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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Das diesjährige Prachtwerk.

Nun giebt es freilich bei Heine wie in aller Lyrik verhältnismäßig wenig
rein lyrische Erzeugnisse. Viele Gedichte in Heines "Buch der Lieder" sind gar
keine Lieder, überhaupt keine lyrischen, sondern epische, rein epische Gedichte,
andre enthalten Schilderungen, Beschreibungen von wirklichen oder bloß gedachten,
vorgestellten, ersehnten, erträumten, in der Erinnerung wachgerufenen Vorgängen,
Szenen und Situationen, noch andre -- und dies sind wohl die meisten --
sind gemischt aus alledem. Diese lassen sich "illustriren" -- wenn anders die
betreffenden Szenen sich sonst zur Darstellung eignen.

Betrachten wir daraufhin die zwölf großen Bilder der Ausgabe, also
diejenigen, die dem Künstler selbst gewiß als die zur Ausführung geeignetsten
erschienen sind, so sehen wir, daß nur sieben davon wirklich darstellbare Vor¬
gänge zeigen: das dritte, "Die Grenadiere," das vierte, "Belsazer," das achte,
das Bild des unglücklichen Pfarrerhauses, das neunte, "Mein Kind, wir waren
Kinder," das zehnte, die badende Elfe, das elfte, "Die Wallfahrt nach Kevlaar,"
und das zwölfte, "Berg-Idylle." In welcher Verlegenheit muß Thumann ge¬
wesen sein, wenn das schließlich die Gedichte waren, an denen seine Phantasie
Hunger blieb! Was ist auf diesen Bildern zu sehen? Kann man sich etwas
oberes denken als diese beiden flennenden Grenadiere, etwas nichtigeres als
dieses Pletschbildchen: zwei Kinder im Hofe, die mit einer Katze spielen, etwas
gewöhnlicheres als dieses plaudernde Liebespärchen in der Berghütte? Illustra¬
tionen müssen reden, müssen erzählen, so deutlich wie die Gedichte selbst. Was
aber erzählen diese Bilder? Eine Darstellung wie die zuletzt erwähnte könnte
zu Dutzenden von Gedichten als Wandercliche verwendet werden. Nun aber
die andern fünf -- was stellen sie dar? Nummer eins zeigt ein Mädchen in
idealen: Kostüm im Walde stehend und mit geschwungener Axt Späne aus einem
Baumstamm schlagend. Was ist das? Eine Illustration zu den "Traumbildern,"
in welchen der Dichter erzählt, wie ihm von einer schönen Maid geträumt
habe, die ihm erst am Brunnen sein Totenkleid gewaschen, dann im Walde
seinen Sarg gezimmert, endlich auf der Haide sein Grab geschaufelt habe. Das
erste und zweite dieser Traumbilder hat der Dichter selbst mit den Worten
geendet:


Und als sie dies gesprochen kaun?,
Zerflvß das ganze Bild wie Schaum,

Thumann aber rückt dieses wie Schaum zerfließende Bild, das nur in Gedanken
und Worten überhaupt möglich und erträglich ist, sinnlich vor unsre Augen,
und die Verlagshandlung hält dies für eine solche künstlerische That, daß sie
gerade dieses Bild in Holzschnitt hat vervielfältigen und auf ihre Reklamepro¬
spekte drucken lassen! Weiter -- Nummer zwei. Auf einer Leiter, die an eine
Mauer gelehnt ist, steht ein junger Mann in altdeutscher Tracht, unten an der
Leiter mehrere Bewaffnete, von denen der eine den obenstehenden an seinein


Das diesjährige Prachtwerk.

Nun giebt es freilich bei Heine wie in aller Lyrik verhältnismäßig wenig
rein lyrische Erzeugnisse. Viele Gedichte in Heines „Buch der Lieder" sind gar
keine Lieder, überhaupt keine lyrischen, sondern epische, rein epische Gedichte,
andre enthalten Schilderungen, Beschreibungen von wirklichen oder bloß gedachten,
vorgestellten, ersehnten, erträumten, in der Erinnerung wachgerufenen Vorgängen,
Szenen und Situationen, noch andre — und dies sind wohl die meisten —
sind gemischt aus alledem. Diese lassen sich „illustriren" — wenn anders die
betreffenden Szenen sich sonst zur Darstellung eignen.

Betrachten wir daraufhin die zwölf großen Bilder der Ausgabe, also
diejenigen, die dem Künstler selbst gewiß als die zur Ausführung geeignetsten
erschienen sind, so sehen wir, daß nur sieben davon wirklich darstellbare Vor¬
gänge zeigen: das dritte, „Die Grenadiere," das vierte, „Belsazer," das achte,
das Bild des unglücklichen Pfarrerhauses, das neunte, „Mein Kind, wir waren
Kinder," das zehnte, die badende Elfe, das elfte, „Die Wallfahrt nach Kevlaar,"
und das zwölfte, „Berg-Idylle." In welcher Verlegenheit muß Thumann ge¬
wesen sein, wenn das schließlich die Gedichte waren, an denen seine Phantasie
Hunger blieb! Was ist auf diesen Bildern zu sehen? Kann man sich etwas
oberes denken als diese beiden flennenden Grenadiere, etwas nichtigeres als
dieses Pletschbildchen: zwei Kinder im Hofe, die mit einer Katze spielen, etwas
gewöhnlicheres als dieses plaudernde Liebespärchen in der Berghütte? Illustra¬
tionen müssen reden, müssen erzählen, so deutlich wie die Gedichte selbst. Was
aber erzählen diese Bilder? Eine Darstellung wie die zuletzt erwähnte könnte
zu Dutzenden von Gedichten als Wandercliche verwendet werden. Nun aber
die andern fünf — was stellen sie dar? Nummer eins zeigt ein Mädchen in
idealen: Kostüm im Walde stehend und mit geschwungener Axt Späne aus einem
Baumstamm schlagend. Was ist das? Eine Illustration zu den „Traumbildern,"
in welchen der Dichter erzählt, wie ihm von einer schönen Maid geträumt
habe, die ihm erst am Brunnen sein Totenkleid gewaschen, dann im Walde
seinen Sarg gezimmert, endlich auf der Haide sein Grab geschaufelt habe. Das
erste und zweite dieser Traumbilder hat der Dichter selbst mit den Worten
geendet:


Und als sie dies gesprochen kaun?,
Zerflvß das ganze Bild wie Schaum,

Thumann aber rückt dieses wie Schaum zerfließende Bild, das nur in Gedanken
und Worten überhaupt möglich und erträglich ist, sinnlich vor unsre Augen,
und die Verlagshandlung hält dies für eine solche künstlerische That, daß sie
gerade dieses Bild in Holzschnitt hat vervielfältigen und auf ihre Reklamepro¬
spekte drucken lassen! Weiter — Nummer zwei. Auf einer Leiter, die an eine
Mauer gelehnt ist, steht ein junger Mann in altdeutscher Tracht, unten an der
Leiter mehrere Bewaffnete, von denen der eine den obenstehenden an seinein


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[0636] Das diesjährige Prachtwerk. Nun giebt es freilich bei Heine wie in aller Lyrik verhältnismäßig wenig rein lyrische Erzeugnisse. Viele Gedichte in Heines „Buch der Lieder" sind gar keine Lieder, überhaupt keine lyrischen, sondern epische, rein epische Gedichte, andre enthalten Schilderungen, Beschreibungen von wirklichen oder bloß gedachten, vorgestellten, ersehnten, erträumten, in der Erinnerung wachgerufenen Vorgängen, Szenen und Situationen, noch andre — und dies sind wohl die meisten — sind gemischt aus alledem. Diese lassen sich „illustriren" — wenn anders die betreffenden Szenen sich sonst zur Darstellung eignen. Betrachten wir daraufhin die zwölf großen Bilder der Ausgabe, also diejenigen, die dem Künstler selbst gewiß als die zur Ausführung geeignetsten erschienen sind, so sehen wir, daß nur sieben davon wirklich darstellbare Vor¬ gänge zeigen: das dritte, „Die Grenadiere," das vierte, „Belsazer," das achte, das Bild des unglücklichen Pfarrerhauses, das neunte, „Mein Kind, wir waren Kinder," das zehnte, die badende Elfe, das elfte, „Die Wallfahrt nach Kevlaar," und das zwölfte, „Berg-Idylle." In welcher Verlegenheit muß Thumann ge¬ wesen sein, wenn das schließlich die Gedichte waren, an denen seine Phantasie Hunger blieb! Was ist auf diesen Bildern zu sehen? Kann man sich etwas oberes denken als diese beiden flennenden Grenadiere, etwas nichtigeres als dieses Pletschbildchen: zwei Kinder im Hofe, die mit einer Katze spielen, etwas gewöhnlicheres als dieses plaudernde Liebespärchen in der Berghütte? Illustra¬ tionen müssen reden, müssen erzählen, so deutlich wie die Gedichte selbst. Was aber erzählen diese Bilder? Eine Darstellung wie die zuletzt erwähnte könnte zu Dutzenden von Gedichten als Wandercliche verwendet werden. Nun aber die andern fünf — was stellen sie dar? Nummer eins zeigt ein Mädchen in idealen: Kostüm im Walde stehend und mit geschwungener Axt Späne aus einem Baumstamm schlagend. Was ist das? Eine Illustration zu den „Traumbildern," in welchen der Dichter erzählt, wie ihm von einer schönen Maid geträumt habe, die ihm erst am Brunnen sein Totenkleid gewaschen, dann im Walde seinen Sarg gezimmert, endlich auf der Haide sein Grab geschaufelt habe. Das erste und zweite dieser Traumbilder hat der Dichter selbst mit den Worten geendet: Und als sie dies gesprochen kaun?, Zerflvß das ganze Bild wie Schaum, Thumann aber rückt dieses wie Schaum zerfließende Bild, das nur in Gedanken und Worten überhaupt möglich und erträglich ist, sinnlich vor unsre Augen, und die Verlagshandlung hält dies für eine solche künstlerische That, daß sie gerade dieses Bild in Holzschnitt hat vervielfältigen und auf ihre Reklamepro¬ spekte drucken lassen! Weiter — Nummer zwei. Auf einer Leiter, die an eine Mauer gelehnt ist, steht ein junger Mann in altdeutscher Tracht, unten an der Leiter mehrere Bewaffnete, von denen der eine den obenstehenden an seinein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/636>, abgerufen am 28.07.2024.