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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Fortschritte der sozialpolitischen Debatte.

Alle Zunftbestrebungen werden ohne praktisches Ergebnis bleiben, wenn
sie sich nicht auch die gewissermaßen organisatorischen Einrichtungen oder Ge¬
staltungen, in denen sich die wirtschaftliche Betriebsweise des Mnnchestertums
bewegt, zu Nutze machen und dieselben für sich verwerten. Die Zünfte der Zu¬
kunft mit praktischer Wirksamkeit müssen unbedingt bis zu gewissen Graden
als Produktivgenossenschaften wirke"; wenigstens als Genossenschaften, in
denen der kapitalarme Einzelne die Voraussetzungen findet, unter Bedingungen,
welche der Kapitalarmut entsprechen, aus seiner Arbeit den gebührenden
Lohn und Gewinn zu ziehen. Die Innung der Zukunft muß daher nicht
nur die Voraussetzungen zur Behauptung des Marktes (diesen Begriff im
weitesten Sinne des Wortes) sich schaffen, sondern sie muß auch verstehen,
die Beschränkungen für den einzelnen Gewerbsgenossen, welche zugleich die
Bedingungen für die Behauptung des Marktes sind, herzustellen und durch¬
zuführen.

Es erscheint uns zunächst als durchaus falsch und ungenügend, die Lehr¬
lingsfrage bloß in so äußerlicher Weise, wie es in den Halber Beschlüssen ge¬
schieht, zu behandeln. Die Lehrlinge dürfen, wenn man wirklich der Zunft
wieder eine Einwurzelung geben will, garnicht mehr den einzelnen Meistern über¬
lassen werden, sondern man muß sie einfach als Zöglinge der Zunft betrachten und
behandeln. Die Anleitung zum Handwerk muß unter fortgesetztem Einfluß
durch die Zunft geschehen, und es ist nichts gethan, wenn man sich ans Fort¬
bildungsschulen und auf eine Gesellenprüfuug beschränken wollte. Für "Fort¬
bildungsschulen" schwärmt ja auch der Liberalismus, und der praktische Wert
von Prüfungen ist ein höchst zweifelhafter. Es kommt aber auch darauf an,
die so oft vorkommende Ausbeutung und Erschöpfung jugendlicher Kraft im
Auge zu behalten, und es erscheint unbedingt als Pflicht einer gewerblichen
Zunft, ihren jungen Nachwuchs ebenso in der Kraft wie in der Geschicklichkeit
zu entwickeln. Man irrt sehr, wenn man meint, das Lehrlingswesen sei während
des Höhepunktes der Zunstzeit ebenso verrottet gewesen und die Lehrlinge seien
in gleicher Weise zu bloßen Objekten der Ausbeutung zu machen gewesen wie
in der Epoche des Zunftverfalls. Vielmehr war die Zunft nach Maßgabe der
damaligen Erkenntnis sogar außerordentlich besorgt um das Wohl ihrer jüngsten
Mitglieder und um die Ausbildung derselben, und daraus ist gerade die große
Leistungsfähigkeit des Handwerks im Mittelalter, die man noch heute bewundert,
hervorgegangen.

Allein zur Handhabung einer guten Zunftorganisation, die nicht nur ihren
Mitgliedern soviel gewähren kann, daß sie deren Nutzen einsehen -- denn die
"leer Zünfte sind zu Grunde gegangen zum Teil auch deshalb, weil ihre eignen
Augehörigen ihren Nutzen in Frage zogen --, gehören auch Mittel, die man
nicht etwa durch laufende Beiträge von den Zunftgenossen zu beschaffen hoffen
durs. Wenn nur entfernt etwas Ersprießliches geleistet werden sollte, so müßte"


Grenzboten IV. 1883. 75
Fortschritte der sozialpolitischen Debatte.

Alle Zunftbestrebungen werden ohne praktisches Ergebnis bleiben, wenn
sie sich nicht auch die gewissermaßen organisatorischen Einrichtungen oder Ge¬
staltungen, in denen sich die wirtschaftliche Betriebsweise des Mnnchestertums
bewegt, zu Nutze machen und dieselben für sich verwerten. Die Zünfte der Zu¬
kunft mit praktischer Wirksamkeit müssen unbedingt bis zu gewissen Graden
als Produktivgenossenschaften wirke»; wenigstens als Genossenschaften, in
denen der kapitalarme Einzelne die Voraussetzungen findet, unter Bedingungen,
welche der Kapitalarmut entsprechen, aus seiner Arbeit den gebührenden
Lohn und Gewinn zu ziehen. Die Innung der Zukunft muß daher nicht
nur die Voraussetzungen zur Behauptung des Marktes (diesen Begriff im
weitesten Sinne des Wortes) sich schaffen, sondern sie muß auch verstehen,
die Beschränkungen für den einzelnen Gewerbsgenossen, welche zugleich die
Bedingungen für die Behauptung des Marktes sind, herzustellen und durch¬
zuführen.

Es erscheint uns zunächst als durchaus falsch und ungenügend, die Lehr¬
lingsfrage bloß in so äußerlicher Weise, wie es in den Halber Beschlüssen ge¬
schieht, zu behandeln. Die Lehrlinge dürfen, wenn man wirklich der Zunft
wieder eine Einwurzelung geben will, garnicht mehr den einzelnen Meistern über¬
lassen werden, sondern man muß sie einfach als Zöglinge der Zunft betrachten und
behandeln. Die Anleitung zum Handwerk muß unter fortgesetztem Einfluß
durch die Zunft geschehen, und es ist nichts gethan, wenn man sich ans Fort¬
bildungsschulen und auf eine Gesellenprüfuug beschränken wollte. Für „Fort¬
bildungsschulen" schwärmt ja auch der Liberalismus, und der praktische Wert
von Prüfungen ist ein höchst zweifelhafter. Es kommt aber auch darauf an,
die so oft vorkommende Ausbeutung und Erschöpfung jugendlicher Kraft im
Auge zu behalten, und es erscheint unbedingt als Pflicht einer gewerblichen
Zunft, ihren jungen Nachwuchs ebenso in der Kraft wie in der Geschicklichkeit
zu entwickeln. Man irrt sehr, wenn man meint, das Lehrlingswesen sei während
des Höhepunktes der Zunstzeit ebenso verrottet gewesen und die Lehrlinge seien
in gleicher Weise zu bloßen Objekten der Ausbeutung zu machen gewesen wie
in der Epoche des Zunftverfalls. Vielmehr war die Zunft nach Maßgabe der
damaligen Erkenntnis sogar außerordentlich besorgt um das Wohl ihrer jüngsten
Mitglieder und um die Ausbildung derselben, und daraus ist gerade die große
Leistungsfähigkeit des Handwerks im Mittelalter, die man noch heute bewundert,
hervorgegangen.

Allein zur Handhabung einer guten Zunftorganisation, die nicht nur ihren
Mitgliedern soviel gewähren kann, daß sie deren Nutzen einsehen — denn die
"leer Zünfte sind zu Grunde gegangen zum Teil auch deshalb, weil ihre eignen
Augehörigen ihren Nutzen in Frage zogen —, gehören auch Mittel, die man
nicht etwa durch laufende Beiträge von den Zunftgenossen zu beschaffen hoffen
durs. Wenn nur entfernt etwas Ersprießliches geleistet werden sollte, so müßte»


Grenzboten IV. 1883. 75
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[0603] Fortschritte der sozialpolitischen Debatte. Alle Zunftbestrebungen werden ohne praktisches Ergebnis bleiben, wenn sie sich nicht auch die gewissermaßen organisatorischen Einrichtungen oder Ge¬ staltungen, in denen sich die wirtschaftliche Betriebsweise des Mnnchestertums bewegt, zu Nutze machen und dieselben für sich verwerten. Die Zünfte der Zu¬ kunft mit praktischer Wirksamkeit müssen unbedingt bis zu gewissen Graden als Produktivgenossenschaften wirke»; wenigstens als Genossenschaften, in denen der kapitalarme Einzelne die Voraussetzungen findet, unter Bedingungen, welche der Kapitalarmut entsprechen, aus seiner Arbeit den gebührenden Lohn und Gewinn zu ziehen. Die Innung der Zukunft muß daher nicht nur die Voraussetzungen zur Behauptung des Marktes (diesen Begriff im weitesten Sinne des Wortes) sich schaffen, sondern sie muß auch verstehen, die Beschränkungen für den einzelnen Gewerbsgenossen, welche zugleich die Bedingungen für die Behauptung des Marktes sind, herzustellen und durch¬ zuführen. Es erscheint uns zunächst als durchaus falsch und ungenügend, die Lehr¬ lingsfrage bloß in so äußerlicher Weise, wie es in den Halber Beschlüssen ge¬ schieht, zu behandeln. Die Lehrlinge dürfen, wenn man wirklich der Zunft wieder eine Einwurzelung geben will, garnicht mehr den einzelnen Meistern über¬ lassen werden, sondern man muß sie einfach als Zöglinge der Zunft betrachten und behandeln. Die Anleitung zum Handwerk muß unter fortgesetztem Einfluß durch die Zunft geschehen, und es ist nichts gethan, wenn man sich ans Fort¬ bildungsschulen und auf eine Gesellenprüfuug beschränken wollte. Für „Fort¬ bildungsschulen" schwärmt ja auch der Liberalismus, und der praktische Wert von Prüfungen ist ein höchst zweifelhafter. Es kommt aber auch darauf an, die so oft vorkommende Ausbeutung und Erschöpfung jugendlicher Kraft im Auge zu behalten, und es erscheint unbedingt als Pflicht einer gewerblichen Zunft, ihren jungen Nachwuchs ebenso in der Kraft wie in der Geschicklichkeit zu entwickeln. Man irrt sehr, wenn man meint, das Lehrlingswesen sei während des Höhepunktes der Zunstzeit ebenso verrottet gewesen und die Lehrlinge seien in gleicher Weise zu bloßen Objekten der Ausbeutung zu machen gewesen wie in der Epoche des Zunftverfalls. Vielmehr war die Zunft nach Maßgabe der damaligen Erkenntnis sogar außerordentlich besorgt um das Wohl ihrer jüngsten Mitglieder und um die Ausbildung derselben, und daraus ist gerade die große Leistungsfähigkeit des Handwerks im Mittelalter, die man noch heute bewundert, hervorgegangen. Allein zur Handhabung einer guten Zunftorganisation, die nicht nur ihren Mitgliedern soviel gewähren kann, daß sie deren Nutzen einsehen — denn die "leer Zünfte sind zu Grunde gegangen zum Teil auch deshalb, weil ihre eignen Augehörigen ihren Nutzen in Frage zogen —, gehören auch Mittel, die man nicht etwa durch laufende Beiträge von den Zunftgenossen zu beschaffen hoffen durs. Wenn nur entfernt etwas Ersprießliches geleistet werden sollte, so müßte» Grenzboten IV. 1883. 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/603>, abgerufen am 28.07.2024.