jenes
Monats datirte Proklamation an seine Truppen teilt diesen mit, daß „der
Senat, der Dolmetsch des Volkswillens, müde des tyrannischen Joches Napoleon
Bonapartes," diesen und seine Familie entsetzt habe. „Eine neue monarchische
Verfassung, stark und freisinnig, und ein Abkömmling unsrer alten Könige werden
an die Stelle Bonapartes und seines Despotismus treten. . . . Soldaten, ihr
seid eures Schwures entbunden; ihr seid es durch die Nation, in welcher die
Souveränität lebt; ihr seid es ferner, wenn das notwendig ist, durch die Ent¬
sagung eines Menschen, der, nachdem Millionen von Opfern seines grau¬
samen Ehrgeizes hingeschlachtet worden, nicht verstanden hat, als Soldat zu
sterben____ Pflanzen wir die wahre französische Farbe auf, vor welcher jedes


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[0661] Politische Wetterfahnen, Als (Zirousttss, im Jahre 1815 in Paris erschienen. Das Datum läßt sich sogar ziemlich genau bestimmen: nach Waterloo und vor der Gefangennahme des Marschall Ney. Auf 491 Seiten giebt es die mehr oder weniger ausführliche Geschichte von wohl einigen tausend damals lebenden Franzosen, welche in dem abgelaufenen Vierteljahrhundert sich auf irgend einem Gebiete bemerklich gemacht und mit Grazie den Weg aus einem Lager in das andre wiederholt zurückge¬ legt hatten. Von vielen kennt heute schwerlich noch jemand den Namen; der Verfasser schont in seinem Grimme keinen von den armseligen Dichterlingen, die mit ihrer Leier immer bereit standen und ihre gereimten Bettelbriefe jedem Machthaber ohne Ansehen seines Rechtstitels demütig überreichten, und keinen Beamten, dem seine Stelle teurer war als seine Überzeugung; er muß schon lauge Zeit vorher das Material für seine Anklageschrift gesammelt haben, denn eingedenk des zweiten Titels des Buches: Ms OontöinxorÄms psints et'M'of «zuxmßinö«, läßt er die meisten mit ihren eignen Worten sich beschuldigen, und dazu braucht er alte Zeitungen, verschollene Flugblätter, Kuplcts und dergleichen Aktenstücke mehr, die oft bereits am Tage nach ihrem Auftauchen nicht mehr zu beschaffen sind. Allein wir begegnen unter dksem Schwärme von „Wetter-- fahren" natürlich auch zahlreichen geschichtlichen Personen, wir finden den Wort¬ laut so manches Glaubensbekenntnisses, welches nicht in Vergessenheit zu geraten verdient. Und so glauben wir unsre Leser zu einem Gange durch die ehren¬ werte Versammlung einladen zu dürfen, deren Mitglieder je nach Verdienst ein, zwei bis zwölf Fähnchen als Auszeichnung erhalten haben. Unter A wird einem Herrn Amabert nachgerechnet, daß er vor der Revo¬ lution Genieoffizier, unter Napoleon Generalsekretär im Finanzministerium, unter Ludwig XVIII. Generaldirektor der Lotterie, während der hundert Tage wieder Generalsekretär im Ministerium und nach der Rückkehr des Königs wieder Lottcriedirektor gewesen ist. Wir nehmen ihn lediglich als Repräsentanten einer großen Gruppe auf, über welche zuletzt ein Wort zu sagen sein wird. Einer andern Kategorie gehört der Marschall Augereau an. Nachdem er unter Napoleon die höchsten Würden erlangt hatte, erklärte er sich im April 1814 für die Wiederherstellung der bourbonischen Dynastie; die vom 16. jenes Monats datirte Proklamation an seine Truppen teilt diesen mit, daß „der Senat, der Dolmetsch des Volkswillens, müde des tyrannischen Joches Napoleon Bonapartes," diesen und seine Familie entsetzt habe. „Eine neue monarchische Verfassung, stark und freisinnig, und ein Abkömmling unsrer alten Könige werden an die Stelle Bonapartes und seines Despotismus treten. . . . Soldaten, ihr seid eures Schwures entbunden; ihr seid es durch die Nation, in welcher die Souveränität lebt; ihr seid es ferner, wenn das notwendig ist, durch die Ent¬ sagung eines Menschen, der, nachdem Millionen von Opfern seines grau¬ samen Ehrgeizes hingeschlachtet worden, nicht verstanden hat, als Soldat zu sterben____ Pflanzen wir die wahre französische Farbe auf, vor welcher jedes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/661>, abgerufen am 01.09.2024.