Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
"Linne Zola.

Geschlechtstrieb sind. Doch findet sich hier, wo das Joch der Handarbeit nicht
die Nacken wund drückt, als Resultat der größeren Bewegungsfreiheit die Heu¬
chelei vor, und die Leute gehen nicht am Branntwein zu Grunde, sondern sie
verfaulen gleichsam von innen heraus, indem ihre Laster unter bürgerlich an¬
ständigem Firniß ungestört weiter brodeln und Schwären und sozusagen eine
moralische Blutvergiftung erzeugen. Bei weitem am packendsten ist Min ge¬
schrieben, wo die Aristokratie in ihrem Zusammenhange mit dem Theater und
den Konrtiscmen geschildert wird. Hier tritt das Laster frei und mit blendendem
Flimmer ans Tageslicht und gestattet dem Künstler den Gebrauch seiner grellsten
Farben. Die Grundfarbe zwar ist wieder dieselbe wie in den beiden andern
Romanen. Die Aristokratie hat gleich dem Bürger und dem Arbeiter nur zwei
Ziele: erstens gut zu essen und zu trinken und zweitens sich am Weibe zu er¬
freuen. Nur ist der Aristokrat nicht allein über den Zwang der Arbeit, sondern
auch über den Zwang der Heuchelei hinaus, und die Freiheit der Bewegung
ist bei ihn, so groß, daß er Tollheiten begeht, und daß er weder am Brannt¬
wein stirbt, noch auch am Ekel seiner selbst verrottet, sondern der geistigen Zer¬
rüttung, der Manie und dem Selbstmord zum Opfer fällt. Zugleich schließt
sich hier der Ring der Schilderung und läßt das Bild des Volkes vollständig
erscheinen, indem es die Tochter des Armen ist, die die Reichen tötet. Die
umngönss ä'IwramW, Nana, welche einem Würgengel gleich in der Aristokratie
wütet, ist die Tochter des Zinnarbeiters und seiner hübschen Frau aus dem
^ssommoir, welche am Branntwein starben.

Was nun Zola als einen bedeutenden Künstler erkennen läßt, das ist die
Großartigkeit seines Planes und die Konsequenz und bewundernswerte Kraft
und Sorgfalt seiner Ausführung. Hierin verdient er die größte Anerkennung.
Es ist wahrlich kein Geringes, sich eine solche Aufgabe zu stellen und sie
durchzuführen. Erforderlich hierzu ist vor allem ein kühner, umfassender Blick,
der den Nebel der Vorurteile zu durchdnugen und das ganze Volk zu über¬
sehen vermag, dann ein gewaltiger Fleiß im Studium der einzelnen Erschei¬
nungen, eine unermüdliche Ausdauer bei der Wiedergabe und endlich eine
starke dichterische Begabung, um Gestalten und Ereignisse so anschaulich und
ergreifend darzustellen. Diese Eigenschaften besitzt Zola in hohem Maße. Er
geht zu Werte wie jene Leute, welche als Zierden der Wissenschaft bewundert
werden: keine Mühe schreckt ihn ab, kein bebender Herzschlag läßt ihn erlahme",
keine Thräne des Mitleids trübt sein beobachtendes Auge. Wir sehen die düstern
Geheimnisse der Hütte und des Palastes, bei deren Enthüllung ein banger Schauder
uns überfällt, mit einer Deutlichkeit entfaltet, die uns an den Autor wie an einen
Mann von Erz denken läßt. Soweit geht unsre Anerkennung.unsre Bewunderung.

Die Frage ist nur: Ist es wirklich die Wahrheit, was er uns giebt? Ist
sein Naturalismus ein guter, reiner, ebenmäßiger Spiegel der Natur, welche
Gott erschuf und erhält?


Grenzboten IV. 1883. 78
«Linne Zola.

Geschlechtstrieb sind. Doch findet sich hier, wo das Joch der Handarbeit nicht
die Nacken wund drückt, als Resultat der größeren Bewegungsfreiheit die Heu¬
chelei vor, und die Leute gehen nicht am Branntwein zu Grunde, sondern sie
verfaulen gleichsam von innen heraus, indem ihre Laster unter bürgerlich an¬
ständigem Firniß ungestört weiter brodeln und Schwären und sozusagen eine
moralische Blutvergiftung erzeugen. Bei weitem am packendsten ist Min ge¬
schrieben, wo die Aristokratie in ihrem Zusammenhange mit dem Theater und
den Konrtiscmen geschildert wird. Hier tritt das Laster frei und mit blendendem
Flimmer ans Tageslicht und gestattet dem Künstler den Gebrauch seiner grellsten
Farben. Die Grundfarbe zwar ist wieder dieselbe wie in den beiden andern
Romanen. Die Aristokratie hat gleich dem Bürger und dem Arbeiter nur zwei
Ziele: erstens gut zu essen und zu trinken und zweitens sich am Weibe zu er¬
freuen. Nur ist der Aristokrat nicht allein über den Zwang der Arbeit, sondern
auch über den Zwang der Heuchelei hinaus, und die Freiheit der Bewegung
ist bei ihn, so groß, daß er Tollheiten begeht, und daß er weder am Brannt¬
wein stirbt, noch auch am Ekel seiner selbst verrottet, sondern der geistigen Zer¬
rüttung, der Manie und dem Selbstmord zum Opfer fällt. Zugleich schließt
sich hier der Ring der Schilderung und läßt das Bild des Volkes vollständig
erscheinen, indem es die Tochter des Armen ist, die die Reichen tötet. Die
umngönss ä'IwramW, Nana, welche einem Würgengel gleich in der Aristokratie
wütet, ist die Tochter des Zinnarbeiters und seiner hübschen Frau aus dem
^ssommoir, welche am Branntwein starben.

Was nun Zola als einen bedeutenden Künstler erkennen läßt, das ist die
Großartigkeit seines Planes und die Konsequenz und bewundernswerte Kraft
und Sorgfalt seiner Ausführung. Hierin verdient er die größte Anerkennung.
Es ist wahrlich kein Geringes, sich eine solche Aufgabe zu stellen und sie
durchzuführen. Erforderlich hierzu ist vor allem ein kühner, umfassender Blick,
der den Nebel der Vorurteile zu durchdnugen und das ganze Volk zu über¬
sehen vermag, dann ein gewaltiger Fleiß im Studium der einzelnen Erschei¬
nungen, eine unermüdliche Ausdauer bei der Wiedergabe und endlich eine
starke dichterische Begabung, um Gestalten und Ereignisse so anschaulich und
ergreifend darzustellen. Diese Eigenschaften besitzt Zola in hohem Maße. Er
geht zu Werte wie jene Leute, welche als Zierden der Wissenschaft bewundert
werden: keine Mühe schreckt ihn ab, kein bebender Herzschlag läßt ihn erlahme»,
keine Thräne des Mitleids trübt sein beobachtendes Auge. Wir sehen die düstern
Geheimnisse der Hütte und des Palastes, bei deren Enthüllung ein banger Schauder
uns überfällt, mit einer Deutlichkeit entfaltet, die uns an den Autor wie an einen
Mann von Erz denken läßt. Soweit geht unsre Anerkennung.unsre Bewunderung.

Die Frage ist nur: Ist es wirklich die Wahrheit, was er uns giebt? Ist
sein Naturalismus ein guter, reiner, ebenmäßiger Spiegel der Natur, welche
Gott erschuf und erhält?


Grenzboten IV. 1883. 78
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0627" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154792"/>
          <fw type="header" place="top"> «Linne Zola.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1859" prev="#ID_1858"> Geschlechtstrieb sind. Doch findet sich hier, wo das Joch der Handarbeit nicht<lb/>
die Nacken wund drückt, als Resultat der größeren Bewegungsfreiheit die Heu¬<lb/>
chelei vor, und die Leute gehen nicht am Branntwein zu Grunde, sondern sie<lb/>
verfaulen gleichsam von innen heraus, indem ihre Laster unter bürgerlich an¬<lb/>
ständigem Firniß ungestört weiter brodeln und Schwären und sozusagen eine<lb/>
moralische Blutvergiftung erzeugen. Bei weitem am packendsten ist Min ge¬<lb/>
schrieben, wo die Aristokratie in ihrem Zusammenhange mit dem Theater und<lb/>
den Konrtiscmen geschildert wird. Hier tritt das Laster frei und mit blendendem<lb/>
Flimmer ans Tageslicht und gestattet dem Künstler den Gebrauch seiner grellsten<lb/>
Farben. Die Grundfarbe zwar ist wieder dieselbe wie in den beiden andern<lb/>
Romanen. Die Aristokratie hat gleich dem Bürger und dem Arbeiter nur zwei<lb/>
Ziele: erstens gut zu essen und zu trinken und zweitens sich am Weibe zu er¬<lb/>
freuen. Nur ist der Aristokrat nicht allein über den Zwang der Arbeit, sondern<lb/>
auch über den Zwang der Heuchelei hinaus, und die Freiheit der Bewegung<lb/>
ist bei ihn, so groß, daß er Tollheiten begeht, und daß er weder am Brannt¬<lb/>
wein stirbt, noch auch am Ekel seiner selbst verrottet, sondern der geistigen Zer¬<lb/>
rüttung, der Manie und dem Selbstmord zum Opfer fällt. Zugleich schließt<lb/>
sich hier der Ring der Schilderung und läßt das Bild des Volkes vollständig<lb/>
erscheinen, indem es die Tochter des Armen ist, die die Reichen tötet. Die<lb/>
umngönss ä'IwramW, Nana, welche einem Würgengel gleich in der Aristokratie<lb/>
wütet, ist die Tochter des Zinnarbeiters und seiner hübschen Frau aus dem<lb/>
^ssommoir, welche am Branntwein starben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1860"> Was nun Zola als einen bedeutenden Künstler erkennen läßt, das ist die<lb/>
Großartigkeit seines Planes und die Konsequenz und bewundernswerte Kraft<lb/>
und Sorgfalt seiner Ausführung. Hierin verdient er die größte Anerkennung.<lb/>
Es ist wahrlich kein Geringes, sich eine solche Aufgabe zu stellen und sie<lb/>
durchzuführen. Erforderlich hierzu ist vor allem ein kühner, umfassender Blick,<lb/>
der den Nebel der Vorurteile zu durchdnugen und das ganze Volk zu über¬<lb/>
sehen vermag, dann ein gewaltiger Fleiß im Studium der einzelnen Erschei¬<lb/>
nungen, eine unermüdliche Ausdauer bei der Wiedergabe und endlich eine<lb/>
starke dichterische Begabung, um Gestalten und Ereignisse so anschaulich und<lb/>
ergreifend darzustellen. Diese Eigenschaften besitzt Zola in hohem Maße. Er<lb/>
geht zu Werte wie jene Leute, welche als Zierden der Wissenschaft bewundert<lb/>
werden: keine Mühe schreckt ihn ab, kein bebender Herzschlag läßt ihn erlahme»,<lb/>
keine Thräne des Mitleids trübt sein beobachtendes Auge. Wir sehen die düstern<lb/>
Geheimnisse der Hütte und des Palastes, bei deren Enthüllung ein banger Schauder<lb/>
uns überfällt, mit einer Deutlichkeit entfaltet, die uns an den Autor wie an einen<lb/>
Mann von Erz denken läßt. Soweit geht unsre Anerkennung.unsre Bewunderung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1861"> Die Frage ist nur: Ist es wirklich die Wahrheit, was er uns giebt? Ist<lb/>
sein Naturalismus ein guter, reiner, ebenmäßiger Spiegel der Natur, welche<lb/>
Gott erschuf und erhält?</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1883. 78</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0627] «Linne Zola. Geschlechtstrieb sind. Doch findet sich hier, wo das Joch der Handarbeit nicht die Nacken wund drückt, als Resultat der größeren Bewegungsfreiheit die Heu¬ chelei vor, und die Leute gehen nicht am Branntwein zu Grunde, sondern sie verfaulen gleichsam von innen heraus, indem ihre Laster unter bürgerlich an¬ ständigem Firniß ungestört weiter brodeln und Schwären und sozusagen eine moralische Blutvergiftung erzeugen. Bei weitem am packendsten ist Min ge¬ schrieben, wo die Aristokratie in ihrem Zusammenhange mit dem Theater und den Konrtiscmen geschildert wird. Hier tritt das Laster frei und mit blendendem Flimmer ans Tageslicht und gestattet dem Künstler den Gebrauch seiner grellsten Farben. Die Grundfarbe zwar ist wieder dieselbe wie in den beiden andern Romanen. Die Aristokratie hat gleich dem Bürger und dem Arbeiter nur zwei Ziele: erstens gut zu essen und zu trinken und zweitens sich am Weibe zu er¬ freuen. Nur ist der Aristokrat nicht allein über den Zwang der Arbeit, sondern auch über den Zwang der Heuchelei hinaus, und die Freiheit der Bewegung ist bei ihn, so groß, daß er Tollheiten begeht, und daß er weder am Brannt¬ wein stirbt, noch auch am Ekel seiner selbst verrottet, sondern der geistigen Zer¬ rüttung, der Manie und dem Selbstmord zum Opfer fällt. Zugleich schließt sich hier der Ring der Schilderung und läßt das Bild des Volkes vollständig erscheinen, indem es die Tochter des Armen ist, die die Reichen tötet. Die umngönss ä'IwramW, Nana, welche einem Würgengel gleich in der Aristokratie wütet, ist die Tochter des Zinnarbeiters und seiner hübschen Frau aus dem ^ssommoir, welche am Branntwein starben. Was nun Zola als einen bedeutenden Künstler erkennen läßt, das ist die Großartigkeit seines Planes und die Konsequenz und bewundernswerte Kraft und Sorgfalt seiner Ausführung. Hierin verdient er die größte Anerkennung. Es ist wahrlich kein Geringes, sich eine solche Aufgabe zu stellen und sie durchzuführen. Erforderlich hierzu ist vor allem ein kühner, umfassender Blick, der den Nebel der Vorurteile zu durchdnugen und das ganze Volk zu über¬ sehen vermag, dann ein gewaltiger Fleiß im Studium der einzelnen Erschei¬ nungen, eine unermüdliche Ausdauer bei der Wiedergabe und endlich eine starke dichterische Begabung, um Gestalten und Ereignisse so anschaulich und ergreifend darzustellen. Diese Eigenschaften besitzt Zola in hohem Maße. Er geht zu Werte wie jene Leute, welche als Zierden der Wissenschaft bewundert werden: keine Mühe schreckt ihn ab, kein bebender Herzschlag läßt ihn erlahme», keine Thräne des Mitleids trübt sein beobachtendes Auge. Wir sehen die düstern Geheimnisse der Hütte und des Palastes, bei deren Enthüllung ein banger Schauder uns überfällt, mit einer Deutlichkeit entfaltet, die uns an den Autor wie an einen Mann von Erz denken läßt. Soweit geht unsre Anerkennung.unsre Bewunderung. Die Frage ist nur: Ist es wirklich die Wahrheit, was er uns giebt? Ist sein Naturalismus ein guter, reiner, ebenmäßiger Spiegel der Natur, welche Gott erschuf und erhält? Grenzboten IV. 1883. 78

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/627
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/627>, abgerufen am 28.07.2024.