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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Vie Entstehung des Faust,

Semele vor der unverborgenen Gottheit des Zeus, Faust besteht darauf, diese
Kraft zu erhalten, er erhält sie und erlebt, daß sein irdischer Geist die Wir¬
kungen dieser Kraft weder ertragen noch lenken kann, sodaß er vor dein Anblick
ihrer Verheerungen der Vernichtung entgegenstürzt.


d) Die Figuren.

Hier müssen wir verfolgen, wie der Dichter die Themen, die ans seiner
Seele emporquellend sich verbanden und bestimmten, zu poetischen Erschei¬
nungen durchgebildet hat. Fausts erkenntnisdurstiger Geist wendet sich zuerst
an den Makrokosmos. Unter diesem ist zu verstehen das Abbild des Weltalls
als lebendiger Werkstatt. Dieses Abbild gewährt dem Geiste das erhabenste
Schauspiel, aber nur ein Schauspiel. Die Vorstellung des Weltalls, die wir
uns bilden, und wie wir sie uns bilden mögen, hat immer keinen andern Inhalt
und kann ihn nicht haben, als den der unendlichen physischen Natur. Das
Höchste im Weltall, der empfindende, wollende, bewußte Geist, bleibt für uns
nur lebendig vorstellbar in der irdischen Erscheinung, in der wir ihn leben und
kennen. Mit dem Weltall können wir ihn nicht in Verbindung bringen, weder
mit der Einheit noch mit der unendlichen Verschiedenheit desselben. So er¬
scheint das Weltall als geisterfüllte Vorstellung uns unerreichbar. Die Vor¬
stellung des Weltalls, die wir uns bilden, ist nur ein Schauspiel, kein vom
Geist, wie er in uns waltet, getragener Vorgang. So wendet Faust sich von
diesem Schauspiel ab -- ohne das Gefühl unheilbarer Sehnsucht. Denn im
Geiste liegt die Ahnung, die eine kühne Philosophie, deren Auftreten Goethe
noch erlebte, später auszusprechen gewagt hat, daß dieses Weltall nur durch
unsre Vorstellung außer uns gesetzt ist, als ihre notwendige, aber nicht ihre
höchste Produktion. Die wahre Sehnsucht, das göttliche Leben zu teilen, em¬
pfindet Faust dem Mikrokosmus oder dem Erdgeiste gegenüber. Der Makro¬
kosmos, wenn auch die wundervolle poetische Ausschmückung dieser Vorstellung
dem Dichter angehört, ist doch in seinen Umrissen ein der alten Astrologie ge¬
läufiges, von ihr entlehntes Bild. Auch der Mikrokosmos kommt in derselben
als der natürliche Gegensatz zum Makrokosmos vor. Die Art aber, wie in
der Faustdichtung das Bild des Erdgeistes ausgeführt ist, gehört ganz dem
Dichter an. Wie ist ihm diese Anschauung gekommen?

Zwischen den Jahren 1771 und 1774 lernte Goethe, wie er uns im vier¬
zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit erzählt, zum erstenmal die Ethik des
Spinoza kennen. Im Jahre 1774 vertiefte er die erste Bekanntschaft, veranlaßt
durch die polemischen Anmerkungen, welche einer Übersetzung der Biographie
des Colerus beigegeben waren, und durch den Artikel Spinoza in Bayles
Wörterbuch. Wie der Geist des Dichters schon bei der ersten Berührung durch
den Philosophen ergriffen worden, hat er uns berichtet. Bernhard Suphan hat in
einer äußerst feinen und gründlichen Untersuchung, wie man sie von diesem


Vie Entstehung des Faust,

Semele vor der unverborgenen Gottheit des Zeus, Faust besteht darauf, diese
Kraft zu erhalten, er erhält sie und erlebt, daß sein irdischer Geist die Wir¬
kungen dieser Kraft weder ertragen noch lenken kann, sodaß er vor dein Anblick
ihrer Verheerungen der Vernichtung entgegenstürzt.


d) Die Figuren.

Hier müssen wir verfolgen, wie der Dichter die Themen, die ans seiner
Seele emporquellend sich verbanden und bestimmten, zu poetischen Erschei¬
nungen durchgebildet hat. Fausts erkenntnisdurstiger Geist wendet sich zuerst
an den Makrokosmos. Unter diesem ist zu verstehen das Abbild des Weltalls
als lebendiger Werkstatt. Dieses Abbild gewährt dem Geiste das erhabenste
Schauspiel, aber nur ein Schauspiel. Die Vorstellung des Weltalls, die wir
uns bilden, und wie wir sie uns bilden mögen, hat immer keinen andern Inhalt
und kann ihn nicht haben, als den der unendlichen physischen Natur. Das
Höchste im Weltall, der empfindende, wollende, bewußte Geist, bleibt für uns
nur lebendig vorstellbar in der irdischen Erscheinung, in der wir ihn leben und
kennen. Mit dem Weltall können wir ihn nicht in Verbindung bringen, weder
mit der Einheit noch mit der unendlichen Verschiedenheit desselben. So er¬
scheint das Weltall als geisterfüllte Vorstellung uns unerreichbar. Die Vor¬
stellung des Weltalls, die wir uns bilden, ist nur ein Schauspiel, kein vom
Geist, wie er in uns waltet, getragener Vorgang. So wendet Faust sich von
diesem Schauspiel ab — ohne das Gefühl unheilbarer Sehnsucht. Denn im
Geiste liegt die Ahnung, die eine kühne Philosophie, deren Auftreten Goethe
noch erlebte, später auszusprechen gewagt hat, daß dieses Weltall nur durch
unsre Vorstellung außer uns gesetzt ist, als ihre notwendige, aber nicht ihre
höchste Produktion. Die wahre Sehnsucht, das göttliche Leben zu teilen, em¬
pfindet Faust dem Mikrokosmus oder dem Erdgeiste gegenüber. Der Makro¬
kosmos, wenn auch die wundervolle poetische Ausschmückung dieser Vorstellung
dem Dichter angehört, ist doch in seinen Umrissen ein der alten Astrologie ge¬
läufiges, von ihr entlehntes Bild. Auch der Mikrokosmos kommt in derselben
als der natürliche Gegensatz zum Makrokosmos vor. Die Art aber, wie in
der Faustdichtung das Bild des Erdgeistes ausgeführt ist, gehört ganz dem
Dichter an. Wie ist ihm diese Anschauung gekommen?

Zwischen den Jahren 1771 und 1774 lernte Goethe, wie er uns im vier¬
zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit erzählt, zum erstenmal die Ethik des
Spinoza kennen. Im Jahre 1774 vertiefte er die erste Bekanntschaft, veranlaßt
durch die polemischen Anmerkungen, welche einer Übersetzung der Biographie
des Colerus beigegeben waren, und durch den Artikel Spinoza in Bayles
Wörterbuch. Wie der Geist des Dichters schon bei der ersten Berührung durch
den Philosophen ergriffen worden, hat er uns berichtet. Bernhard Suphan hat in
einer äußerst feinen und gründlichen Untersuchung, wie man sie von diesem


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[0503] Vie Entstehung des Faust, Semele vor der unverborgenen Gottheit des Zeus, Faust besteht darauf, diese Kraft zu erhalten, er erhält sie und erlebt, daß sein irdischer Geist die Wir¬ kungen dieser Kraft weder ertragen noch lenken kann, sodaß er vor dein Anblick ihrer Verheerungen der Vernichtung entgegenstürzt. d) Die Figuren. Hier müssen wir verfolgen, wie der Dichter die Themen, die ans seiner Seele emporquellend sich verbanden und bestimmten, zu poetischen Erschei¬ nungen durchgebildet hat. Fausts erkenntnisdurstiger Geist wendet sich zuerst an den Makrokosmos. Unter diesem ist zu verstehen das Abbild des Weltalls als lebendiger Werkstatt. Dieses Abbild gewährt dem Geiste das erhabenste Schauspiel, aber nur ein Schauspiel. Die Vorstellung des Weltalls, die wir uns bilden, und wie wir sie uns bilden mögen, hat immer keinen andern Inhalt und kann ihn nicht haben, als den der unendlichen physischen Natur. Das Höchste im Weltall, der empfindende, wollende, bewußte Geist, bleibt für uns nur lebendig vorstellbar in der irdischen Erscheinung, in der wir ihn leben und kennen. Mit dem Weltall können wir ihn nicht in Verbindung bringen, weder mit der Einheit noch mit der unendlichen Verschiedenheit desselben. So er¬ scheint das Weltall als geisterfüllte Vorstellung uns unerreichbar. Die Vor¬ stellung des Weltalls, die wir uns bilden, ist nur ein Schauspiel, kein vom Geist, wie er in uns waltet, getragener Vorgang. So wendet Faust sich von diesem Schauspiel ab — ohne das Gefühl unheilbarer Sehnsucht. Denn im Geiste liegt die Ahnung, die eine kühne Philosophie, deren Auftreten Goethe noch erlebte, später auszusprechen gewagt hat, daß dieses Weltall nur durch unsre Vorstellung außer uns gesetzt ist, als ihre notwendige, aber nicht ihre höchste Produktion. Die wahre Sehnsucht, das göttliche Leben zu teilen, em¬ pfindet Faust dem Mikrokosmus oder dem Erdgeiste gegenüber. Der Makro¬ kosmos, wenn auch die wundervolle poetische Ausschmückung dieser Vorstellung dem Dichter angehört, ist doch in seinen Umrissen ein der alten Astrologie ge¬ läufiges, von ihr entlehntes Bild. Auch der Mikrokosmos kommt in derselben als der natürliche Gegensatz zum Makrokosmos vor. Die Art aber, wie in der Faustdichtung das Bild des Erdgeistes ausgeführt ist, gehört ganz dem Dichter an. Wie ist ihm diese Anschauung gekommen? Zwischen den Jahren 1771 und 1774 lernte Goethe, wie er uns im vier¬ zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit erzählt, zum erstenmal die Ethik des Spinoza kennen. Im Jahre 1774 vertiefte er die erste Bekanntschaft, veranlaßt durch die polemischen Anmerkungen, welche einer Übersetzung der Biographie des Colerus beigegeben waren, und durch den Artikel Spinoza in Bayles Wörterbuch. Wie der Geist des Dichters schon bei der ersten Berührung durch den Philosophen ergriffen worden, hat er uns berichtet. Bernhard Suphan hat in einer äußerst feinen und gründlichen Untersuchung, wie man sie von diesem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/503>, abgerufen am 27.07.2024.