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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der neue Merlin.

an der andern Seite der Kirche antreten wollte. Und dann besann sie sich und
schritt doch an mir vorüber, und obschon Platz genug in dem Gange war, trat
ich ehrerbietig vor ihr zurück, ihre dunkeln Augen ruhten einen Augenblick
forschend auf mir und verboten mir die Stelle, an der ich stand, zu verlassen;
ich hatte nicht gewagt, ihr zu folgen, auch wenn ihr Blick nicht so gebieterisch
gewesen wäre, Sie haben das Bild Gabriellas gesehen, Signor Fedcrigo, und
trotz der Maskentracht, die von einem großen Feste stammt, wohl erkannt,
welche Milde und Güte aus den schönen Augen und Zügen spricht -- ach eine
Güte, viel zu reich, viel zu verschwenderisch für diesen armseligen Planeten, von
dem ich, trotz allem, was die Weltweisen sagen, noch immer glauben muß, daß
er aus dem Himmel gefallen sei! Ich blieb in San Giorgio zurück, beschaute
noch einmal die Helme auf Angelo Constantinis Grabmal und ging davon, als
ob ich etwas Großes erlebt hätte, während ich doch nur eine liebliche junge
Frau gesehen hatte. Ich strich in einer seltsamen Fassung durch die Gassen
Venedigs und trat in viele Kirchen in der thörichten Meinung ein, daß die
schöne Andächtige an andern Altären die Gebete fortsetzen könnte, die ich ihr
wider Willen gestört hatte. Am Abend gedieh ich seufzend zu dem Entschlüsse,
nächsten Tages die Stadt zu verlassen, weshalb ich in aller Morgenfrühe
von meinem steinernen Ahnherrn in Giorgio dei Schiavone notwendig Abschied
nehmen mußte. Ich brauchte lange, lange, ehe mir die Stimmung kam, den
letzten Blick auf das Grabmal zu werfen. Und ich zögerte damit wirklich
-- was doch meine geheimste Hoffnung war -- die Stunde heran, in der Signora
Gabriclla hier zu beten pflegte. Wie sie heute eintrat, schien sie kaum über¬
rascht, mich hier zu finden, aber sie gönnte mir weder ein Lächeln noch eine
strenge Miene, nur an einem Stirnfältchcn konnte ich wahrnehmen, daß sie in
mir einen der Lassen sah, welche die Schleppträger jeder Schönheit sind und jede
zufällige Begegnung als die offene Pforte zu einem Abenteuer betrachten. Mir
aber war seltsam zu Mute, ich fühlte sehr gut, wie recht die schöne junge Dame
habe, mir volle Geringschätzung angedeihen zu lassen, und ich beschloß ganz fest,
daß heute, oder besser morgen, die Thorheit, ihren Spuren zu folgen, ein Ende
haben müsse -- und doch war mirs zugleich, als stünde ich unter einem geheimen
Bann und würde mit jedem Augenblick unfähiger, meine Augen und meine Ge¬
danken auf etwas andres zu richten als auf die schöne Betende dort. Ich wich
und wankte sonach nicht von meinem Pfeiler in der Kirche, schaute unverwandt
auf das andächtig gebeugte schöne Haupt und fühlte bis zum Schmerz, wie
Traumbilder durch mein Hirn zogen, jeden Augenblick von der Erinnerung an
die Wirklichkeit zerstört wurden und im nächsten Augenblick neu auflebten. Ich
sehe Gabriella noch, wie sie sich erhob und in wahrhaft königlicher Anmut vor¬
beischwebte, und sah auch, als ich mich vor ihr demütig wie ein armer Sünder
und doch mit glückseligen Antlitz neigte, daß sie ganz nahe bei mir vorüber¬
schritt. Doch weil sie unverwandt vor sich hinblickte und nur die Sonnenstrahlen


Grenzboten IV. 1883. 80
Der neue Merlin.

an der andern Seite der Kirche antreten wollte. Und dann besann sie sich und
schritt doch an mir vorüber, und obschon Platz genug in dem Gange war, trat
ich ehrerbietig vor ihr zurück, ihre dunkeln Augen ruhten einen Augenblick
forschend auf mir und verboten mir die Stelle, an der ich stand, zu verlassen;
ich hatte nicht gewagt, ihr zu folgen, auch wenn ihr Blick nicht so gebieterisch
gewesen wäre, Sie haben das Bild Gabriellas gesehen, Signor Fedcrigo, und
trotz der Maskentracht, die von einem großen Feste stammt, wohl erkannt,
welche Milde und Güte aus den schönen Augen und Zügen spricht — ach eine
Güte, viel zu reich, viel zu verschwenderisch für diesen armseligen Planeten, von
dem ich, trotz allem, was die Weltweisen sagen, noch immer glauben muß, daß
er aus dem Himmel gefallen sei! Ich blieb in San Giorgio zurück, beschaute
noch einmal die Helme auf Angelo Constantinis Grabmal und ging davon, als
ob ich etwas Großes erlebt hätte, während ich doch nur eine liebliche junge
Frau gesehen hatte. Ich strich in einer seltsamen Fassung durch die Gassen
Venedigs und trat in viele Kirchen in der thörichten Meinung ein, daß die
schöne Andächtige an andern Altären die Gebete fortsetzen könnte, die ich ihr
wider Willen gestört hatte. Am Abend gedieh ich seufzend zu dem Entschlüsse,
nächsten Tages die Stadt zu verlassen, weshalb ich in aller Morgenfrühe
von meinem steinernen Ahnherrn in Giorgio dei Schiavone notwendig Abschied
nehmen mußte. Ich brauchte lange, lange, ehe mir die Stimmung kam, den
letzten Blick auf das Grabmal zu werfen. Und ich zögerte damit wirklich
— was doch meine geheimste Hoffnung war — die Stunde heran, in der Signora
Gabriclla hier zu beten pflegte. Wie sie heute eintrat, schien sie kaum über¬
rascht, mich hier zu finden, aber sie gönnte mir weder ein Lächeln noch eine
strenge Miene, nur an einem Stirnfältchcn konnte ich wahrnehmen, daß sie in
mir einen der Lassen sah, welche die Schleppträger jeder Schönheit sind und jede
zufällige Begegnung als die offene Pforte zu einem Abenteuer betrachten. Mir
aber war seltsam zu Mute, ich fühlte sehr gut, wie recht die schöne junge Dame
habe, mir volle Geringschätzung angedeihen zu lassen, und ich beschloß ganz fest,
daß heute, oder besser morgen, die Thorheit, ihren Spuren zu folgen, ein Ende
haben müsse — und doch war mirs zugleich, als stünde ich unter einem geheimen
Bann und würde mit jedem Augenblick unfähiger, meine Augen und meine Ge¬
danken auf etwas andres zu richten als auf die schöne Betende dort. Ich wich
und wankte sonach nicht von meinem Pfeiler in der Kirche, schaute unverwandt
auf das andächtig gebeugte schöne Haupt und fühlte bis zum Schmerz, wie
Traumbilder durch mein Hirn zogen, jeden Augenblick von der Erinnerung an
die Wirklichkeit zerstört wurden und im nächsten Augenblick neu auflebten. Ich
sehe Gabriella noch, wie sie sich erhob und in wahrhaft königlicher Anmut vor¬
beischwebte, und sah auch, als ich mich vor ihr demütig wie ein armer Sünder
und doch mit glückseligen Antlitz neigte, daß sie ganz nahe bei mir vorüber¬
schritt. Doch weil sie unverwandt vor sich hinblickte und nur die Sonnenstrahlen


Grenzboten IV. 1883. 80
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[0643] Der neue Merlin. an der andern Seite der Kirche antreten wollte. Und dann besann sie sich und schritt doch an mir vorüber, und obschon Platz genug in dem Gange war, trat ich ehrerbietig vor ihr zurück, ihre dunkeln Augen ruhten einen Augenblick forschend auf mir und verboten mir die Stelle, an der ich stand, zu verlassen; ich hatte nicht gewagt, ihr zu folgen, auch wenn ihr Blick nicht so gebieterisch gewesen wäre, Sie haben das Bild Gabriellas gesehen, Signor Fedcrigo, und trotz der Maskentracht, die von einem großen Feste stammt, wohl erkannt, welche Milde und Güte aus den schönen Augen und Zügen spricht — ach eine Güte, viel zu reich, viel zu verschwenderisch für diesen armseligen Planeten, von dem ich, trotz allem, was die Weltweisen sagen, noch immer glauben muß, daß er aus dem Himmel gefallen sei! Ich blieb in San Giorgio zurück, beschaute noch einmal die Helme auf Angelo Constantinis Grabmal und ging davon, als ob ich etwas Großes erlebt hätte, während ich doch nur eine liebliche junge Frau gesehen hatte. Ich strich in einer seltsamen Fassung durch die Gassen Venedigs und trat in viele Kirchen in der thörichten Meinung ein, daß die schöne Andächtige an andern Altären die Gebete fortsetzen könnte, die ich ihr wider Willen gestört hatte. Am Abend gedieh ich seufzend zu dem Entschlüsse, nächsten Tages die Stadt zu verlassen, weshalb ich in aller Morgenfrühe von meinem steinernen Ahnherrn in Giorgio dei Schiavone notwendig Abschied nehmen mußte. Ich brauchte lange, lange, ehe mir die Stimmung kam, den letzten Blick auf das Grabmal zu werfen. Und ich zögerte damit wirklich — was doch meine geheimste Hoffnung war — die Stunde heran, in der Signora Gabriclla hier zu beten pflegte. Wie sie heute eintrat, schien sie kaum über¬ rascht, mich hier zu finden, aber sie gönnte mir weder ein Lächeln noch eine strenge Miene, nur an einem Stirnfältchcn konnte ich wahrnehmen, daß sie in mir einen der Lassen sah, welche die Schleppträger jeder Schönheit sind und jede zufällige Begegnung als die offene Pforte zu einem Abenteuer betrachten. Mir aber war seltsam zu Mute, ich fühlte sehr gut, wie recht die schöne junge Dame habe, mir volle Geringschätzung angedeihen zu lassen, und ich beschloß ganz fest, daß heute, oder besser morgen, die Thorheit, ihren Spuren zu folgen, ein Ende haben müsse — und doch war mirs zugleich, als stünde ich unter einem geheimen Bann und würde mit jedem Augenblick unfähiger, meine Augen und meine Ge¬ danken auf etwas andres zu richten als auf die schöne Betende dort. Ich wich und wankte sonach nicht von meinem Pfeiler in der Kirche, schaute unverwandt auf das andächtig gebeugte schöne Haupt und fühlte bis zum Schmerz, wie Traumbilder durch mein Hirn zogen, jeden Augenblick von der Erinnerung an die Wirklichkeit zerstört wurden und im nächsten Augenblick neu auflebten. Ich sehe Gabriella noch, wie sie sich erhob und in wahrhaft königlicher Anmut vor¬ beischwebte, und sah auch, als ich mich vor ihr demütig wie ein armer Sünder und doch mit glückseligen Antlitz neigte, daß sie ganz nahe bei mir vorüber¬ schritt. Doch weil sie unverwandt vor sich hinblickte und nur die Sonnenstrahlen Grenzboten IV. 1883. 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/643>, abgerufen am 28.07.2024.