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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die konventionellen Lügen der Rulturmenschheit.

findet, ist ein Lotterbube ganz so wie der Zuhälter, den selbst der Schutzmann
nur widerwillig mit unbchandschuhten Fingern anrührt u. s. w. *)

Kommen wir nun zu. den Gedanken, von denen das Buch erfüllt ist, so
bemerken wir im allgemeinen, daß es mit ihnen ebenso geht wie mit der
Schreibweise. Es herrscht eine große Flottheit und Dreistigkeit vor, sodaß mau
angesichts der schwierigen und einschneidenden Gegenstände zuweilen beim Lesen
die Empfindung hat, einen Knaben zu sehen, der mit einem Rasirmesser herum¬
fuchtelt. Man möchte oft rufen: Halten Sie ein, Herr Nordau, nehmen Sie
sich in Acht, das muß erst überlegt werden! Trotzdem hat das Buch viel rich¬
tige und gute Gedanken. Der Verfasser hat einen scharfen Verstand, er besitzt
eine große Belesenheit in der Literatur der Neuzeit und die Bildung eines
"Mannes von Welt." Manche Stellen in dem Buche sind schön und wahr,
viele sind lehrreich. Da ist z. B. ein Passus in dem Abschnitt "Die wirt¬
schaftliche Lüge" (S. 281), um deswillen allein schon ich dem Buche gut bin.
Es heißt da:

Die Natur zeigt dem Menschen, daß er nicht ohne den Acker leben kann,
daß er des Feldes bedarf, wie der Fisch des Wassers; der Mensch sieht, daß er
zu Grunde geht, wenn er sich von der Scholle losreißt, daß nur der Bauer sich
ununterbrochen fortpflanzt, gesund und^ stark bleibt, während die Stadt ihren Be¬
wohnern das Mark ausdorrt, sie siech und unfruchtbar macht, sie unrettbar nach
zwei oder drei Generationen ausrottet, sodaß alle Städte in hundert Jahren
Kirchhöfe ohne ein einziges lebendes Menschenwesen wären, weder die Toten nicht
durch Einwanderung von den Feldern her ersetzt würden; er besteht aber darauf,
den Acker zu verlassen und in die Stadt zu wandern, sich vom Leben loszureißen
und den Tod zu umarmen. Da kommt nun wieder der Professor der National¬
ökonomie und belehrt uns mit unerschütterlicher Miene, daß das Maß der Ent¬
wicklung des Großgewerbes eines Landes zugleich das Maß seiner Zivilisation sei^c."

Überhaupt gehört alles, was über die "wirtschaftliche Lüge" gesagt ist, zu dem
besten in dem Buche und ist wirklich sehr lesenswert. Nur -- es giebt eine
alte Erzählung von einem gewissen Saturn, der seine eignen Kinder verschlang.
Hier wird der Spieß umgedreht, der Verfasser will die eignen Erzeuger ver¬
schlingen. Er ist der echte Sohn seiner Zeit, und er will doch mit seiner Zeit
aufräumen. So verwickelt er sich in Widersprüche. Ich will Beispiele dafür
geben.

Herr Nordau teilt sein Werk in acht Abschnitte: 1. Mene, Tekel, Upharsiu.
2. Die religiöse Lüge. 3. Die monarchisch-aristokratische Lüge. 4. Die politische



*) Die hier angeführten Stellen tragen allerdings die Farben stark auf, sind aber doch
entschieden in lesbaren Deutsch geschrieben und haben nach unsrer Meinung nichts gemein
mit der rüden Kraftmeierei und der renommistischeu Häufung ebenso überflüssiger wie ab¬
geschmackter Neubildungen, in denen sich die Ausdrucksweise des Herrn Scherr gefällt
Offen gestanden: es ist uns stets unfaßbar gewesen, wie deutsche Zeitschriften Aufsätze von
D. Red. Herrn Scherr haben abdrucken können.
Die konventionellen Lügen der Rulturmenschheit.

findet, ist ein Lotterbube ganz so wie der Zuhälter, den selbst der Schutzmann
nur widerwillig mit unbchandschuhten Fingern anrührt u. s. w. *)

Kommen wir nun zu. den Gedanken, von denen das Buch erfüllt ist, so
bemerken wir im allgemeinen, daß es mit ihnen ebenso geht wie mit der
Schreibweise. Es herrscht eine große Flottheit und Dreistigkeit vor, sodaß mau
angesichts der schwierigen und einschneidenden Gegenstände zuweilen beim Lesen
die Empfindung hat, einen Knaben zu sehen, der mit einem Rasirmesser herum¬
fuchtelt. Man möchte oft rufen: Halten Sie ein, Herr Nordau, nehmen Sie
sich in Acht, das muß erst überlegt werden! Trotzdem hat das Buch viel rich¬
tige und gute Gedanken. Der Verfasser hat einen scharfen Verstand, er besitzt
eine große Belesenheit in der Literatur der Neuzeit und die Bildung eines
„Mannes von Welt." Manche Stellen in dem Buche sind schön und wahr,
viele sind lehrreich. Da ist z. B. ein Passus in dem Abschnitt „Die wirt¬
schaftliche Lüge" (S. 281), um deswillen allein schon ich dem Buche gut bin.
Es heißt da:

Die Natur zeigt dem Menschen, daß er nicht ohne den Acker leben kann,
daß er des Feldes bedarf, wie der Fisch des Wassers; der Mensch sieht, daß er
zu Grunde geht, wenn er sich von der Scholle losreißt, daß nur der Bauer sich
ununterbrochen fortpflanzt, gesund und^ stark bleibt, während die Stadt ihren Be¬
wohnern das Mark ausdorrt, sie siech und unfruchtbar macht, sie unrettbar nach
zwei oder drei Generationen ausrottet, sodaß alle Städte in hundert Jahren
Kirchhöfe ohne ein einziges lebendes Menschenwesen wären, weder die Toten nicht
durch Einwanderung von den Feldern her ersetzt würden; er besteht aber darauf,
den Acker zu verlassen und in die Stadt zu wandern, sich vom Leben loszureißen
und den Tod zu umarmen. Da kommt nun wieder der Professor der National¬
ökonomie und belehrt uns mit unerschütterlicher Miene, daß das Maß der Ent¬
wicklung des Großgewerbes eines Landes zugleich das Maß seiner Zivilisation sei^c."

Überhaupt gehört alles, was über die „wirtschaftliche Lüge" gesagt ist, zu dem
besten in dem Buche und ist wirklich sehr lesenswert. Nur — es giebt eine
alte Erzählung von einem gewissen Saturn, der seine eignen Kinder verschlang.
Hier wird der Spieß umgedreht, der Verfasser will die eignen Erzeuger ver¬
schlingen. Er ist der echte Sohn seiner Zeit, und er will doch mit seiner Zeit
aufräumen. So verwickelt er sich in Widersprüche. Ich will Beispiele dafür
geben.

Herr Nordau teilt sein Werk in acht Abschnitte: 1. Mene, Tekel, Upharsiu.
2. Die religiöse Lüge. 3. Die monarchisch-aristokratische Lüge. 4. Die politische



*) Die hier angeführten Stellen tragen allerdings die Farben stark auf, sind aber doch
entschieden in lesbaren Deutsch geschrieben und haben nach unsrer Meinung nichts gemein
mit der rüden Kraftmeierei und der renommistischeu Häufung ebenso überflüssiger wie ab¬
geschmackter Neubildungen, in denen sich die Ausdrucksweise des Herrn Scherr gefällt
Offen gestanden: es ist uns stets unfaßbar gewesen, wie deutsche Zeitschriften Aufsätze von
D. Red. Herrn Scherr haben abdrucken können.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/400>, abgerufen am 28.07.2024.