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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Line Geschichte der amerikanischen Literatur.

verhältnismäßige Anzahl bedeutender Theologen, Juristen, Politiker, Geschicht¬
schreiber und Naturforscher hervorgebracht, aber außer Rußland habe doch kein
großes Volk der Neuzeit weniger Werke nationaler Art von klassischem Wert
geschaffen als Amerika. In Amerika sagt man zur Entschuldigung: "Es sehlt
uns nicht an Fähigkeiten dazu, aber wir haben noch keine Zeit zu einer Lite¬
ratur gehabt!" Amerika gleicht seiner Bundeshauptstadt Washington; mau
nennt sie wegen ihrer schönen breiten Straßen die "Stadt der prächtigen Per¬
spektiven." Auch Amerika ist ein solches Land der Perspektiven. Die Sorge
um das wirtschaftliche Gedeihen hat seit den Tagen der Kolonisirung die besten
Lebenskräfte in Anspruch genommen. Fast die gesamte transatlantische Literatur
ist erfüllt von dem Geiste der Hoffnung auf die Zukunft und des Vertrauens
in die Arbeit. Es ist der Geist des Arbeiters, der sich stark genug dünkt für
den heftigsten Wettkampf; des Farmers, der aufrechte" Hauptes auf seinem
eignen Acker steht und über sich von keinem weltlichen Herren weiß; des Pio¬
niers und Abenteurers, der Wüste und Wildnisse so wenig fürchtet wie die
Hexen und Spukgeister der alten Welt. Geographische Verhältnisse und Natur-
bedingungen üben auf die Physische und geistige Entwicklung der Amerikaner
einen mächtigen Einfluß aus. Eine mit Elektrizität geschwängerte Atmosphäre
und eine Temperatur, welche innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu ge¬
wissen Jahreszeiten zwischen 50 und 100 Grad Fahrenheit wechselt, fördern
jenen dem Amerikaner eignen Geist der Unruhe. Ein ungeheures Land, endlos
scheinend wie der Ozean, giebt seinem schrankenlosen Ehrgeize Nahrung. Bei
europäischen Dichtern und Schriftstellern überwiegt unter den Natureindrücken
die Erhabenheit der Zeit. Sie sprechen von den ewigen Bergen, den unversieg-
lichen Flüssen, dem Wechsel der Jahreszeiten. Bei den Amerikanern ist es viel¬
mehr die Ausdehnung des Raumes, welche ihre Vorstellung beherrscht; und
während die Europäer in Gegenwart der Unendlichkeit der Zeit die Flüchtigkeit
des menschlichen Daseins empfinden, vergegenwärtigen sich die Amerikaner lieber
die Unendlichkeit des Raumes, um sich der menschlichen Beschränktheit bewußt
zu werden. Von nichts wird ein Reisender in Amerika so lebhaft betroffen,
als von der Erscheinung des Riesenhaften. Die Strome, Seen, Wälder, Ebenen
und Thäler verdanken ihre Großartigkeit zumeist ihrer Größe, und nach diesem
Maßstabe richten sich auch die künstlerischen Begriffe der Amerikaner. Im Ver¬
gleich mit den Europäern haben sie an Flächenraum voraus, was jene an Alter
voraus haben. Sie haben die Hoffnungen eines Kontinents unsern tausend¬
jährigen Erinnerungen gegeuüberzusetzen. Während der Europäer erinnerungs-
voll zurückschaut, schaut der Amerikaner ahnungsvoll vorwärts. Sein Denken
und Handeln dringt beständig in leere Räume ein. Die Auswanderung ist der
normale Zustand eines großen Teiles der Bewohner Amerikas. Das Band, das
die eine Generation mit der andern verbindet, ist locker. Wie ihr äußerer Mensch
beständig auf dem Sprunge ist, so auch ihr innerer; der mangelnden Kontinuität


Line Geschichte der amerikanischen Literatur.

verhältnismäßige Anzahl bedeutender Theologen, Juristen, Politiker, Geschicht¬
schreiber und Naturforscher hervorgebracht, aber außer Rußland habe doch kein
großes Volk der Neuzeit weniger Werke nationaler Art von klassischem Wert
geschaffen als Amerika. In Amerika sagt man zur Entschuldigung: „Es sehlt
uns nicht an Fähigkeiten dazu, aber wir haben noch keine Zeit zu einer Lite¬
ratur gehabt!" Amerika gleicht seiner Bundeshauptstadt Washington; mau
nennt sie wegen ihrer schönen breiten Straßen die „Stadt der prächtigen Per¬
spektiven." Auch Amerika ist ein solches Land der Perspektiven. Die Sorge
um das wirtschaftliche Gedeihen hat seit den Tagen der Kolonisirung die besten
Lebenskräfte in Anspruch genommen. Fast die gesamte transatlantische Literatur
ist erfüllt von dem Geiste der Hoffnung auf die Zukunft und des Vertrauens
in die Arbeit. Es ist der Geist des Arbeiters, der sich stark genug dünkt für
den heftigsten Wettkampf; des Farmers, der aufrechte» Hauptes auf seinem
eignen Acker steht und über sich von keinem weltlichen Herren weiß; des Pio¬
niers und Abenteurers, der Wüste und Wildnisse so wenig fürchtet wie die
Hexen und Spukgeister der alten Welt. Geographische Verhältnisse und Natur-
bedingungen üben auf die Physische und geistige Entwicklung der Amerikaner
einen mächtigen Einfluß aus. Eine mit Elektrizität geschwängerte Atmosphäre
und eine Temperatur, welche innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu ge¬
wissen Jahreszeiten zwischen 50 und 100 Grad Fahrenheit wechselt, fördern
jenen dem Amerikaner eignen Geist der Unruhe. Ein ungeheures Land, endlos
scheinend wie der Ozean, giebt seinem schrankenlosen Ehrgeize Nahrung. Bei
europäischen Dichtern und Schriftstellern überwiegt unter den Natureindrücken
die Erhabenheit der Zeit. Sie sprechen von den ewigen Bergen, den unversieg-
lichen Flüssen, dem Wechsel der Jahreszeiten. Bei den Amerikanern ist es viel¬
mehr die Ausdehnung des Raumes, welche ihre Vorstellung beherrscht; und
während die Europäer in Gegenwart der Unendlichkeit der Zeit die Flüchtigkeit
des menschlichen Daseins empfinden, vergegenwärtigen sich die Amerikaner lieber
die Unendlichkeit des Raumes, um sich der menschlichen Beschränktheit bewußt
zu werden. Von nichts wird ein Reisender in Amerika so lebhaft betroffen,
als von der Erscheinung des Riesenhaften. Die Strome, Seen, Wälder, Ebenen
und Thäler verdanken ihre Großartigkeit zumeist ihrer Größe, und nach diesem
Maßstabe richten sich auch die künstlerischen Begriffe der Amerikaner. Im Ver¬
gleich mit den Europäern haben sie an Flächenraum voraus, was jene an Alter
voraus haben. Sie haben die Hoffnungen eines Kontinents unsern tausend¬
jährigen Erinnerungen gegeuüberzusetzen. Während der Europäer erinnerungs-
voll zurückschaut, schaut der Amerikaner ahnungsvoll vorwärts. Sein Denken
und Handeln dringt beständig in leere Räume ein. Die Auswanderung ist der
normale Zustand eines großen Teiles der Bewohner Amerikas. Das Band, das
die eine Generation mit der andern verbindet, ist locker. Wie ihr äußerer Mensch
beständig auf dem Sprunge ist, so auch ihr innerer; der mangelnden Kontinuität


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[0568] Line Geschichte der amerikanischen Literatur. verhältnismäßige Anzahl bedeutender Theologen, Juristen, Politiker, Geschicht¬ schreiber und Naturforscher hervorgebracht, aber außer Rußland habe doch kein großes Volk der Neuzeit weniger Werke nationaler Art von klassischem Wert geschaffen als Amerika. In Amerika sagt man zur Entschuldigung: „Es sehlt uns nicht an Fähigkeiten dazu, aber wir haben noch keine Zeit zu einer Lite¬ ratur gehabt!" Amerika gleicht seiner Bundeshauptstadt Washington; mau nennt sie wegen ihrer schönen breiten Straßen die „Stadt der prächtigen Per¬ spektiven." Auch Amerika ist ein solches Land der Perspektiven. Die Sorge um das wirtschaftliche Gedeihen hat seit den Tagen der Kolonisirung die besten Lebenskräfte in Anspruch genommen. Fast die gesamte transatlantische Literatur ist erfüllt von dem Geiste der Hoffnung auf die Zukunft und des Vertrauens in die Arbeit. Es ist der Geist des Arbeiters, der sich stark genug dünkt für den heftigsten Wettkampf; des Farmers, der aufrechte» Hauptes auf seinem eignen Acker steht und über sich von keinem weltlichen Herren weiß; des Pio¬ niers und Abenteurers, der Wüste und Wildnisse so wenig fürchtet wie die Hexen und Spukgeister der alten Welt. Geographische Verhältnisse und Natur- bedingungen üben auf die Physische und geistige Entwicklung der Amerikaner einen mächtigen Einfluß aus. Eine mit Elektrizität geschwängerte Atmosphäre und eine Temperatur, welche innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu ge¬ wissen Jahreszeiten zwischen 50 und 100 Grad Fahrenheit wechselt, fördern jenen dem Amerikaner eignen Geist der Unruhe. Ein ungeheures Land, endlos scheinend wie der Ozean, giebt seinem schrankenlosen Ehrgeize Nahrung. Bei europäischen Dichtern und Schriftstellern überwiegt unter den Natureindrücken die Erhabenheit der Zeit. Sie sprechen von den ewigen Bergen, den unversieg- lichen Flüssen, dem Wechsel der Jahreszeiten. Bei den Amerikanern ist es viel¬ mehr die Ausdehnung des Raumes, welche ihre Vorstellung beherrscht; und während die Europäer in Gegenwart der Unendlichkeit der Zeit die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins empfinden, vergegenwärtigen sich die Amerikaner lieber die Unendlichkeit des Raumes, um sich der menschlichen Beschränktheit bewußt zu werden. Von nichts wird ein Reisender in Amerika so lebhaft betroffen, als von der Erscheinung des Riesenhaften. Die Strome, Seen, Wälder, Ebenen und Thäler verdanken ihre Großartigkeit zumeist ihrer Größe, und nach diesem Maßstabe richten sich auch die künstlerischen Begriffe der Amerikaner. Im Ver¬ gleich mit den Europäern haben sie an Flächenraum voraus, was jene an Alter voraus haben. Sie haben die Hoffnungen eines Kontinents unsern tausend¬ jährigen Erinnerungen gegeuüberzusetzen. Während der Europäer erinnerungs- voll zurückschaut, schaut der Amerikaner ahnungsvoll vorwärts. Sein Denken und Handeln dringt beständig in leere Räume ein. Die Auswanderung ist der normale Zustand eines großen Teiles der Bewohner Amerikas. Das Band, das die eine Generation mit der andern verbindet, ist locker. Wie ihr äußerer Mensch beständig auf dem Sprunge ist, so auch ihr innerer; der mangelnden Kontinuität

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/568>, abgerufen am 28.07.2024.