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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Linne Zola.

Ich erinnere mich hier eines Gedichtes aus sehr alter Zeit, eines Gedichtes
des Simonides, worin der Dichter sich gegen den Pittakos wendet, weil dieser
gesagt hatte, es sei schwer, gut zu sein. Nicht schwer ist es, gut zu sein, ant¬
wortet Simonides, sondern es ist ganz unmöglich. Nur el" Gott vermag gut
zu sein, der Mensch aber entgeht dem Fehltritt nicht, darum will ich mich nicht
abmühen, Unmögliches zu erspähen, indem ich nach einem Manne ohne jeglichen
Tadel suche, und ich will jeglichen loben und lieben, der nur Schmachvolles
nicht thut, denn rin dem Schicksal kämpft auch ein Gott vergebens. Platon
aber, welcher dieses Gedicht erklärt, setzt hinzu, Simonides sei nicht so unnnter-
richtet gewesen, daß er angenommen hätte, es gäbe Leute, die das Böse frei¬
willig thäten. Nach seiner, des Platon, Überzeugung denke überhaupt kein ein¬
sichtiger Mann, daß irgend ein Mensch das Schändliche aus freier Wahl thue,
sondern alle wüßten wohl, daß jedermann unvorsätzlich sündige.

Von der Wahrheit, die sich in den angeführten Worten ausspricht, scheint
auch Zola, wenn nicht eine wahrhaft philosophisch begründete Einsicht, so doch
ein künstlerisches Gefühl zu haben. In einigen seiner Personen, und, wie ich
denke, in den am besten charakterisirten, tritt das hervor. Die unglückliche Heldin
des ^ssoilimoir ist ein ganz vortreffliches Weib, von wahrhaft rührender Güte,
die aus reiner Tugend, obwohl im Elende, nicht mit dein einzigen Manne fliehen
will, der sie wahrhaft liebt. Ihr Mann ist ein fleißiger, munterer Arbeiter,
der nur infolge eines unglücklichen Sturzes der Arbeit entfremdet und dem
Alkohol zugeführt wird. Nana erscheint während ihrer Liebschaft mit dem hä߬
lichen Komiker Jordan plötzlich mit den edelsten Tugenden ausgerüstet, was
oberflächliche Leser für einen Fehler des Autors halten. Sie verachtet das Geld,
sie arbeitet, sie läßt sich geduldig prügeln aus Liebe, sie verkauft sogar ihren
Leib gewerbsmäßig auf der Straße, um den Mann zu ernähren, der sie mi߬
handelt, was meiner Meinung nach ein äußerst feiner Charakterzug ihres Wesens
ist. Aber es lassen sich nur wenige solche Züge aufzählen, welche zeigen, daß
Zola wohl wisse, niemand thue das Böse freiwillig. Zola hat sich, der Mode
des Zeitalters folgend, in seiner Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf den
naturwissenschaftlichen Standpunkt gestellt und will in seiner Gesellschaftsknnde
nach Analogie von Stuart Mill, Herbert Spencer, Auguste Comte und ähnlichen
Sozialphilosophen die Laster aus erblich sich fortpflanzenden und allmählich in den
den Generationen wachsenden Keimen erklären. Die Familie, deren Schicksal, äußer¬
lich betrachtet, das zusammenfassende Band seiner sozialen Romane ist, soll die
Weiterentwicklung des Lasterkeimes anschaulich machen. Den Ursprung des Keimes
vermag er natürlich so wenig wie die andern anzugeben, und auch über die Wachs¬
tumsbedingungen desselben ist er nicht klarer als sie. Nur uach einer, und zwar
einer nicht unwichtigen Richtung hin muß ihm Scharfblick zugestanden werden.
Seine schlechtesten, das heißt seine schwächsten, das heißt seine kränksten Personen
sind zugleich die größten Leckermäuler. Das elende Volk im ^SMinmoir wird ein-


Linne Zola.

Ich erinnere mich hier eines Gedichtes aus sehr alter Zeit, eines Gedichtes
des Simonides, worin der Dichter sich gegen den Pittakos wendet, weil dieser
gesagt hatte, es sei schwer, gut zu sein. Nicht schwer ist es, gut zu sein, ant¬
wortet Simonides, sondern es ist ganz unmöglich. Nur el» Gott vermag gut
zu sein, der Mensch aber entgeht dem Fehltritt nicht, darum will ich mich nicht
abmühen, Unmögliches zu erspähen, indem ich nach einem Manne ohne jeglichen
Tadel suche, und ich will jeglichen loben und lieben, der nur Schmachvolles
nicht thut, denn rin dem Schicksal kämpft auch ein Gott vergebens. Platon
aber, welcher dieses Gedicht erklärt, setzt hinzu, Simonides sei nicht so unnnter-
richtet gewesen, daß er angenommen hätte, es gäbe Leute, die das Böse frei¬
willig thäten. Nach seiner, des Platon, Überzeugung denke überhaupt kein ein¬
sichtiger Mann, daß irgend ein Mensch das Schändliche aus freier Wahl thue,
sondern alle wüßten wohl, daß jedermann unvorsätzlich sündige.

Von der Wahrheit, die sich in den angeführten Worten ausspricht, scheint
auch Zola, wenn nicht eine wahrhaft philosophisch begründete Einsicht, so doch
ein künstlerisches Gefühl zu haben. In einigen seiner Personen, und, wie ich
denke, in den am besten charakterisirten, tritt das hervor. Die unglückliche Heldin
des ^ssoilimoir ist ein ganz vortreffliches Weib, von wahrhaft rührender Güte,
die aus reiner Tugend, obwohl im Elende, nicht mit dein einzigen Manne fliehen
will, der sie wahrhaft liebt. Ihr Mann ist ein fleißiger, munterer Arbeiter,
der nur infolge eines unglücklichen Sturzes der Arbeit entfremdet und dem
Alkohol zugeführt wird. Nana erscheint während ihrer Liebschaft mit dem hä߬
lichen Komiker Jordan plötzlich mit den edelsten Tugenden ausgerüstet, was
oberflächliche Leser für einen Fehler des Autors halten. Sie verachtet das Geld,
sie arbeitet, sie läßt sich geduldig prügeln aus Liebe, sie verkauft sogar ihren
Leib gewerbsmäßig auf der Straße, um den Mann zu ernähren, der sie mi߬
handelt, was meiner Meinung nach ein äußerst feiner Charakterzug ihres Wesens
ist. Aber es lassen sich nur wenige solche Züge aufzählen, welche zeigen, daß
Zola wohl wisse, niemand thue das Böse freiwillig. Zola hat sich, der Mode
des Zeitalters folgend, in seiner Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf den
naturwissenschaftlichen Standpunkt gestellt und will in seiner Gesellschaftsknnde
nach Analogie von Stuart Mill, Herbert Spencer, Auguste Comte und ähnlichen
Sozialphilosophen die Laster aus erblich sich fortpflanzenden und allmählich in den
den Generationen wachsenden Keimen erklären. Die Familie, deren Schicksal, äußer¬
lich betrachtet, das zusammenfassende Band seiner sozialen Romane ist, soll die
Weiterentwicklung des Lasterkeimes anschaulich machen. Den Ursprung des Keimes
vermag er natürlich so wenig wie die andern anzugeben, und auch über die Wachs¬
tumsbedingungen desselben ist er nicht klarer als sie. Nur uach einer, und zwar
einer nicht unwichtigen Richtung hin muß ihm Scharfblick zugestanden werden.
Seine schlechtesten, das heißt seine schwächsten, das heißt seine kränksten Personen
sind zugleich die größten Leckermäuler. Das elende Volk im ^SMinmoir wird ein-


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[0628] Linne Zola. Ich erinnere mich hier eines Gedichtes aus sehr alter Zeit, eines Gedichtes des Simonides, worin der Dichter sich gegen den Pittakos wendet, weil dieser gesagt hatte, es sei schwer, gut zu sein. Nicht schwer ist es, gut zu sein, ant¬ wortet Simonides, sondern es ist ganz unmöglich. Nur el» Gott vermag gut zu sein, der Mensch aber entgeht dem Fehltritt nicht, darum will ich mich nicht abmühen, Unmögliches zu erspähen, indem ich nach einem Manne ohne jeglichen Tadel suche, und ich will jeglichen loben und lieben, der nur Schmachvolles nicht thut, denn rin dem Schicksal kämpft auch ein Gott vergebens. Platon aber, welcher dieses Gedicht erklärt, setzt hinzu, Simonides sei nicht so unnnter- richtet gewesen, daß er angenommen hätte, es gäbe Leute, die das Böse frei¬ willig thäten. Nach seiner, des Platon, Überzeugung denke überhaupt kein ein¬ sichtiger Mann, daß irgend ein Mensch das Schändliche aus freier Wahl thue, sondern alle wüßten wohl, daß jedermann unvorsätzlich sündige. Von der Wahrheit, die sich in den angeführten Worten ausspricht, scheint auch Zola, wenn nicht eine wahrhaft philosophisch begründete Einsicht, so doch ein künstlerisches Gefühl zu haben. In einigen seiner Personen, und, wie ich denke, in den am besten charakterisirten, tritt das hervor. Die unglückliche Heldin des ^ssoilimoir ist ein ganz vortreffliches Weib, von wahrhaft rührender Güte, die aus reiner Tugend, obwohl im Elende, nicht mit dein einzigen Manne fliehen will, der sie wahrhaft liebt. Ihr Mann ist ein fleißiger, munterer Arbeiter, der nur infolge eines unglücklichen Sturzes der Arbeit entfremdet und dem Alkohol zugeführt wird. Nana erscheint während ihrer Liebschaft mit dem hä߬ lichen Komiker Jordan plötzlich mit den edelsten Tugenden ausgerüstet, was oberflächliche Leser für einen Fehler des Autors halten. Sie verachtet das Geld, sie arbeitet, sie läßt sich geduldig prügeln aus Liebe, sie verkauft sogar ihren Leib gewerbsmäßig auf der Straße, um den Mann zu ernähren, der sie mi߬ handelt, was meiner Meinung nach ein äußerst feiner Charakterzug ihres Wesens ist. Aber es lassen sich nur wenige solche Züge aufzählen, welche zeigen, daß Zola wohl wisse, niemand thue das Böse freiwillig. Zola hat sich, der Mode des Zeitalters folgend, in seiner Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf den naturwissenschaftlichen Standpunkt gestellt und will in seiner Gesellschaftsknnde nach Analogie von Stuart Mill, Herbert Spencer, Auguste Comte und ähnlichen Sozialphilosophen die Laster aus erblich sich fortpflanzenden und allmählich in den den Generationen wachsenden Keimen erklären. Die Familie, deren Schicksal, äußer¬ lich betrachtet, das zusammenfassende Band seiner sozialen Romane ist, soll die Weiterentwicklung des Lasterkeimes anschaulich machen. Den Ursprung des Keimes vermag er natürlich so wenig wie die andern anzugeben, und auch über die Wachs¬ tumsbedingungen desselben ist er nicht klarer als sie. Nur uach einer, und zwar einer nicht unwichtigen Richtung hin muß ihm Scharfblick zugestanden werden. Seine schlechtesten, das heißt seine schwächsten, das heißt seine kränksten Personen sind zugleich die größten Leckermäuler. Das elende Volk im ^SMinmoir wird ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/628>, abgerufen am 28.07.2024.