Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Goethe.

und zu Gretchen:


Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf,
Wie freuts mich, daß ich bleiben darf --

und Frau Marthe fragt:


Was bringt Er denn? Verlange sehr --

ovinus Mephistopheles:


Ich wollt, ich hätt eine frohere Mähr!
Ich hoffe, Sie läßt minds drum nicht büßen:
Ihr (vMs) Mann ist tot und läßt Sie (oren) grüßen.

Im Verfolg der Szene geht dann bei näherer Bekanntschaft das vornehmere
Er und Sie in das bequemere Ihr des Plurals über. In Auerbachs Keller
dagegen dient das Er gegen den Schluß zum Ausdruck des Zornes, es ist schon
herabsetzend:


Laß Er uns das zum zweiten male bleiben!
Was, Herr, er will sich unterstehn
Und hier sein Hokuspokus treiben?

Wie in dieser Szene steht auch sonst das Er nicht leicht anders als mit Hilfe
eines Substantivs der Anrede, wie Herr, Schwager, Gevatter, Freund, guter
Freund, Meister, mein Kind u. s. w. Der Kaufmann spricht höhnend zu Hermann:


Nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva?

Im "Wilhelm Meister," in einer ganz andern Welt, wird in der dritten Person
des Plurals gesprochen, Wilhelm z. B, sagt zu Philinen, da wo er ihre Pan¬
toffeln vor seinem Bette findet und sie selbst hinter den Vorhängen vermutet:
"Stehen Sie auf, Philine," u. s. w. Dennoch geschieht es auch hier, bei der
Fülle und Mischung der verschiedensten Standes- und Lebenssphären, daß die
gesellige Stellung der Person in der Form der Anrede ihren Wiederschein findet.
So gleich in den ersten Kapiteln: die alte Barbara redet zu Wilhelm mit dem
Sie des Plurals, er zu ihr mit dem des Singulars, Barbara zu Marianne
mit Ihr und Euch, diese zu jener mit Du. Der Graf spricht zu dem Schau¬
spieldirektor Melina, gleichsam von der Standcshöhe herab: "Ruf Er feine
Leute zusammen und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist."
Und bald darauf: "Ich will einen Freund zu Euch schicken und wenn Ihr
billige Bedingungen macht und Euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich
nicht abgeneigt" u. s. w. Und die Gräfin sagt zu Philine: "Sieht Sie, Kleine,
sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir" u. s. w. und ebenso die
Baronin: "Erdige Sie doch das angefangene Liedchen." Hermann redet zu
seinen Eltern mit Ihr, die ihn dagegen duzen, und so sggt auch Wilhelm zur
Mutter: "Schelten Sie das Puppenspiel nicht," und sie zu ihm: "Mach es
nur mäßig" ein Zug der Unterwürfigkeit der Kinder, wie er sich aus alter
Zeit vererbt hatte. Dem Apotheker und Pfarrer giebt Hermann das Ihr, sie


Gedanken über Goethe.

und zu Gretchen:


Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf,
Wie freuts mich, daß ich bleiben darf —

und Frau Marthe fragt:


Was bringt Er denn? Verlange sehr —

ovinus Mephistopheles:


Ich wollt, ich hätt eine frohere Mähr!
Ich hoffe, Sie läßt minds drum nicht büßen:
Ihr (vMs) Mann ist tot und läßt Sie (oren) grüßen.

Im Verfolg der Szene geht dann bei näherer Bekanntschaft das vornehmere
Er und Sie in das bequemere Ihr des Plurals über. In Auerbachs Keller
dagegen dient das Er gegen den Schluß zum Ausdruck des Zornes, es ist schon
herabsetzend:


Laß Er uns das zum zweiten male bleiben!
Was, Herr, er will sich unterstehn
Und hier sein Hokuspokus treiben?

Wie in dieser Szene steht auch sonst das Er nicht leicht anders als mit Hilfe
eines Substantivs der Anrede, wie Herr, Schwager, Gevatter, Freund, guter
Freund, Meister, mein Kind u. s. w. Der Kaufmann spricht höhnend zu Hermann:


Nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva?

Im „Wilhelm Meister," in einer ganz andern Welt, wird in der dritten Person
des Plurals gesprochen, Wilhelm z. B, sagt zu Philinen, da wo er ihre Pan¬
toffeln vor seinem Bette findet und sie selbst hinter den Vorhängen vermutet:
„Stehen Sie auf, Philine," u. s. w. Dennoch geschieht es auch hier, bei der
Fülle und Mischung der verschiedensten Standes- und Lebenssphären, daß die
gesellige Stellung der Person in der Form der Anrede ihren Wiederschein findet.
So gleich in den ersten Kapiteln: die alte Barbara redet zu Wilhelm mit dem
Sie des Plurals, er zu ihr mit dem des Singulars, Barbara zu Marianne
mit Ihr und Euch, diese zu jener mit Du. Der Graf spricht zu dem Schau¬
spieldirektor Melina, gleichsam von der Standcshöhe herab: „Ruf Er feine
Leute zusammen und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist."
Und bald darauf: „Ich will einen Freund zu Euch schicken und wenn Ihr
billige Bedingungen macht und Euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich
nicht abgeneigt" u. s. w. Und die Gräfin sagt zu Philine: „Sieht Sie, Kleine,
sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir" u. s. w. und ebenso die
Baronin: „Erdige Sie doch das angefangene Liedchen." Hermann redet zu
seinen Eltern mit Ihr, die ihn dagegen duzen, und so sggt auch Wilhelm zur
Mutter: „Schelten Sie das Puppenspiel nicht," und sie zu ihm: „Mach es
nur mäßig" ein Zug der Unterwürfigkeit der Kinder, wie er sich aus alter
Zeit vererbt hatte. Dem Apotheker und Pfarrer giebt Hermann das Ihr, sie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154482"/>
          <fw type="header" place="top"> Gedanken über Goethe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_950" prev="#ID_949" next="#ID_951"> und zu Gretchen:</p><lb/>
          <quote> Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf,<lb/>
Wie freuts mich, daß ich bleiben darf &#x2014;</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_951" prev="#ID_950" next="#ID_952"> und Frau Marthe fragt:</p><lb/>
          <quote> Was bringt Er denn? Verlange sehr &#x2014;</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_952" prev="#ID_951" next="#ID_953"> ovinus Mephistopheles:</p><lb/>
          <quote> Ich wollt, ich hätt eine frohere Mähr!<lb/>
Ich hoffe, Sie läßt minds drum nicht büßen:<lb/>
Ihr (vMs) Mann ist tot und läßt Sie (oren) grüßen.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_953" prev="#ID_952" next="#ID_954"> Im Verfolg der Szene geht dann bei näherer Bekanntschaft das vornehmere<lb/>
Er und Sie in das bequemere Ihr des Plurals über. In Auerbachs Keller<lb/>
dagegen dient das Er gegen den Schluß zum Ausdruck des Zornes, es ist schon<lb/>
herabsetzend:</p><lb/>
          <quote> Laß Er uns das zum zweiten male bleiben!<lb/>
Was, Herr, er will sich unterstehn<lb/>
Und hier sein Hokuspokus treiben?</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_954" prev="#ID_953" next="#ID_955"> Wie in dieser Szene steht auch sonst das Er nicht leicht anders als mit Hilfe<lb/>
eines Substantivs der Anrede, wie Herr, Schwager, Gevatter, Freund, guter<lb/>
Freund, Meister, mein Kind u. s. w. Der Kaufmann spricht höhnend zu Hermann:</p><lb/>
          <quote> Nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva?</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_955" prev="#ID_954" next="#ID_956"> Im &#x201E;Wilhelm Meister," in einer ganz andern Welt, wird in der dritten Person<lb/>
des Plurals gesprochen, Wilhelm z. B, sagt zu Philinen, da wo er ihre Pan¬<lb/>
toffeln vor seinem Bette findet und sie selbst hinter den Vorhängen vermutet:<lb/>
&#x201E;Stehen Sie auf, Philine," u. s. w. Dennoch geschieht es auch hier, bei der<lb/>
Fülle und Mischung der verschiedensten Standes- und Lebenssphären, daß die<lb/>
gesellige Stellung der Person in der Form der Anrede ihren Wiederschein findet.<lb/>
So gleich in den ersten Kapiteln: die alte Barbara redet zu Wilhelm mit dem<lb/>
Sie des Plurals, er zu ihr mit dem des Singulars, Barbara zu Marianne<lb/>
mit Ihr und Euch, diese zu jener mit Du. Der Graf spricht zu dem Schau¬<lb/>
spieldirektor Melina, gleichsam von der Standcshöhe herab: &#x201E;Ruf Er feine<lb/>
Leute zusammen und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist."<lb/>
Und bald darauf: &#x201E;Ich will einen Freund zu Euch schicken und wenn Ihr<lb/>
billige Bedingungen macht und Euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich<lb/>
nicht abgeneigt" u. s. w. Und die Gräfin sagt zu Philine: &#x201E;Sieht Sie, Kleine,<lb/>
sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir" u. s. w. und ebenso die<lb/>
Baronin: &#x201E;Erdige Sie doch das angefangene Liedchen." Hermann redet zu<lb/>
seinen Eltern mit Ihr, die ihn dagegen duzen, und so sggt auch Wilhelm zur<lb/>
Mutter: &#x201E;Schelten Sie das Puppenspiel nicht," und sie zu ihm: &#x201E;Mach es<lb/>
nur mäßig" ein Zug der Unterwürfigkeit der Kinder, wie er sich aus alter<lb/>
Zeit vererbt hatte. Dem Apotheker und Pfarrer giebt Hermann das Ihr, sie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0317] Gedanken über Goethe. und zu Gretchen: Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf, Wie freuts mich, daß ich bleiben darf — und Frau Marthe fragt: Was bringt Er denn? Verlange sehr — ovinus Mephistopheles: Ich wollt, ich hätt eine frohere Mähr! Ich hoffe, Sie läßt minds drum nicht büßen: Ihr (vMs) Mann ist tot und läßt Sie (oren) grüßen. Im Verfolg der Szene geht dann bei näherer Bekanntschaft das vornehmere Er und Sie in das bequemere Ihr des Plurals über. In Auerbachs Keller dagegen dient das Er gegen den Schluß zum Ausdruck des Zornes, es ist schon herabsetzend: Laß Er uns das zum zweiten male bleiben! Was, Herr, er will sich unterstehn Und hier sein Hokuspokus treiben? Wie in dieser Szene steht auch sonst das Er nicht leicht anders als mit Hilfe eines Substantivs der Anrede, wie Herr, Schwager, Gevatter, Freund, guter Freund, Meister, mein Kind u. s. w. Der Kaufmann spricht höhnend zu Hermann: Nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva? Im „Wilhelm Meister," in einer ganz andern Welt, wird in der dritten Person des Plurals gesprochen, Wilhelm z. B, sagt zu Philinen, da wo er ihre Pan¬ toffeln vor seinem Bette findet und sie selbst hinter den Vorhängen vermutet: „Stehen Sie auf, Philine," u. s. w. Dennoch geschieht es auch hier, bei der Fülle und Mischung der verschiedensten Standes- und Lebenssphären, daß die gesellige Stellung der Person in der Form der Anrede ihren Wiederschein findet. So gleich in den ersten Kapiteln: die alte Barbara redet zu Wilhelm mit dem Sie des Plurals, er zu ihr mit dem des Singulars, Barbara zu Marianne mit Ihr und Euch, diese zu jener mit Du. Der Graf spricht zu dem Schau¬ spieldirektor Melina, gleichsam von der Standcshöhe herab: „Ruf Er feine Leute zusammen und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist." Und bald darauf: „Ich will einen Freund zu Euch schicken und wenn Ihr billige Bedingungen macht und Euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt" u. s. w. Und die Gräfin sagt zu Philine: „Sieht Sie, Kleine, sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir" u. s. w. und ebenso die Baronin: „Erdige Sie doch das angefangene Liedchen." Hermann redet zu seinen Eltern mit Ihr, die ihn dagegen duzen, und so sggt auch Wilhelm zur Mutter: „Schelten Sie das Puppenspiel nicht," und sie zu ihm: „Mach es nur mäßig" ein Zug der Unterwürfigkeit der Kinder, wie er sich aus alter Zeit vererbt hatte. Dem Apotheker und Pfarrer giebt Hermann das Ihr, sie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/317
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/317>, abgerufen am 01.09.2024.