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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Emile Zola.

von Rabelais gelernt. Molieres Komödien sind voll von Rabelais' Geist, und
einzelne seiner Szenen, wie z> B, die zweite in Ils inM^o loroü, sind ganz
getreu bestimmten Abschnitten ans Gargantua und Pantagruel nachgebildet.
Die Kühnheit des Angriffs auf die Gesellschaft, welche Zola auszeichnet,
ist dem traditionellen Kampfgeiste gemäß, welcher sich von Rabelais auf die
geistvollen Köpfe des jungen Frankreichs vererbt hat. Nur besteht zwischen
Rabelais und Zola der gewaltige Unterschied, daß der erstere die Verführer
angreift, der letztere die Verführten, daß der erstere das Übel an der Wurzel
packt, der letztere an den Zweigen. Rabelais' eminenter Geist spottete der
Pseudo-Wissenschaft, ließ die Weisheit der vier Fakultäten wie einen Federball vor
seinem satirischen Schlagholz tanzen, und stellte die gesellschaftliche Ordnung
selbst als lächerlich und verkehrt hin, Zola hat Respekt vor der Gelehrsamkeit,
verehrt die bürgerlichen Einrichtungen der Gesellschaft und tadelt nnr die In¬
dividuen, welche die Gesellschaft zusammensetzen. Ein einzigesmal nur nimmt er
einen schwachen Anlauf, die Kirche selber hinsichtlich ihres Wertes in Frage zu
stellen. Das ist in?ot-öoniM, wo der Priester den Effekt de-r neuen Deko-
rirung des Hochaltars berechnet; aber das ist nur vorübergehend, und im
übrigen blickt immerfort die Achtung vor dem Bestehenden hindurch. Am meisten
tritt das natürlich in demjenigen Punkte hervor, welcher überhaupt der beherr¬
schende in den genannten drei Romanen ist, nämlich in der Frage des Ver¬
hältnisses der beiden Geschlechter zu einander. Während Rabelais die Ehe
selbst in seiner unvergleichlichen satirischen Art von allen Seiten beleuchtet,
während Moliere in seinen Komödien immer das Institut der Ehe selbst in
seinem Gegensatz zu der menschlichen Schwäche im Auge hat, während auch
Shakespeare und Goethe immer in dieser Angelegenheit den letzte" Grund der
Erscheinungen in den unveränderlichen Eigenschaften der Seele des Mensche"
behandeln, fällt unserm Naturalisten so etwas garnicht el". Zola schildert die
Ehebrecher, die Unzüchtigen, die Kourtisanen, die unglücklichen und verräterischen
Ehemänner und Ehefrauen, aber damit begnügt er sich. Und so ist es in allen
Stücken. Zola bleibt immer auf der Erde, er schwingt sich nicht zu den Höhen
hinan, wo die großen Denker thronen. Sollte das Absicht sein? Sollte der
Naturalist in seinem Naturalismus so weit gehen, daß er es für unnatürlich
hält, große Gedanken auszusprechen? Ich glaube es nicht. Ich meine, es ist
ein gut Teil Philistertum in ihm. Der jüngere Dumas hat offen erklärt,
Goethe sei frivol und das französische Volk müsse vor seinem Einfluß geschützt
werden. Wenn Zola Goethe kennte -- er kennt, wie die meisten französischen
Autoren, nur die Literatur seines Landes --, so würde er vermutlich dasselbe
sage". Er. denkt, wenn alles so ginge, wie die Wissenschaft der Neuzeit es als
richtig ausgerechnet hätte, dann würde" alle Leute glücklich, zufrieden und
tugendhaft lebe". Er ist el" treuer Jünger seines Landsmanns Auguste Comte.
Sein Hoffnungsstern, wenn er ja einen hat, heißt "Altruismus." Sollte er eine


Emile Zola.

von Rabelais gelernt. Molieres Komödien sind voll von Rabelais' Geist, und
einzelne seiner Szenen, wie z> B, die zweite in Ils inM^o loroü, sind ganz
getreu bestimmten Abschnitten ans Gargantua und Pantagruel nachgebildet.
Die Kühnheit des Angriffs auf die Gesellschaft, welche Zola auszeichnet,
ist dem traditionellen Kampfgeiste gemäß, welcher sich von Rabelais auf die
geistvollen Köpfe des jungen Frankreichs vererbt hat. Nur besteht zwischen
Rabelais und Zola der gewaltige Unterschied, daß der erstere die Verführer
angreift, der letztere die Verführten, daß der erstere das Übel an der Wurzel
packt, der letztere an den Zweigen. Rabelais' eminenter Geist spottete der
Pseudo-Wissenschaft, ließ die Weisheit der vier Fakultäten wie einen Federball vor
seinem satirischen Schlagholz tanzen, und stellte die gesellschaftliche Ordnung
selbst als lächerlich und verkehrt hin, Zola hat Respekt vor der Gelehrsamkeit,
verehrt die bürgerlichen Einrichtungen der Gesellschaft und tadelt nnr die In¬
dividuen, welche die Gesellschaft zusammensetzen. Ein einzigesmal nur nimmt er
einen schwachen Anlauf, die Kirche selber hinsichtlich ihres Wertes in Frage zu
stellen. Das ist in?ot-öoniM, wo der Priester den Effekt de-r neuen Deko-
rirung des Hochaltars berechnet; aber das ist nur vorübergehend, und im
übrigen blickt immerfort die Achtung vor dem Bestehenden hindurch. Am meisten
tritt das natürlich in demjenigen Punkte hervor, welcher überhaupt der beherr¬
schende in den genannten drei Romanen ist, nämlich in der Frage des Ver¬
hältnisses der beiden Geschlechter zu einander. Während Rabelais die Ehe
selbst in seiner unvergleichlichen satirischen Art von allen Seiten beleuchtet,
während Moliere in seinen Komödien immer das Institut der Ehe selbst in
seinem Gegensatz zu der menschlichen Schwäche im Auge hat, während auch
Shakespeare und Goethe immer in dieser Angelegenheit den letzte» Grund der
Erscheinungen in den unveränderlichen Eigenschaften der Seele des Mensche»
behandeln, fällt unserm Naturalisten so etwas garnicht el». Zola schildert die
Ehebrecher, die Unzüchtigen, die Kourtisanen, die unglücklichen und verräterischen
Ehemänner und Ehefrauen, aber damit begnügt er sich. Und so ist es in allen
Stücken. Zola bleibt immer auf der Erde, er schwingt sich nicht zu den Höhen
hinan, wo die großen Denker thronen. Sollte das Absicht sein? Sollte der
Naturalist in seinem Naturalismus so weit gehen, daß er es für unnatürlich
hält, große Gedanken auszusprechen? Ich glaube es nicht. Ich meine, es ist
ein gut Teil Philistertum in ihm. Der jüngere Dumas hat offen erklärt,
Goethe sei frivol und das französische Volk müsse vor seinem Einfluß geschützt
werden. Wenn Zola Goethe kennte — er kennt, wie die meisten französischen
Autoren, nur die Literatur seines Landes —, so würde er vermutlich dasselbe
sage». Er. denkt, wenn alles so ginge, wie die Wissenschaft der Neuzeit es als
richtig ausgerechnet hätte, dann würde» alle Leute glücklich, zufrieden und
tugendhaft lebe». Er ist el» treuer Jünger seines Landsmanns Auguste Comte.
Sein Hoffnungsstern, wenn er ja einen hat, heißt „Altruismus." Sollte er eine


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[0632] Emile Zola. von Rabelais gelernt. Molieres Komödien sind voll von Rabelais' Geist, und einzelne seiner Szenen, wie z> B, die zweite in Ils inM^o loroü, sind ganz getreu bestimmten Abschnitten ans Gargantua und Pantagruel nachgebildet. Die Kühnheit des Angriffs auf die Gesellschaft, welche Zola auszeichnet, ist dem traditionellen Kampfgeiste gemäß, welcher sich von Rabelais auf die geistvollen Köpfe des jungen Frankreichs vererbt hat. Nur besteht zwischen Rabelais und Zola der gewaltige Unterschied, daß der erstere die Verführer angreift, der letztere die Verführten, daß der erstere das Übel an der Wurzel packt, der letztere an den Zweigen. Rabelais' eminenter Geist spottete der Pseudo-Wissenschaft, ließ die Weisheit der vier Fakultäten wie einen Federball vor seinem satirischen Schlagholz tanzen, und stellte die gesellschaftliche Ordnung selbst als lächerlich und verkehrt hin, Zola hat Respekt vor der Gelehrsamkeit, verehrt die bürgerlichen Einrichtungen der Gesellschaft und tadelt nnr die In¬ dividuen, welche die Gesellschaft zusammensetzen. Ein einzigesmal nur nimmt er einen schwachen Anlauf, die Kirche selber hinsichtlich ihres Wertes in Frage zu stellen. Das ist in?ot-öoniM, wo der Priester den Effekt de-r neuen Deko- rirung des Hochaltars berechnet; aber das ist nur vorübergehend, und im übrigen blickt immerfort die Achtung vor dem Bestehenden hindurch. Am meisten tritt das natürlich in demjenigen Punkte hervor, welcher überhaupt der beherr¬ schende in den genannten drei Romanen ist, nämlich in der Frage des Ver¬ hältnisses der beiden Geschlechter zu einander. Während Rabelais die Ehe selbst in seiner unvergleichlichen satirischen Art von allen Seiten beleuchtet, während Moliere in seinen Komödien immer das Institut der Ehe selbst in seinem Gegensatz zu der menschlichen Schwäche im Auge hat, während auch Shakespeare und Goethe immer in dieser Angelegenheit den letzte» Grund der Erscheinungen in den unveränderlichen Eigenschaften der Seele des Mensche» behandeln, fällt unserm Naturalisten so etwas garnicht el». Zola schildert die Ehebrecher, die Unzüchtigen, die Kourtisanen, die unglücklichen und verräterischen Ehemänner und Ehefrauen, aber damit begnügt er sich. Und so ist es in allen Stücken. Zola bleibt immer auf der Erde, er schwingt sich nicht zu den Höhen hinan, wo die großen Denker thronen. Sollte das Absicht sein? Sollte der Naturalist in seinem Naturalismus so weit gehen, daß er es für unnatürlich hält, große Gedanken auszusprechen? Ich glaube es nicht. Ich meine, es ist ein gut Teil Philistertum in ihm. Der jüngere Dumas hat offen erklärt, Goethe sei frivol und das französische Volk müsse vor seinem Einfluß geschützt werden. Wenn Zola Goethe kennte — er kennt, wie die meisten französischen Autoren, nur die Literatur seines Landes —, so würde er vermutlich dasselbe sage». Er. denkt, wenn alles so ginge, wie die Wissenschaft der Neuzeit es als richtig ausgerechnet hätte, dann würde» alle Leute glücklich, zufrieden und tugendhaft lebe». Er ist el» treuer Jünger seines Landsmanns Auguste Comte. Sein Hoffnungsstern, wenn er ja einen hat, heißt „Altruismus." Sollte er eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/632>, abgerufen am 27.07.2024.