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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Fortschritte der sozialpolitischen Debatte.

Häupten, das Halber Programm neige zum Staatssozialismus, mache gewisser¬
maßen den wirtschaftspolitischen Plänen des deutschen Reichskanzlers zu große
Zugeständnisse, woraus sich gewissermaßen von selbst ergiebt, daß die Aufgaben
und Interessen der katholischen Kirche im Programm vernachlässigt wurden. Hier¬
durch aber verbirgt man nur den eigentlichen Grund der Opposition, nämlich
den, daß überhaupt keine Neigung vorhanden ist, selbst die unumgänglichsten
Opfer wenigstens in der strikten und umfassenden Weise, wie sie die soziale Lage
erheischt, zu bringen. Die Kirche legt den Hauptnachdruck auf die christliche
Charitas. Das ist zwar eine moralische, eine Gewissenspflicht; aber leider
glaubt man sich auch in religiösen Kreisen mit solchen weit leichter abfinden
zu können als rin festen Bestimmungen, die materiell bindend sind und deren
Erfüllung, wenn es sein muß, erzwungen werden kann. Auch in diesen Kreisen
will man Freiheit, nämlich für sich. Mit der Vergütung, welche man im so¬
genannten freien Arbeitsvertrag feststellt, will man nach wie vor seine Verbind¬
lichkeiten den Arbeitern gegenüber erledigt wissen. Was man dann mehr thut,
soll freier Wille, soll Wohlthat sein.

Diese Grundtendenz scheint anch die des katholischen Fabrikantenvereins
"Arbeiterwohl" zu sein, obgleich wir voraussetzen, daß der Gründer desselben,
Kaplan Hitze, eigentlich praktisch weitergehen wollte. Er wollte doch nicht
gerade das, was die christliche Charitas fordert, so ganz als Wohlthat behan¬
delt wissen, und die Übung der Charitas den Arbeitern gegenüber selbst sollte
jedenfalls den Arbeitgebern als Pflicht erscheinen -- freilich eine Pflicht, zu
der sie nicht das Staatsgesetz, wohl aber ihr christliches Bewußtsein und Ge¬
wissen dränge. Allein die Erfahrung muß doch hier bereits gelehrt haben,
daß sich große Erwartungen schwerlich erfüllen werden. Die Mustereinrichtung
in München - Gladbach dürfte kaum sonderlich zur Nachahmung veranlaßt
haben und auch für sich selbst den daran geknüpften Erwartungen nur unvoll¬
kommen entsprechen, und zwar besonders bei längerem Bestand. Vielen Fa¬
brikanten, die Mitglieder des Vereins "Arbeitcrwohl" sind, genügt diese
Mitgliedschaft und der kleine Vereinsbeitrag, den sie zahlen, völlig, um
ihr Gewissen zu befriedigen und ihnen die moralische Genugthuung zu
geben, daß sie auch ihrerseits beitragen, die sozialen Schwierigkeiten zu be¬
kämpfen.

Diesen Leuten kommt nun aber das, was die Halber Beschlüsse oder
Thesen, wie sie der Fürst Löwenstein in einer entschuldigenden Erklärung, die
ihm die Opposition wider jene abnötigte, nennt, trotz ihrer vorsichtigen,
milden Ausdrucksweise doch Bestimmtes fordern, wenig gelegen. Hier werden
bestimmte Entschlüsse und infolge derselben wird bestimmtes Thun beansprucht.
Und sicher handelt sichs auch um Opfer, die nicht klein sind. Daher ist es
denn nicht genug, daß man die Beschlüsse des Staatssozialismus im Gegensatz
zum kirchlichen Interesse anklagt, sondern man wendet sich auch persönlich gegen


Grenzboten IV. 1883. 69
Fortschritte der sozialpolitischen Debatte.

Häupten, das Halber Programm neige zum Staatssozialismus, mache gewisser¬
maßen den wirtschaftspolitischen Plänen des deutschen Reichskanzlers zu große
Zugeständnisse, woraus sich gewissermaßen von selbst ergiebt, daß die Aufgaben
und Interessen der katholischen Kirche im Programm vernachlässigt wurden. Hier¬
durch aber verbirgt man nur den eigentlichen Grund der Opposition, nämlich
den, daß überhaupt keine Neigung vorhanden ist, selbst die unumgänglichsten
Opfer wenigstens in der strikten und umfassenden Weise, wie sie die soziale Lage
erheischt, zu bringen. Die Kirche legt den Hauptnachdruck auf die christliche
Charitas. Das ist zwar eine moralische, eine Gewissenspflicht; aber leider
glaubt man sich auch in religiösen Kreisen mit solchen weit leichter abfinden
zu können als rin festen Bestimmungen, die materiell bindend sind und deren
Erfüllung, wenn es sein muß, erzwungen werden kann. Auch in diesen Kreisen
will man Freiheit, nämlich für sich. Mit der Vergütung, welche man im so¬
genannten freien Arbeitsvertrag feststellt, will man nach wie vor seine Verbind¬
lichkeiten den Arbeitern gegenüber erledigt wissen. Was man dann mehr thut,
soll freier Wille, soll Wohlthat sein.

Diese Grundtendenz scheint anch die des katholischen Fabrikantenvereins
„Arbeiterwohl" zu sein, obgleich wir voraussetzen, daß der Gründer desselben,
Kaplan Hitze, eigentlich praktisch weitergehen wollte. Er wollte doch nicht
gerade das, was die christliche Charitas fordert, so ganz als Wohlthat behan¬
delt wissen, und die Übung der Charitas den Arbeitern gegenüber selbst sollte
jedenfalls den Arbeitgebern als Pflicht erscheinen — freilich eine Pflicht, zu
der sie nicht das Staatsgesetz, wohl aber ihr christliches Bewußtsein und Ge¬
wissen dränge. Allein die Erfahrung muß doch hier bereits gelehrt haben,
daß sich große Erwartungen schwerlich erfüllen werden. Die Mustereinrichtung
in München - Gladbach dürfte kaum sonderlich zur Nachahmung veranlaßt
haben und auch für sich selbst den daran geknüpften Erwartungen nur unvoll¬
kommen entsprechen, und zwar besonders bei längerem Bestand. Vielen Fa¬
brikanten, die Mitglieder des Vereins „Arbeitcrwohl" sind, genügt diese
Mitgliedschaft und der kleine Vereinsbeitrag, den sie zahlen, völlig, um
ihr Gewissen zu befriedigen und ihnen die moralische Genugthuung zu
geben, daß sie auch ihrerseits beitragen, die sozialen Schwierigkeiten zu be¬
kämpfen.

Diesen Leuten kommt nun aber das, was die Halber Beschlüsse oder
Thesen, wie sie der Fürst Löwenstein in einer entschuldigenden Erklärung, die
ihm die Opposition wider jene abnötigte, nennt, trotz ihrer vorsichtigen,
milden Ausdrucksweise doch Bestimmtes fordern, wenig gelegen. Hier werden
bestimmte Entschlüsse und infolge derselben wird bestimmtes Thun beansprucht.
Und sicher handelt sichs auch um Opfer, die nicht klein sind. Daher ist es
denn nicht genug, daß man die Beschlüsse des Staatssozialismus im Gegensatz
zum kirchlichen Interesse anklagt, sondern man wendet sich auch persönlich gegen


Grenzboten IV. 1883. 69
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/555>, abgerufen am 28.07.2024.