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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die historische Kommission in München.

Urteile aller andern Nationen überlassen dürfen, welche Stellung in der Ge¬
schichte des menschlichen Geistes den Deutsche,? anzuweisen sei.

Der dritte weitgreifende Vorschlag, mit dem Ranke hervortrat, zielte auf
eine allgemeine Biographie der namhaften Deutschen aller Lebens¬
stellungen und Stände in lexikalischer Form, welche ein Seitenstiick zu der fran¬
zösischen LioAi'g,xlüö uiüvA'ssIls darbieten sollte. Geraume Zeit verging, bis
die Kommission über die Mittel verfügte, auch diese Aufgabe in Angriff zu
nehmen. Erst im Jahre 1868 gelangte ein erneuerter gemeinsamer Antrag von
Ranke und Döllinger zur Annahme, nunmehr die Bearbeitung einer Allgemeinen
Deutschen Biographie zu beginnen, und erst 1875 konnte der erste Band der¬
selben erscheinen. Die Leitung des Riesenwerkes ward der Umsicht des Frei¬
herrn von Lilien er on anvertraut, welchem seit 1873 Wegele für den streng
historischen Teil der Aufgabe in der Redaktion zur Seite steht. "Mau er¬
schrickt, bemerkte einst Ranke, wenn man sich den Umfang vorstellt und die
Schwierigkeiten erwägt."

Das Wort war ein prophetisches. Zwanzig Bände sollte dein ursprüng¬
lichen Plane nach das ganze Werk umfassen; aber schon jetzt, wo es erst bei
dem Buchstaben L angekommen ist, hat es bereits siebzehn erreicht. Schon diese
Zahlen zeigen, wie weit man von dem aufgestellten Voranschlag, der selbstver¬
ständlich nicht genau eingehalten werden konnte, abgewichen ist.

Man gedachte anfänglich selbst den wichtigsten Persönlichkeiten nicht mehr
als einen Bogen, d. h. also sechzehn Seiten, zu widmen; dennoch finden wir
Artikel, welche in keiner Weise mehr das Gepräge einer sür ein lexikalisches Werk
bestimmten Arbeit tragen, sondern zu ganzen Essays erweitert sind. Giesebrecht
findet -- und seine Ansicht darf wohl als die in der Kommission geltende an¬
gesehen werden --, daß durch dieses Überschreiten des ursprünglichen Maßes
das Werk gewonnen habe. "Man wird, sagte er, diese Erweiterung des Werkes
kaum bedauern; denn wie einerseits der möglichste Reichtum an Artikeln er¬
wünscht sein muß, so wird es andrerseits mit Dank anerkannt werden, daß die
Biographien hervorragender Persönlichkeiten sich nicht auf flüchtige Umrisse be¬
schränken, sondern ein lebensvolles Bild zu geben suchen."

Wir können diesem Urteile nur in Betreff des ersten Punktes beistimmen,
den zweiten müssen wir ablehnen. Es sei gestattet, diese unsre abweichende An¬
sicht kurz zu begründen. Zunächst muß der Wert solcher ausgeführten, essay¬
artigen Artikel für den wissenschaftlichen Benutzer geleugnet werden. Kaum wird
ein solcher die Allgemeine Biographie aufschlagen, wenn er sich über eine Per¬
sönlichkeit wie Goethe oder über irgend einen deutschen Kaiser, z. B. Karl V.,
Rats erholen will, es müßte denn sein, daß er sich für die spezielle Ansicht des
Autors eines derartigen Artikels interessirte.. Diese aber kommt in unserm Falle
sicher erst in zweiter Linie in Frage, da Zuverlässigkeit in der Angabe der That¬
sachen die erste Bedingung, ja fast die einzige, für einen Artikel der Allgemeinen


Die historische Kommission in München.

Urteile aller andern Nationen überlassen dürfen, welche Stellung in der Ge¬
schichte des menschlichen Geistes den Deutsche,? anzuweisen sei.

Der dritte weitgreifende Vorschlag, mit dem Ranke hervortrat, zielte auf
eine allgemeine Biographie der namhaften Deutschen aller Lebens¬
stellungen und Stände in lexikalischer Form, welche ein Seitenstiick zu der fran¬
zösischen LioAi'g,xlüö uiüvA'ssIls darbieten sollte. Geraume Zeit verging, bis
die Kommission über die Mittel verfügte, auch diese Aufgabe in Angriff zu
nehmen. Erst im Jahre 1868 gelangte ein erneuerter gemeinsamer Antrag von
Ranke und Döllinger zur Annahme, nunmehr die Bearbeitung einer Allgemeinen
Deutschen Biographie zu beginnen, und erst 1875 konnte der erste Band der¬
selben erscheinen. Die Leitung des Riesenwerkes ward der Umsicht des Frei¬
herrn von Lilien er on anvertraut, welchem seit 1873 Wegele für den streng
historischen Teil der Aufgabe in der Redaktion zur Seite steht. „Mau er¬
schrickt, bemerkte einst Ranke, wenn man sich den Umfang vorstellt und die
Schwierigkeiten erwägt."

Das Wort war ein prophetisches. Zwanzig Bände sollte dein ursprüng¬
lichen Plane nach das ganze Werk umfassen; aber schon jetzt, wo es erst bei
dem Buchstaben L angekommen ist, hat es bereits siebzehn erreicht. Schon diese
Zahlen zeigen, wie weit man von dem aufgestellten Voranschlag, der selbstver¬
ständlich nicht genau eingehalten werden konnte, abgewichen ist.

Man gedachte anfänglich selbst den wichtigsten Persönlichkeiten nicht mehr
als einen Bogen, d. h. also sechzehn Seiten, zu widmen; dennoch finden wir
Artikel, welche in keiner Weise mehr das Gepräge einer sür ein lexikalisches Werk
bestimmten Arbeit tragen, sondern zu ganzen Essays erweitert sind. Giesebrecht
findet — und seine Ansicht darf wohl als die in der Kommission geltende an¬
gesehen werden —, daß durch dieses Überschreiten des ursprünglichen Maßes
das Werk gewonnen habe. „Man wird, sagte er, diese Erweiterung des Werkes
kaum bedauern; denn wie einerseits der möglichste Reichtum an Artikeln er¬
wünscht sein muß, so wird es andrerseits mit Dank anerkannt werden, daß die
Biographien hervorragender Persönlichkeiten sich nicht auf flüchtige Umrisse be¬
schränken, sondern ein lebensvolles Bild zu geben suchen."

Wir können diesem Urteile nur in Betreff des ersten Punktes beistimmen,
den zweiten müssen wir ablehnen. Es sei gestattet, diese unsre abweichende An¬
sicht kurz zu begründen. Zunächst muß der Wert solcher ausgeführten, essay¬
artigen Artikel für den wissenschaftlichen Benutzer geleugnet werden. Kaum wird
ein solcher die Allgemeine Biographie aufschlagen, wenn er sich über eine Per¬
sönlichkeit wie Goethe oder über irgend einen deutschen Kaiser, z. B. Karl V.,
Rats erholen will, es müßte denn sein, daß er sich für die spezielle Ansicht des
Autors eines derartigen Artikels interessirte.. Diese aber kommt in unserm Falle
sicher erst in zweiter Linie in Frage, da Zuverlässigkeit in der Angabe der That¬
sachen die erste Bedingung, ja fast die einzige, für einen Artikel der Allgemeinen


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[0494] Die historische Kommission in München. Urteile aller andern Nationen überlassen dürfen, welche Stellung in der Ge¬ schichte des menschlichen Geistes den Deutsche,? anzuweisen sei. Der dritte weitgreifende Vorschlag, mit dem Ranke hervortrat, zielte auf eine allgemeine Biographie der namhaften Deutschen aller Lebens¬ stellungen und Stände in lexikalischer Form, welche ein Seitenstiick zu der fran¬ zösischen LioAi'g,xlüö uiüvA'ssIls darbieten sollte. Geraume Zeit verging, bis die Kommission über die Mittel verfügte, auch diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Erst im Jahre 1868 gelangte ein erneuerter gemeinsamer Antrag von Ranke und Döllinger zur Annahme, nunmehr die Bearbeitung einer Allgemeinen Deutschen Biographie zu beginnen, und erst 1875 konnte der erste Band der¬ selben erscheinen. Die Leitung des Riesenwerkes ward der Umsicht des Frei¬ herrn von Lilien er on anvertraut, welchem seit 1873 Wegele für den streng historischen Teil der Aufgabe in der Redaktion zur Seite steht. „Mau er¬ schrickt, bemerkte einst Ranke, wenn man sich den Umfang vorstellt und die Schwierigkeiten erwägt." Das Wort war ein prophetisches. Zwanzig Bände sollte dein ursprüng¬ lichen Plane nach das ganze Werk umfassen; aber schon jetzt, wo es erst bei dem Buchstaben L angekommen ist, hat es bereits siebzehn erreicht. Schon diese Zahlen zeigen, wie weit man von dem aufgestellten Voranschlag, der selbstver¬ ständlich nicht genau eingehalten werden konnte, abgewichen ist. Man gedachte anfänglich selbst den wichtigsten Persönlichkeiten nicht mehr als einen Bogen, d. h. also sechzehn Seiten, zu widmen; dennoch finden wir Artikel, welche in keiner Weise mehr das Gepräge einer sür ein lexikalisches Werk bestimmten Arbeit tragen, sondern zu ganzen Essays erweitert sind. Giesebrecht findet — und seine Ansicht darf wohl als die in der Kommission geltende an¬ gesehen werden —, daß durch dieses Überschreiten des ursprünglichen Maßes das Werk gewonnen habe. „Man wird, sagte er, diese Erweiterung des Werkes kaum bedauern; denn wie einerseits der möglichste Reichtum an Artikeln er¬ wünscht sein muß, so wird es andrerseits mit Dank anerkannt werden, daß die Biographien hervorragender Persönlichkeiten sich nicht auf flüchtige Umrisse be¬ schränken, sondern ein lebensvolles Bild zu geben suchen." Wir können diesem Urteile nur in Betreff des ersten Punktes beistimmen, den zweiten müssen wir ablehnen. Es sei gestattet, diese unsre abweichende An¬ sicht kurz zu begründen. Zunächst muß der Wert solcher ausgeführten, essay¬ artigen Artikel für den wissenschaftlichen Benutzer geleugnet werden. Kaum wird ein solcher die Allgemeine Biographie aufschlagen, wenn er sich über eine Per¬ sönlichkeit wie Goethe oder über irgend einen deutschen Kaiser, z. B. Karl V., Rats erholen will, es müßte denn sein, daß er sich für die spezielle Ansicht des Autors eines derartigen Artikels interessirte.. Diese aber kommt in unserm Falle sicher erst in zweiter Linie in Frage, da Zuverlässigkeit in der Angabe der That¬ sachen die erste Bedingung, ja fast die einzige, für einen Artikel der Allgemeinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/494>, abgerufen am 28.07.2024.