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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Linne Zola.

Er will auch hier Naturalist sein. Er führt uns keine "Verbrechen blutigkolossal"
vor; in den drei Romanen wird man vergeblich nach Handlungen und Charakteren
suchen, wie Sue sie in den "Mysterien von Paris" darstellt, oder wie wir sie im
Leben von Berlin durch de" Prozeß Dickhoff kennen gelernt haben. Er ist
stolz darauf, zu zeigen, daß das Volk nur erbärmlich ist. Seine Personen sind
dem Trunke ergeben, der Bauch ist ihr Gott, die Mädchen suchen nach Männern
und heiraten, um versorgt zu werden, Frauen und Männer treiben Ehebruch,
sie spielen, wetten, vergeuden ihr Vermögen, bringen sich ums Leben, aber das
ist auch so ziemlich alles. Man kann sagen: es ist genug, aber man wird zu¬
gestehen, daß die Helden sehr vieler Romane Schlimmeres thun. Der Naturalist
sagt: es ist so, wie ich es darstelle, es ist alles gemein. Aber gerade hier
ist die Grenze, hier hört, vor der höchsten Wahrheit dichterischer Kunst, des
Naturalisten Schöpfungskraft auf. Denn er vergißt meistens, uns zu zeigen,
daß seine Personen auch gut sind, und dadurch raubt er gerade seiner Darstellung
die feinste Spitze, die eindringendste Kraft, damit tritt er der Naturwahrheit
gerade entgegen. Erst dadurch, daß wir den Guten straucheln sehen, wird unser
Mitgefühl erregt, und das zeigt uns Zola nur ganz ausnahmsweise. Erst im
Hinblick auf ein Gutes, welches vou den Schlechten nnr verkannt wird, erkennen
wir die Wahrheit. Oder ist es nicht so? Giebt es irgendwo etwas Schlechtes
anders als im Gegensatz zum Guten, und irrt Platon, wenn er sagt, niemand
thue das Böse freiwillig?

Ich denke, daß gerade Zolcis Personen, indem sie nichts Ungeheuerliches
thun, sondern nur Fehler begehen und im Laster auf der schiefen Ebene abwärts
gleiten, sich ganz vorzüglich zu einer Darstellung geeignet hätten, welche den
höchsten dichterischen Wert erhielte, indem das Gute in den Hintergrund gerückt
worden wäre. Er hätte diese Romane zu satirischen machen können, indem er
alle diese schlechten Leute als irrende Schafe dargestellt hätte. Ich muß gestehen,
daß ich zuweilen gedacht habe, Zola habe wirklich diese drei Romane im Sinne
einer einzigen großen Satire geschrieben, aber ich bin von dieser Meinung wieder
abgekommen, weil ich nicht das Positive fand, dem gegenüber die Sünden der
von ihm geschilderten Welt als Thorheit erscheinen könnten. An manchen
Stellen mutet die Darstellung wie eine Satire an, aber im ganzen ist sie naiv,
ist sie ehrbar, denn der Naturalist ist uicht ironisch, er ist bieder, er ist meiner
Meinung nach el" Philister. Aber selbst ohne Ironie hätte er seine Personen
in das rechte Licht rücken können, wenn er besser gezeigt hätte, daß sie auch
gute Seiten haben, wenn er uns ihre Liebenswürdigkeit, ihre geistigen Stärken
als versöhnende Momente im Gegensatz zu ihrer Häßlichkeit und ihren geistigen
Schwächen anschaulicher gemacht hätte. Aber das thut er sehr selten. Er zeigt
nicht, daß alle das Böse unfreiwillig und nur im Irrtum über das Gute
thun, und niemals läßt er den einmal Gefallenen sich wieder erheben. Es ist
herzzerreißend, zu sehen, wie die blonde Heldin des ^830iniuoir allmählich


Linne Zola.

Er will auch hier Naturalist sein. Er führt uns keine „Verbrechen blutigkolossal"
vor; in den drei Romanen wird man vergeblich nach Handlungen und Charakteren
suchen, wie Sue sie in den „Mysterien von Paris" darstellt, oder wie wir sie im
Leben von Berlin durch de» Prozeß Dickhoff kennen gelernt haben. Er ist
stolz darauf, zu zeigen, daß das Volk nur erbärmlich ist. Seine Personen sind
dem Trunke ergeben, der Bauch ist ihr Gott, die Mädchen suchen nach Männern
und heiraten, um versorgt zu werden, Frauen und Männer treiben Ehebruch,
sie spielen, wetten, vergeuden ihr Vermögen, bringen sich ums Leben, aber das
ist auch so ziemlich alles. Man kann sagen: es ist genug, aber man wird zu¬
gestehen, daß die Helden sehr vieler Romane Schlimmeres thun. Der Naturalist
sagt: es ist so, wie ich es darstelle, es ist alles gemein. Aber gerade hier
ist die Grenze, hier hört, vor der höchsten Wahrheit dichterischer Kunst, des
Naturalisten Schöpfungskraft auf. Denn er vergißt meistens, uns zu zeigen,
daß seine Personen auch gut sind, und dadurch raubt er gerade seiner Darstellung
die feinste Spitze, die eindringendste Kraft, damit tritt er der Naturwahrheit
gerade entgegen. Erst dadurch, daß wir den Guten straucheln sehen, wird unser
Mitgefühl erregt, und das zeigt uns Zola nur ganz ausnahmsweise. Erst im
Hinblick auf ein Gutes, welches vou den Schlechten nnr verkannt wird, erkennen
wir die Wahrheit. Oder ist es nicht so? Giebt es irgendwo etwas Schlechtes
anders als im Gegensatz zum Guten, und irrt Platon, wenn er sagt, niemand
thue das Böse freiwillig?

Ich denke, daß gerade Zolcis Personen, indem sie nichts Ungeheuerliches
thun, sondern nur Fehler begehen und im Laster auf der schiefen Ebene abwärts
gleiten, sich ganz vorzüglich zu einer Darstellung geeignet hätten, welche den
höchsten dichterischen Wert erhielte, indem das Gute in den Hintergrund gerückt
worden wäre. Er hätte diese Romane zu satirischen machen können, indem er
alle diese schlechten Leute als irrende Schafe dargestellt hätte. Ich muß gestehen,
daß ich zuweilen gedacht habe, Zola habe wirklich diese drei Romane im Sinne
einer einzigen großen Satire geschrieben, aber ich bin von dieser Meinung wieder
abgekommen, weil ich nicht das Positive fand, dem gegenüber die Sünden der
von ihm geschilderten Welt als Thorheit erscheinen könnten. An manchen
Stellen mutet die Darstellung wie eine Satire an, aber im ganzen ist sie naiv,
ist sie ehrbar, denn der Naturalist ist uicht ironisch, er ist bieder, er ist meiner
Meinung nach el» Philister. Aber selbst ohne Ironie hätte er seine Personen
in das rechte Licht rücken können, wenn er besser gezeigt hätte, daß sie auch
gute Seiten haben, wenn er uns ihre Liebenswürdigkeit, ihre geistigen Stärken
als versöhnende Momente im Gegensatz zu ihrer Häßlichkeit und ihren geistigen
Schwächen anschaulicher gemacht hätte. Aber das thut er sehr selten. Er zeigt
nicht, daß alle das Böse unfreiwillig und nur im Irrtum über das Gute
thun, und niemals läßt er den einmal Gefallenen sich wieder erheben. Es ist
herzzerreißend, zu sehen, wie die blonde Heldin des ^830iniuoir allmählich


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[0630] Linne Zola. Er will auch hier Naturalist sein. Er führt uns keine „Verbrechen blutigkolossal" vor; in den drei Romanen wird man vergeblich nach Handlungen und Charakteren suchen, wie Sue sie in den „Mysterien von Paris" darstellt, oder wie wir sie im Leben von Berlin durch de» Prozeß Dickhoff kennen gelernt haben. Er ist stolz darauf, zu zeigen, daß das Volk nur erbärmlich ist. Seine Personen sind dem Trunke ergeben, der Bauch ist ihr Gott, die Mädchen suchen nach Männern und heiraten, um versorgt zu werden, Frauen und Männer treiben Ehebruch, sie spielen, wetten, vergeuden ihr Vermögen, bringen sich ums Leben, aber das ist auch so ziemlich alles. Man kann sagen: es ist genug, aber man wird zu¬ gestehen, daß die Helden sehr vieler Romane Schlimmeres thun. Der Naturalist sagt: es ist so, wie ich es darstelle, es ist alles gemein. Aber gerade hier ist die Grenze, hier hört, vor der höchsten Wahrheit dichterischer Kunst, des Naturalisten Schöpfungskraft auf. Denn er vergißt meistens, uns zu zeigen, daß seine Personen auch gut sind, und dadurch raubt er gerade seiner Darstellung die feinste Spitze, die eindringendste Kraft, damit tritt er der Naturwahrheit gerade entgegen. Erst dadurch, daß wir den Guten straucheln sehen, wird unser Mitgefühl erregt, und das zeigt uns Zola nur ganz ausnahmsweise. Erst im Hinblick auf ein Gutes, welches vou den Schlechten nnr verkannt wird, erkennen wir die Wahrheit. Oder ist es nicht so? Giebt es irgendwo etwas Schlechtes anders als im Gegensatz zum Guten, und irrt Platon, wenn er sagt, niemand thue das Böse freiwillig? Ich denke, daß gerade Zolcis Personen, indem sie nichts Ungeheuerliches thun, sondern nur Fehler begehen und im Laster auf der schiefen Ebene abwärts gleiten, sich ganz vorzüglich zu einer Darstellung geeignet hätten, welche den höchsten dichterischen Wert erhielte, indem das Gute in den Hintergrund gerückt worden wäre. Er hätte diese Romane zu satirischen machen können, indem er alle diese schlechten Leute als irrende Schafe dargestellt hätte. Ich muß gestehen, daß ich zuweilen gedacht habe, Zola habe wirklich diese drei Romane im Sinne einer einzigen großen Satire geschrieben, aber ich bin von dieser Meinung wieder abgekommen, weil ich nicht das Positive fand, dem gegenüber die Sünden der von ihm geschilderten Welt als Thorheit erscheinen könnten. An manchen Stellen mutet die Darstellung wie eine Satire an, aber im ganzen ist sie naiv, ist sie ehrbar, denn der Naturalist ist uicht ironisch, er ist bieder, er ist meiner Meinung nach el» Philister. Aber selbst ohne Ironie hätte er seine Personen in das rechte Licht rücken können, wenn er besser gezeigt hätte, daß sie auch gute Seiten haben, wenn er uns ihre Liebenswürdigkeit, ihre geistigen Stärken als versöhnende Momente im Gegensatz zu ihrer Häßlichkeit und ihren geistigen Schwächen anschaulicher gemacht hätte. Aber das thut er sehr selten. Er zeigt nicht, daß alle das Böse unfreiwillig und nur im Irrtum über das Gute thun, und niemals läßt er den einmal Gefallenen sich wieder erheben. Es ist herzzerreißend, zu sehen, wie die blonde Heldin des ^830iniuoir allmählich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/630>, abgerufen am 28.07.2024.