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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Zusammenstellungen erworben. Der mir zuvorkommend gewährten Einsicht in
dieselben verdanke ich einige genauere Anhaltspunkte für die nachfolgende Unter¬
suchung. Was die Zuverlässigkeit der "Chronologie" anlangt, so wird man die¬
selbe nach der Quelle, woraus die Angaben meistens entnommen, und nach der
Gewissenhaftigkeit, mit der sie zusammengestellt sind, selten bezweifeln dürfen.
Bedenken können höchstens durch die Frage entstehen, ob der nach den Tage¬
büchern des Dichters arbeitende Chronist die Angaben, die er vor Augen hatte,
bei der zusammendrängenden Darstellung, die ihm oblag, überall in die richtige
Abbreviatur, sozusagen, übersetzt hat. Was die Angaben der "Chronologie"
über die Ursprungsdaten der einzelnen Teile des Faust anlangt, so sind der¬
selben nicht gerade wenige; aber viele hochwünschcnswerte Angaben fehlen, und
öfters sind die Angaben so unbestimmt, daß man nicht weiß, auf welche Teile
sie sich beziehen.

Eine dritte Quelle für die Entstehungsdaten des Faust bilden die mannich-
faltigen, in Briefen über Goethe, an Goethe, von Goethe auf das Gedicht be¬
züglichen Äußerungen. Viele davon sind wiederum so unbestimmt, daß sie sür
sich ohne mannichfaltige Kombination kaum einen Anhalt gewähren. Immerhin
finden sich ein paar unschätzbare Wegweiser darunter.

Aus allen brieflichen Äußerungen über den Faust muß aber eine in sich
zusammenhängende Reihe hervorgehoben werden. Es sind dies die Äußerungen
in dem Schiller-Goethischen Briefwechsel, welche sich von 1794 bis 1801 durch
denselben hindurchziehen. Ganz eigen ist der Eindruck, den man von diesen
Briefsteller empfängt. Sie fesseln wie Hieroglyphen, in denen das anziehendste
Geheimnis niedergelegt ist, zu dem den Schlüssel zu finden man immer und
immer wieder versuchen möchte. Die Unterredung der beiden Freunde bezieht
sich auf die Fortbildung des Faust, nachdem das Fragment von 1790 seit vier
Jahren vorliegt. Schiller bringt der Vollendung des Werkes, dessen frag¬
mentarischen Anfang er den Torso des Herkules nennt, den Enthusiasmus ent¬
gegen, wie ihn ein Dichtergenius dem andern, innig verstandenen und zugleich
begeisterungsvoll in unerreichbarer Höhe gesehenen, darbringen kann. Goethe
erwiedert mit aufrichtiger Dankbarkeit, vermeidet aber jedes bestimmte Eingehen
sowohl auf die eigentlichen Motive, wie sie nach und nach in ihm zur Klarheit
kommen, als auf die Mittel der Ausführung. Er drückt sich über beides, wie
man mit einem Goethischen Ausdruck sagen möchte, zwar eigen und anmutig,
aber durchaus hieroglyphisch aus. Wenn Löper sagt, eine eigne Scheu habe
Goethe abgehalten, Schiller in die Werkstatt seiner Dichtung einzuführen, so
möchte ich sagen eine natürliche Scheu. Kann sich doch der Dichter, ja über¬
haupt jeder schöpferische Arbeiter, in der Werkstatt des eignen Geistes kaum
selbst belauschen. Viel weniger mag er dieselbe noch für einen andern abbilden,
und wäre dies auch ein Freund, vor dem es kein Geheimnis giebt. Aber es
giebt nur ein Geheimnis -- weil nur eine Mitteilung -- fertiger Dinge. Die


Die Entstehung des Faust.

Zusammenstellungen erworben. Der mir zuvorkommend gewährten Einsicht in
dieselben verdanke ich einige genauere Anhaltspunkte für die nachfolgende Unter¬
suchung. Was die Zuverlässigkeit der „Chronologie" anlangt, so wird man die¬
selbe nach der Quelle, woraus die Angaben meistens entnommen, und nach der
Gewissenhaftigkeit, mit der sie zusammengestellt sind, selten bezweifeln dürfen.
Bedenken können höchstens durch die Frage entstehen, ob der nach den Tage¬
büchern des Dichters arbeitende Chronist die Angaben, die er vor Augen hatte,
bei der zusammendrängenden Darstellung, die ihm oblag, überall in die richtige
Abbreviatur, sozusagen, übersetzt hat. Was die Angaben der „Chronologie"
über die Ursprungsdaten der einzelnen Teile des Faust anlangt, so sind der¬
selben nicht gerade wenige; aber viele hochwünschcnswerte Angaben fehlen, und
öfters sind die Angaben so unbestimmt, daß man nicht weiß, auf welche Teile
sie sich beziehen.

Eine dritte Quelle für die Entstehungsdaten des Faust bilden die mannich-
faltigen, in Briefen über Goethe, an Goethe, von Goethe auf das Gedicht be¬
züglichen Äußerungen. Viele davon sind wiederum so unbestimmt, daß sie sür
sich ohne mannichfaltige Kombination kaum einen Anhalt gewähren. Immerhin
finden sich ein paar unschätzbare Wegweiser darunter.

Aus allen brieflichen Äußerungen über den Faust muß aber eine in sich
zusammenhängende Reihe hervorgehoben werden. Es sind dies die Äußerungen
in dem Schiller-Goethischen Briefwechsel, welche sich von 1794 bis 1801 durch
denselben hindurchziehen. Ganz eigen ist der Eindruck, den man von diesen
Briefsteller empfängt. Sie fesseln wie Hieroglyphen, in denen das anziehendste
Geheimnis niedergelegt ist, zu dem den Schlüssel zu finden man immer und
immer wieder versuchen möchte. Die Unterredung der beiden Freunde bezieht
sich auf die Fortbildung des Faust, nachdem das Fragment von 1790 seit vier
Jahren vorliegt. Schiller bringt der Vollendung des Werkes, dessen frag¬
mentarischen Anfang er den Torso des Herkules nennt, den Enthusiasmus ent¬
gegen, wie ihn ein Dichtergenius dem andern, innig verstandenen und zugleich
begeisterungsvoll in unerreichbarer Höhe gesehenen, darbringen kann. Goethe
erwiedert mit aufrichtiger Dankbarkeit, vermeidet aber jedes bestimmte Eingehen
sowohl auf die eigentlichen Motive, wie sie nach und nach in ihm zur Klarheit
kommen, als auf die Mittel der Ausführung. Er drückt sich über beides, wie
man mit einem Goethischen Ausdruck sagen möchte, zwar eigen und anmutig,
aber durchaus hieroglyphisch aus. Wenn Löper sagt, eine eigne Scheu habe
Goethe abgehalten, Schiller in die Werkstatt seiner Dichtung einzuführen, so
möchte ich sagen eine natürliche Scheu. Kann sich doch der Dichter, ja über¬
haupt jeder schöpferische Arbeiter, in der Werkstatt des eignen Geistes kaum
selbst belauschen. Viel weniger mag er dieselbe noch für einen andern abbilden,
und wäre dies auch ein Freund, vor dem es kein Geheimnis giebt. Aber es
giebt nur ein Geheimnis — weil nur eine Mitteilung — fertiger Dinge. Die


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[0450] Die Entstehung des Faust. Zusammenstellungen erworben. Der mir zuvorkommend gewährten Einsicht in dieselben verdanke ich einige genauere Anhaltspunkte für die nachfolgende Unter¬ suchung. Was die Zuverlässigkeit der „Chronologie" anlangt, so wird man die¬ selbe nach der Quelle, woraus die Angaben meistens entnommen, und nach der Gewissenhaftigkeit, mit der sie zusammengestellt sind, selten bezweifeln dürfen. Bedenken können höchstens durch die Frage entstehen, ob der nach den Tage¬ büchern des Dichters arbeitende Chronist die Angaben, die er vor Augen hatte, bei der zusammendrängenden Darstellung, die ihm oblag, überall in die richtige Abbreviatur, sozusagen, übersetzt hat. Was die Angaben der „Chronologie" über die Ursprungsdaten der einzelnen Teile des Faust anlangt, so sind der¬ selben nicht gerade wenige; aber viele hochwünschcnswerte Angaben fehlen, und öfters sind die Angaben so unbestimmt, daß man nicht weiß, auf welche Teile sie sich beziehen. Eine dritte Quelle für die Entstehungsdaten des Faust bilden die mannich- faltigen, in Briefen über Goethe, an Goethe, von Goethe auf das Gedicht be¬ züglichen Äußerungen. Viele davon sind wiederum so unbestimmt, daß sie sür sich ohne mannichfaltige Kombination kaum einen Anhalt gewähren. Immerhin finden sich ein paar unschätzbare Wegweiser darunter. Aus allen brieflichen Äußerungen über den Faust muß aber eine in sich zusammenhängende Reihe hervorgehoben werden. Es sind dies die Äußerungen in dem Schiller-Goethischen Briefwechsel, welche sich von 1794 bis 1801 durch denselben hindurchziehen. Ganz eigen ist der Eindruck, den man von diesen Briefsteller empfängt. Sie fesseln wie Hieroglyphen, in denen das anziehendste Geheimnis niedergelegt ist, zu dem den Schlüssel zu finden man immer und immer wieder versuchen möchte. Die Unterredung der beiden Freunde bezieht sich auf die Fortbildung des Faust, nachdem das Fragment von 1790 seit vier Jahren vorliegt. Schiller bringt der Vollendung des Werkes, dessen frag¬ mentarischen Anfang er den Torso des Herkules nennt, den Enthusiasmus ent¬ gegen, wie ihn ein Dichtergenius dem andern, innig verstandenen und zugleich begeisterungsvoll in unerreichbarer Höhe gesehenen, darbringen kann. Goethe erwiedert mit aufrichtiger Dankbarkeit, vermeidet aber jedes bestimmte Eingehen sowohl auf die eigentlichen Motive, wie sie nach und nach in ihm zur Klarheit kommen, als auf die Mittel der Ausführung. Er drückt sich über beides, wie man mit einem Goethischen Ausdruck sagen möchte, zwar eigen und anmutig, aber durchaus hieroglyphisch aus. Wenn Löper sagt, eine eigne Scheu habe Goethe abgehalten, Schiller in die Werkstatt seiner Dichtung einzuführen, so möchte ich sagen eine natürliche Scheu. Kann sich doch der Dichter, ja über¬ haupt jeder schöpferische Arbeiter, in der Werkstatt des eignen Geistes kaum selbst belauschen. Viel weniger mag er dieselbe noch für einen andern abbilden, und wäre dies auch ein Freund, vor dem es kein Geheimnis giebt. Aber es giebt nur ein Geheimnis — weil nur eine Mitteilung — fertiger Dinge. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/450>, abgerufen am 27.07.2024.