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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Botho von Hülsen und seine Leute.

andre Rolle den höchsten Anforderungen nicht völlig genügt. Zumal im Lust¬
spiel, dessen feiugeschliffcuer, wohlabgestimmtcr Ton und vornehme Glätte noch
stets das Lob der Kenner sür sich hatte. Wie leicht übrigens das Urteil selbst
alter Praktiker hierin irrt, konnte vor einigen Monaten an dem interessanten
Falle wahrgenommen werden, daß von zwei als Autoritäten gepriesenen
Kritikern der eine, durch seine wunderlich krause Launenhaftigkeit und Originali¬
tätssucht bekannt, eine klassische Aufführung im Ensemble für grundschlecht er¬
klärte, während der andre sie als das beste pries, was man in diesem Punkte
sehen könne. Und da sage noch einer, daß es überhaupt etwas Positives im
ästhetischen Urteil gebe!

Ist ein Schriftsteller, der durch apodiktische Schroffheit im Aufstellen teils
unvorsichtiger, teils gehässiger und ungerechter Urteile fast auf jeder Seite seinen
Mangel an Selbstkritik und Reife bekundet, der durch die Verbissenheit seiner
Ausdrücke und das Verletzende in seiner ganzen Schreibweise sich von vorn¬
herein die Gunst der Billigdenkenden entfremdet, überhaupt als ein berufener
Richter zu betrachten? Ich glaube, daß niemand diese Frage bejahen wird.
Man muß zum allermindesten die Reinheit seiner Absichten, die Selbstlosigkeit
seiner Zwecke beargwöhnen. Aber auch die Objektivität seiner Auffassung wird
durch die wegwerfende und höhnische Art seiner Kritik stark beeinträchtigt. Was
soll man dazu sagen, wenn er von der Komik eines unsrer berühmtesten
Bonvivants den unqualifizirbarcn Ausspruch thut, daß sie in die Harlekinsbude
gehöre, daß ein Schauspieler in seiner Rolle in den dritten Rang "hinaufglotzt,"
daß die meisten der Berliner Hofschauspieler und -schanspielerinen nicht imstande
seien, einen Charakter, sondern im günstigsten Falle einen Typus zu schaffen,
daß keiner von ihnen tragischer Accente fähig sei, und daß Shakespeare
lediglich um der Schwächen der Schauspieler willen, die er gleichsam bemäntele,
ein besonders häufiger Gast auf dem Repertoire sei? Hat man je einen größern
dramaturgischen Unsinn als diesen gehört? Shakespeare, der die Menschennatur
in ihrer größten Mmmichfaltigkeit darzustellen, die reichste Fülle an klugen indi¬
viduellen Zügen seinen Charakteren zu verleihen und die verborgensten Falten
der Seele zu erschließen gewußt hat, und der darum eben ganze Menschendar¬
steller verlangt, soll der Retter stümperhafter Schauspieler sein! Er, der nach
der Meinung aller praktischen Dramaturgen der schärfste Prüfstein für die
Gestaltungsfähigkeit ist, und in dessen Stücken sich nach einem bekannten Aus-
spruche Rötschers am schärfsten die Tüchtigkeit von der Unfähigkeit unterscheiden
läßt! Wenn er wirklich jener vortreffliche "Schlepper" wäre, warum sollten
sich denn gerade jene kleinen Bühnen, die mit mäßigen Kräften zu arbeiten
gezwungen sind, vor seinen Schöpfungen in solchem Grade scheuen, daß man
sie fast niemals dort zu sehen bekommt? Es wäre zum Lachen, wenn es nicht
gar so traurig wäre, jemanden in der Rolle eines Rhadamanth Paradiren zu
sehen, der statt des richtenden Schwertes eine Pritsche führt.


Grmzbotw IV. Is83. 6
Botho von Hülsen und seine Leute.

andre Rolle den höchsten Anforderungen nicht völlig genügt. Zumal im Lust¬
spiel, dessen feiugeschliffcuer, wohlabgestimmtcr Ton und vornehme Glätte noch
stets das Lob der Kenner sür sich hatte. Wie leicht übrigens das Urteil selbst
alter Praktiker hierin irrt, konnte vor einigen Monaten an dem interessanten
Falle wahrgenommen werden, daß von zwei als Autoritäten gepriesenen
Kritikern der eine, durch seine wunderlich krause Launenhaftigkeit und Originali¬
tätssucht bekannt, eine klassische Aufführung im Ensemble für grundschlecht er¬
klärte, während der andre sie als das beste pries, was man in diesem Punkte
sehen könne. Und da sage noch einer, daß es überhaupt etwas Positives im
ästhetischen Urteil gebe!

Ist ein Schriftsteller, der durch apodiktische Schroffheit im Aufstellen teils
unvorsichtiger, teils gehässiger und ungerechter Urteile fast auf jeder Seite seinen
Mangel an Selbstkritik und Reife bekundet, der durch die Verbissenheit seiner
Ausdrücke und das Verletzende in seiner ganzen Schreibweise sich von vorn¬
herein die Gunst der Billigdenkenden entfremdet, überhaupt als ein berufener
Richter zu betrachten? Ich glaube, daß niemand diese Frage bejahen wird.
Man muß zum allermindesten die Reinheit seiner Absichten, die Selbstlosigkeit
seiner Zwecke beargwöhnen. Aber auch die Objektivität seiner Auffassung wird
durch die wegwerfende und höhnische Art seiner Kritik stark beeinträchtigt. Was
soll man dazu sagen, wenn er von der Komik eines unsrer berühmtesten
Bonvivants den unqualifizirbarcn Ausspruch thut, daß sie in die Harlekinsbude
gehöre, daß ein Schauspieler in seiner Rolle in den dritten Rang „hinaufglotzt,"
daß die meisten der Berliner Hofschauspieler und -schanspielerinen nicht imstande
seien, einen Charakter, sondern im günstigsten Falle einen Typus zu schaffen,
daß keiner von ihnen tragischer Accente fähig sei, und daß Shakespeare
lediglich um der Schwächen der Schauspieler willen, die er gleichsam bemäntele,
ein besonders häufiger Gast auf dem Repertoire sei? Hat man je einen größern
dramaturgischen Unsinn als diesen gehört? Shakespeare, der die Menschennatur
in ihrer größten Mmmichfaltigkeit darzustellen, die reichste Fülle an klugen indi¬
viduellen Zügen seinen Charakteren zu verleihen und die verborgensten Falten
der Seele zu erschließen gewußt hat, und der darum eben ganze Menschendar¬
steller verlangt, soll der Retter stümperhafter Schauspieler sein! Er, der nach
der Meinung aller praktischen Dramaturgen der schärfste Prüfstein für die
Gestaltungsfähigkeit ist, und in dessen Stücken sich nach einem bekannten Aus-
spruche Rötschers am schärfsten die Tüchtigkeit von der Unfähigkeit unterscheiden
läßt! Wenn er wirklich jener vortreffliche „Schlepper" wäre, warum sollten
sich denn gerade jene kleinen Bühnen, die mit mäßigen Kräften zu arbeiten
gezwungen sind, vor seinen Schöpfungen in solchem Grade scheuen, daß man
sie fast niemals dort zu sehen bekommt? Es wäre zum Lachen, wenn es nicht
gar so traurig wäre, jemanden in der Rolle eines Rhadamanth Paradiren zu
sehen, der statt des richtenden Schwertes eine Pritsche führt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/43>, abgerufen am 27.07.2024.