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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Wahrheit liber die Katastrophe von Jena.

Linie für den Militär von Bedeutung, so enthält es doch auch für andre Leser
beherzigenswerte Lehren, eine Warnung vor Verkennung der Zeichen der Zeit,
vor Überhebung, vor unüberlegtem Urteilen und eine Mahnung zur Wachsamkeit
und Treue.

Wir stellen das Ergebnis, zu welchem der Verfasser des Werkes gegen den
Schluß seiner Betrachtung und Prüfung hin gelangt, an die Spitze unsers
Berichts. Es lautet: "Nicht junkerlicher Übermut und aristokratische Verstockt¬
heit führten Preußen von Roßbach nach Jena, sondern die Politik, welche List
ohne Kraft anwenden wollte, die "erkünstelte Auffassung der Kriegführung, die
Einwirkung des in seichter Aufklärung, falscher Humanität, Genuß- und Selbst¬
sucht entarteten Zeitgeistes auf das Heer, dessen gedrückte Lage und die daraus
entstehende Scheu, die sich im Kriege darbietenden Mittel rücksichtslos zu ge¬
brauchen, die Zurückhaltung des Königs, welcher zwar schärfer sah als seine
Räte, sich aber ihrem Urteil aus Bescheidenheit unterwarf, die Sorge, dem Lande
zu mißfallen oder es zu belasten, die aus ängstlicher Gewissenhaftigkeit ent¬
sprungene unrichtige Sparsamkeit und endlich eine Pietät für die Vergangen¬
heit, welche sich auf Äußerlichkeiten richtete, nicht auf das Wesen der Sache,
und allmählich das Urteil trübte."

Lange Zeit ist dies ganz oder teilweise verkannt worden. Man übersah
und übertrieb in arger Weise. Die Zeitgenossen schrieben das Unglück vorzugs¬
weise den "Federbüschen," den Obcrgeneralen, zu, und daß ihre Begabung ihrer
Aufgabe nicht völlig entsprach, daß sie gerade im entscheidenden Augenblicke sehr
unglücklich wirkten, lehrt der Hergang. Aber sie waren die besten Kräfte, welche
die preußische Armee damals überhaupt besaß, und nur einem Napoleon nicht
gewachsen, und viele von ihnen erschienen sieben Jahre später als Retter des
Vaterlandes und als siegreiche Führer. Blücher z. B., der ruhmgekrönte Feld¬
herr der Befreiungskriege, führte schon 1806 ein bedeutendes Kommando, und
Generalstabschef während der unglücklichen Doppelschlacht bei Auerstädt und
Jena war niemand anders als der treffliche Scharnhorst. Vor der Niederlage
galt der Herzog von Braunschweig als ein Mann von bewährter Fähigkeit, und
sogar Buchholz gesteht zu, daß man ihn ein halbes Jahrhundert hindurch für
einen der ersten Krieger gehalten habe, dessen Andenken aller Verunglimpfung
zum Trotze noch lange in Ehren bleiben werde. Rüchel war ein ungewöhnlich
begabter Soldat. Von Möllendorf sagt Clausewitz, er sei ein für das Kriegs¬
handwerk sehr wohl ausgerüsteter Mann gewesen, "der in einem Leben voll
großer Begebenheiten viel Ruhm erworben haben würde." Vom Fürsten von
Hohenlohe bemerkt er, seine ganze Individualität habe sich zum Kriege geeignet.
Mustert man die während der Tage bei Jena an hervorragender Stelle handelnden
Personen, so kann man nur die Wahl Phulls und Massenbachs uneingeschränkt
verwerfen; doch darf dabei nicht vergessen werden, daß beide in dem Rufe geist¬
reicher Köpfe standen.


Die Wahrheit liber die Katastrophe von Jena.

Linie für den Militär von Bedeutung, so enthält es doch auch für andre Leser
beherzigenswerte Lehren, eine Warnung vor Verkennung der Zeichen der Zeit,
vor Überhebung, vor unüberlegtem Urteilen und eine Mahnung zur Wachsamkeit
und Treue.

Wir stellen das Ergebnis, zu welchem der Verfasser des Werkes gegen den
Schluß seiner Betrachtung und Prüfung hin gelangt, an die Spitze unsers
Berichts. Es lautet: „Nicht junkerlicher Übermut und aristokratische Verstockt¬
heit führten Preußen von Roßbach nach Jena, sondern die Politik, welche List
ohne Kraft anwenden wollte, die »erkünstelte Auffassung der Kriegführung, die
Einwirkung des in seichter Aufklärung, falscher Humanität, Genuß- und Selbst¬
sucht entarteten Zeitgeistes auf das Heer, dessen gedrückte Lage und die daraus
entstehende Scheu, die sich im Kriege darbietenden Mittel rücksichtslos zu ge¬
brauchen, die Zurückhaltung des Königs, welcher zwar schärfer sah als seine
Räte, sich aber ihrem Urteil aus Bescheidenheit unterwarf, die Sorge, dem Lande
zu mißfallen oder es zu belasten, die aus ängstlicher Gewissenhaftigkeit ent¬
sprungene unrichtige Sparsamkeit und endlich eine Pietät für die Vergangen¬
heit, welche sich auf Äußerlichkeiten richtete, nicht auf das Wesen der Sache,
und allmählich das Urteil trübte."

Lange Zeit ist dies ganz oder teilweise verkannt worden. Man übersah
und übertrieb in arger Weise. Die Zeitgenossen schrieben das Unglück vorzugs¬
weise den „Federbüschen," den Obcrgeneralen, zu, und daß ihre Begabung ihrer
Aufgabe nicht völlig entsprach, daß sie gerade im entscheidenden Augenblicke sehr
unglücklich wirkten, lehrt der Hergang. Aber sie waren die besten Kräfte, welche
die preußische Armee damals überhaupt besaß, und nur einem Napoleon nicht
gewachsen, und viele von ihnen erschienen sieben Jahre später als Retter des
Vaterlandes und als siegreiche Führer. Blücher z. B., der ruhmgekrönte Feld¬
herr der Befreiungskriege, führte schon 1806 ein bedeutendes Kommando, und
Generalstabschef während der unglücklichen Doppelschlacht bei Auerstädt und
Jena war niemand anders als der treffliche Scharnhorst. Vor der Niederlage
galt der Herzog von Braunschweig als ein Mann von bewährter Fähigkeit, und
sogar Buchholz gesteht zu, daß man ihn ein halbes Jahrhundert hindurch für
einen der ersten Krieger gehalten habe, dessen Andenken aller Verunglimpfung
zum Trotze noch lange in Ehren bleiben werde. Rüchel war ein ungewöhnlich
begabter Soldat. Von Möllendorf sagt Clausewitz, er sei ein für das Kriegs¬
handwerk sehr wohl ausgerüsteter Mann gewesen, „der in einem Leben voll
großer Begebenheiten viel Ruhm erworben haben würde." Vom Fürsten von
Hohenlohe bemerkt er, seine ganze Individualität habe sich zum Kriege geeignet.
Mustert man die während der Tage bei Jena an hervorragender Stelle handelnden
Personen, so kann man nur die Wahl Phulls und Massenbachs uneingeschränkt
verwerfen; doch darf dabei nicht vergessen werden, daß beide in dem Rufe geist¬
reicher Köpfe standen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/558>, abgerufen am 01.09.2024.