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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

liegend, in lebhafte Verbindung mit Herder tritt, aber vor dem kritischen Urteil
desselben die Teilnahme an gewissen Gegenständen verbirgt, die sich bei dein
jugendlichen Dichter eingewurzelt hatten und zu poetischen Gestalten ausbilde"
wollten. Es handelt sich um Götz von Berlichingen und Faust. Der Dichter
spricht sich über die Art jener Teilnahme aus und vergleicht seinen damaligen
Gemütszustand geradezu mit demjenigen, der aus den ersten Szenen des Faust
dem Hörer entgegentritt. "Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben,
und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte
es auch im Leben ans allerlei Weise versucht und war immer unbefriedigter und
gequälter zurückgekommen." So heißt es im zehnten Buche von Dichtung und
Wahrheit. Nun zeigt derjenige ein schwaches Auge, der in den ersten Szenen
des Faust nichts weiter sehen kann, als die Widerspiegelung der theosophischen
und alchymistischen Beschäftigungen des Dichters. Daneben hat man noch ge¬
sehen die unerfüllbaren Forderungen, die ein unreifes Genie im Einklang mit
dem Streben seiner Generation an die Erkenntnis der Dinge stellt. Das ist
ungefähr die Weisheit, zu der wir heute dem Eingang des Faust gegenüber
gelangt scheinen -- wenn wir nämlich den gepriesenen kritisch-historischen Pfad
einschlagen. Da kommt doch der wahren Weisheit zehnmal näher die Über¬
schwenglichkeit der philosophischen Kommentare, welche in dem Faust gleich von
Anfang nichts als eitel Offenbarung tiefsinnigen Schauens in das Wesen der
Dinge und der Wissenschaft sehen.

Wir sind aber jetzt nicht bei den Auflösungen, sondern bei den Fragen.
Das Pathos der ersten Faustszenen enthält noch nicht den vollständigen Keim
zu einem dramatischen Gedicht. Zu einem solchen gehört, wie zu einem sym¬
phonischen Gebilde, eine Mehrheit von Themen, die sich mit innerer Notwendig¬
keit auf einander beziehen, einander bekämpfen, einander ergänzen und zu einer
Einheit, positiv oder negativ, zuletzt verschmolzen werden. Aus dem Jahre 1772
macht Goethe in der Selbstbiographie die Bemerkung: Faust war schon vor¬
gerückt. Man mag dies darauf beziehen, daß das Gegenthema zu dem, einfach
oder mehrfach gestalteten, Hauptthema nunmehr gefunden war. Im Jahre 1774
entsteht der Werther. Im Jahre 1772 war der Götz von Berlichingen vollendet.
Aber der Faust hatte nicht stillgestanden. Im September 1774 teilte Goethe
die neuesten Szenen des Faust Klopstock mit, und aus einem Brief Boies, der
Goethe am 15. Oktober desselben Jahres in Frankfurt besuchte, geht hervor,
daß das Stück damals bis auf wenige Szenen fertig gewesen sein muß. (Vgl.
die bezügliche Stelle aus diesem Brief in Löpers Einleitung zu seiner Faust¬
ausgabe S. VII.) Ende März 1776 wurden dem von Karlsruhe zurück¬
kehrenden Klopstock neue Szenen aus Faust vorgelesen. (Andre Zeugnisse für
den dem Abschluß nahen Fortschritt des Gedichts um diese Zeit siehe bei Lvper
a. a. O.) Wir wissen, daß in demselben Jahre der Bund des Dichters mit dem
Hof zu Weimar geschlossen wurde. Am 12. Oktober hatte sich Goethe in Frank-


Die Entstehung des Faust.

liegend, in lebhafte Verbindung mit Herder tritt, aber vor dem kritischen Urteil
desselben die Teilnahme an gewissen Gegenständen verbirgt, die sich bei dein
jugendlichen Dichter eingewurzelt hatten und zu poetischen Gestalten ausbilde»
wollten. Es handelt sich um Götz von Berlichingen und Faust. Der Dichter
spricht sich über die Art jener Teilnahme aus und vergleicht seinen damaligen
Gemütszustand geradezu mit demjenigen, der aus den ersten Szenen des Faust
dem Hörer entgegentritt. „Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben,
und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte
es auch im Leben ans allerlei Weise versucht und war immer unbefriedigter und
gequälter zurückgekommen." So heißt es im zehnten Buche von Dichtung und
Wahrheit. Nun zeigt derjenige ein schwaches Auge, der in den ersten Szenen
des Faust nichts weiter sehen kann, als die Widerspiegelung der theosophischen
und alchymistischen Beschäftigungen des Dichters. Daneben hat man noch ge¬
sehen die unerfüllbaren Forderungen, die ein unreifes Genie im Einklang mit
dem Streben seiner Generation an die Erkenntnis der Dinge stellt. Das ist
ungefähr die Weisheit, zu der wir heute dem Eingang des Faust gegenüber
gelangt scheinen — wenn wir nämlich den gepriesenen kritisch-historischen Pfad
einschlagen. Da kommt doch der wahren Weisheit zehnmal näher die Über¬
schwenglichkeit der philosophischen Kommentare, welche in dem Faust gleich von
Anfang nichts als eitel Offenbarung tiefsinnigen Schauens in das Wesen der
Dinge und der Wissenschaft sehen.

Wir sind aber jetzt nicht bei den Auflösungen, sondern bei den Fragen.
Das Pathos der ersten Faustszenen enthält noch nicht den vollständigen Keim
zu einem dramatischen Gedicht. Zu einem solchen gehört, wie zu einem sym¬
phonischen Gebilde, eine Mehrheit von Themen, die sich mit innerer Notwendig¬
keit auf einander beziehen, einander bekämpfen, einander ergänzen und zu einer
Einheit, positiv oder negativ, zuletzt verschmolzen werden. Aus dem Jahre 1772
macht Goethe in der Selbstbiographie die Bemerkung: Faust war schon vor¬
gerückt. Man mag dies darauf beziehen, daß das Gegenthema zu dem, einfach
oder mehrfach gestalteten, Hauptthema nunmehr gefunden war. Im Jahre 1774
entsteht der Werther. Im Jahre 1772 war der Götz von Berlichingen vollendet.
Aber der Faust hatte nicht stillgestanden. Im September 1774 teilte Goethe
die neuesten Szenen des Faust Klopstock mit, und aus einem Brief Boies, der
Goethe am 15. Oktober desselben Jahres in Frankfurt besuchte, geht hervor,
daß das Stück damals bis auf wenige Szenen fertig gewesen sein muß. (Vgl.
die bezügliche Stelle aus diesem Brief in Löpers Einleitung zu seiner Faust¬
ausgabe S. VII.) Ende März 1776 wurden dem von Karlsruhe zurück¬
kehrenden Klopstock neue Szenen aus Faust vorgelesen. (Andre Zeugnisse für
den dem Abschluß nahen Fortschritt des Gedichts um diese Zeit siehe bei Lvper
a. a. O.) Wir wissen, daß in demselben Jahre der Bund des Dichters mit dem
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[0452] Die Entstehung des Faust. liegend, in lebhafte Verbindung mit Herder tritt, aber vor dem kritischen Urteil desselben die Teilnahme an gewissen Gegenständen verbirgt, die sich bei dein jugendlichen Dichter eingewurzelt hatten und zu poetischen Gestalten ausbilde» wollten. Es handelt sich um Götz von Berlichingen und Faust. Der Dichter spricht sich über die Art jener Teilnahme aus und vergleicht seinen damaligen Gemütszustand geradezu mit demjenigen, der aus den ersten Szenen des Faust dem Hörer entgegentritt. „Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben, und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben ans allerlei Weise versucht und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen." So heißt es im zehnten Buche von Dichtung und Wahrheit. Nun zeigt derjenige ein schwaches Auge, der in den ersten Szenen des Faust nichts weiter sehen kann, als die Widerspiegelung der theosophischen und alchymistischen Beschäftigungen des Dichters. Daneben hat man noch ge¬ sehen die unerfüllbaren Forderungen, die ein unreifes Genie im Einklang mit dem Streben seiner Generation an die Erkenntnis der Dinge stellt. Das ist ungefähr die Weisheit, zu der wir heute dem Eingang des Faust gegenüber gelangt scheinen — wenn wir nämlich den gepriesenen kritisch-historischen Pfad einschlagen. Da kommt doch der wahren Weisheit zehnmal näher die Über¬ schwenglichkeit der philosophischen Kommentare, welche in dem Faust gleich von Anfang nichts als eitel Offenbarung tiefsinnigen Schauens in das Wesen der Dinge und der Wissenschaft sehen. Wir sind aber jetzt nicht bei den Auflösungen, sondern bei den Fragen. Das Pathos der ersten Faustszenen enthält noch nicht den vollständigen Keim zu einem dramatischen Gedicht. Zu einem solchen gehört, wie zu einem sym¬ phonischen Gebilde, eine Mehrheit von Themen, die sich mit innerer Notwendig¬ keit auf einander beziehen, einander bekämpfen, einander ergänzen und zu einer Einheit, positiv oder negativ, zuletzt verschmolzen werden. Aus dem Jahre 1772 macht Goethe in der Selbstbiographie die Bemerkung: Faust war schon vor¬ gerückt. Man mag dies darauf beziehen, daß das Gegenthema zu dem, einfach oder mehrfach gestalteten, Hauptthema nunmehr gefunden war. Im Jahre 1774 entsteht der Werther. Im Jahre 1772 war der Götz von Berlichingen vollendet. Aber der Faust hatte nicht stillgestanden. Im September 1774 teilte Goethe die neuesten Szenen des Faust Klopstock mit, und aus einem Brief Boies, der Goethe am 15. Oktober desselben Jahres in Frankfurt besuchte, geht hervor, daß das Stück damals bis auf wenige Szenen fertig gewesen sein muß. (Vgl. die bezügliche Stelle aus diesem Brief in Löpers Einleitung zu seiner Faust¬ ausgabe S. VII.) Ende März 1776 wurden dem von Karlsruhe zurück¬ kehrenden Klopstock neue Szenen aus Faust vorgelesen. (Andre Zeugnisse für den dem Abschluß nahen Fortschritt des Gedichts um diese Zeit siehe bei Lvper a. a. O.) Wir wissen, daß in demselben Jahre der Bund des Dichters mit dem Hof zu Weimar geschlossen wurde. Am 12. Oktober hatte sich Goethe in Frank-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/452>, abgerufen am 01.09.2024.