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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

den Stoff zu einer Gegenüberstellung dieser Elemente, welche durch die Komposition
eines Gedichts erheischt wurde, dessen Kern aus andern Elementen, wie wir gesehen,
entstanden war. So entstand als Repräsentant des Goethischen Verstandes der
graziöseste und geistreichste aller Teufel. Er hat immer Recht, denn er zeigt nur
die Natur der Dinge, nur freilich nicht die ganze Natur. Er übertreibt niemals,
er überschreitet nie die Bescheidenheit der Natur, weil die Natur, wie sie sich im
Herzen regt, allein schon genug verlangt. Er ist nur ein wenig konsequenter und
bewußter und repräsentirt dadurch erst recht den Verstand. Diese Ruhe, Sicher¬
heit, Heiterkeit, die sich niemals aufblähen, sind bezaubernd. Der Dichter hat
einige andre Gestalten aus demselben Kern geschnitten, Carlos, Antonio u. s. w.,
aber das phantastische Element, in welchem Mephistopheles webt, hat dem
Dichter gestattet, der Figur eine Weite und Freiheit des geistigen Horizonts zu
leihen, dessen Gedankenfülle überall der lebendigsten Anschauung entsproßt und
mit einer Kraft der Phantasie und einer nie versiegenden Natürlichkeit des
Witzes ausgestattet ist, welche diese Figur über alle ihrer Art emporhebt.

Neuerdings hat Hermann Grimm eine eigne Genealogie des Mephisto¬
pheles aufgestellt. Mit ihm setze ich mich am Schlüsse dieses Kapitels aus¬
einander.

Auch.Faust reprüsentirt die Wahrheit. Denn beide Anschauungen sind
wahr, die eine, welche aus der Aufnahme der harmonischen Welt den Glanz
der Gottheit im eignen Innern hervordringen sieht und die Sehnsucht nach
diesem Anblick im Herzen trägt, und die andre, welche nur den rücksichtslosen
Drang des vielfachen Lebendigen sieht. Die Pflicht der Menschheit ist es, aus
der zweiten Welt die erste als Kunstwerk zu schaffen, und das Drama der Ge¬
schichte besteht in der immer sich erneuerten Arbeit an diesem Kunstwerke.

Die Figur Gretchens bedarf keines Worts der Erläuterung oder des Preises.
Über Faust ist noch ein Wort hinzuzufügen. Ein zwanzigjähriger Jüngling
hat in dieser Figur sein Ebenbild geschaffen, aber mit vollem Recht hat der
Jüngling dieses Ebenbild als Mann geschaffen. Man könnte sagen, die Jüng¬
lingszeit des Genius ist so reif wie die Mannheit der andern Sterblichen. Wem
dies aber zuviel Verherrlichung des Genius sein sollte, dem sagen wir, daß
alles, was der fünfundzwanzigjährige Goethe durchlebt hatte, wenn er es poetisch
als Erlebnisse einer Jünglingsgestalt hingestellt hätte, von der Welt bis auf
den heutigen Tag nicht gläubig angenommen worden wäre. Es giebt keine
Anschauung einer Entstehung geistiger Resultate, die sich in Augenblicke zu¬
sammendrängt. Diese Entstehung wird nur glaubwürdig durch eine solche Breite
der Erfahrung, welche einem geläufigen Maß entspricht. Soviel über diesen
Punkt.

Die Nebenfiguren Wagner, Martha, die Studenten konnte der Dichter
aus dem Leben schöpfen, wenn er in die gesehenen Umrisse die Fülle und
Rundung seines Geistes hineinlegte. Nach Genealogien brauchen wir nicht zu


Die Entstehung des Faust.

den Stoff zu einer Gegenüberstellung dieser Elemente, welche durch die Komposition
eines Gedichts erheischt wurde, dessen Kern aus andern Elementen, wie wir gesehen,
entstanden war. So entstand als Repräsentant des Goethischen Verstandes der
graziöseste und geistreichste aller Teufel. Er hat immer Recht, denn er zeigt nur
die Natur der Dinge, nur freilich nicht die ganze Natur. Er übertreibt niemals,
er überschreitet nie die Bescheidenheit der Natur, weil die Natur, wie sie sich im
Herzen regt, allein schon genug verlangt. Er ist nur ein wenig konsequenter und
bewußter und repräsentirt dadurch erst recht den Verstand. Diese Ruhe, Sicher¬
heit, Heiterkeit, die sich niemals aufblähen, sind bezaubernd. Der Dichter hat
einige andre Gestalten aus demselben Kern geschnitten, Carlos, Antonio u. s. w.,
aber das phantastische Element, in welchem Mephistopheles webt, hat dem
Dichter gestattet, der Figur eine Weite und Freiheit des geistigen Horizonts zu
leihen, dessen Gedankenfülle überall der lebendigsten Anschauung entsproßt und
mit einer Kraft der Phantasie und einer nie versiegenden Natürlichkeit des
Witzes ausgestattet ist, welche diese Figur über alle ihrer Art emporhebt.

Neuerdings hat Hermann Grimm eine eigne Genealogie des Mephisto¬
pheles aufgestellt. Mit ihm setze ich mich am Schlüsse dieses Kapitels aus¬
einander.

Auch.Faust reprüsentirt die Wahrheit. Denn beide Anschauungen sind
wahr, die eine, welche aus der Aufnahme der harmonischen Welt den Glanz
der Gottheit im eignen Innern hervordringen sieht und die Sehnsucht nach
diesem Anblick im Herzen trägt, und die andre, welche nur den rücksichtslosen
Drang des vielfachen Lebendigen sieht. Die Pflicht der Menschheit ist es, aus
der zweiten Welt die erste als Kunstwerk zu schaffen, und das Drama der Ge¬
schichte besteht in der immer sich erneuerten Arbeit an diesem Kunstwerke.

Die Figur Gretchens bedarf keines Worts der Erläuterung oder des Preises.
Über Faust ist noch ein Wort hinzuzufügen. Ein zwanzigjähriger Jüngling
hat in dieser Figur sein Ebenbild geschaffen, aber mit vollem Recht hat der
Jüngling dieses Ebenbild als Mann geschaffen. Man könnte sagen, die Jüng¬
lingszeit des Genius ist so reif wie die Mannheit der andern Sterblichen. Wem
dies aber zuviel Verherrlichung des Genius sein sollte, dem sagen wir, daß
alles, was der fünfundzwanzigjährige Goethe durchlebt hatte, wenn er es poetisch
als Erlebnisse einer Jünglingsgestalt hingestellt hätte, von der Welt bis auf
den heutigen Tag nicht gläubig angenommen worden wäre. Es giebt keine
Anschauung einer Entstehung geistiger Resultate, die sich in Augenblicke zu¬
sammendrängt. Diese Entstehung wird nur glaubwürdig durch eine solche Breite
der Erfahrung, welche einem geläufigen Maß entspricht. Soviel über diesen
Punkt.

Die Nebenfiguren Wagner, Martha, die Studenten konnte der Dichter
aus dem Leben schöpfen, wenn er in die gesehenen Umrisse die Fülle und
Rundung seines Geistes hineinlegte. Nach Genealogien brauchen wir nicht zu


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[0511] Die Entstehung des Faust. den Stoff zu einer Gegenüberstellung dieser Elemente, welche durch die Komposition eines Gedichts erheischt wurde, dessen Kern aus andern Elementen, wie wir gesehen, entstanden war. So entstand als Repräsentant des Goethischen Verstandes der graziöseste und geistreichste aller Teufel. Er hat immer Recht, denn er zeigt nur die Natur der Dinge, nur freilich nicht die ganze Natur. Er übertreibt niemals, er überschreitet nie die Bescheidenheit der Natur, weil die Natur, wie sie sich im Herzen regt, allein schon genug verlangt. Er ist nur ein wenig konsequenter und bewußter und repräsentirt dadurch erst recht den Verstand. Diese Ruhe, Sicher¬ heit, Heiterkeit, die sich niemals aufblähen, sind bezaubernd. Der Dichter hat einige andre Gestalten aus demselben Kern geschnitten, Carlos, Antonio u. s. w., aber das phantastische Element, in welchem Mephistopheles webt, hat dem Dichter gestattet, der Figur eine Weite und Freiheit des geistigen Horizonts zu leihen, dessen Gedankenfülle überall der lebendigsten Anschauung entsproßt und mit einer Kraft der Phantasie und einer nie versiegenden Natürlichkeit des Witzes ausgestattet ist, welche diese Figur über alle ihrer Art emporhebt. Neuerdings hat Hermann Grimm eine eigne Genealogie des Mephisto¬ pheles aufgestellt. Mit ihm setze ich mich am Schlüsse dieses Kapitels aus¬ einander. Auch.Faust reprüsentirt die Wahrheit. Denn beide Anschauungen sind wahr, die eine, welche aus der Aufnahme der harmonischen Welt den Glanz der Gottheit im eignen Innern hervordringen sieht und die Sehnsucht nach diesem Anblick im Herzen trägt, und die andre, welche nur den rücksichtslosen Drang des vielfachen Lebendigen sieht. Die Pflicht der Menschheit ist es, aus der zweiten Welt die erste als Kunstwerk zu schaffen, und das Drama der Ge¬ schichte besteht in der immer sich erneuerten Arbeit an diesem Kunstwerke. Die Figur Gretchens bedarf keines Worts der Erläuterung oder des Preises. Über Faust ist noch ein Wort hinzuzufügen. Ein zwanzigjähriger Jüngling hat in dieser Figur sein Ebenbild geschaffen, aber mit vollem Recht hat der Jüngling dieses Ebenbild als Mann geschaffen. Man könnte sagen, die Jüng¬ lingszeit des Genius ist so reif wie die Mannheit der andern Sterblichen. Wem dies aber zuviel Verherrlichung des Genius sein sollte, dem sagen wir, daß alles, was der fünfundzwanzigjährige Goethe durchlebt hatte, wenn er es poetisch als Erlebnisse einer Jünglingsgestalt hingestellt hätte, von der Welt bis auf den heutigen Tag nicht gläubig angenommen worden wäre. Es giebt keine Anschauung einer Entstehung geistiger Resultate, die sich in Augenblicke zu¬ sammendrängt. Diese Entstehung wird nur glaubwürdig durch eine solche Breite der Erfahrung, welche einem geläufigen Maß entspricht. Soviel über diesen Punkt. Die Nebenfiguren Wagner, Martha, die Studenten konnte der Dichter aus dem Leben schöpfen, wenn er in die gesehenen Umrisse die Fülle und Rundung seines Geistes hineinlegte. Nach Genealogien brauchen wir nicht zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/511>, abgerufen am 27.07.2024.