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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

dem Redenden und dem Angeredeten, den Abstand, der die Stände schied, nicht
groß genug machen konnte, verwandelten es in das Sie und Ihnen des
Plurals, und dieser unsinnige Gebrauch hatte um die Zeit von Goethes Jugend
schon weiten Raum gewonnen. So gab es nun vier Stufen der Höflichkeit,
die eine immer feiner, demütiger als die andre: das Ihr stand dem Du nicht
sehr fern, das Er dauerte neben dem Plural, doch immer mehr sinkend, während
des Jahrhunderts fort. Der junge Student Goethe in Leipzig hatte im Jahre
1765 seinen: Freunde Niese mit Ihr und Euer geschrieben, jener antwortet mit
Sie und Ihnen, und Goethe zürnt darüber ("Sie, Sie -- das lautet meinen
Ohren so unerträglich"). In Straßburg schreibt er 1770 einem andern Freunde
Limprecht mit Er und Ihm, fällt aber gleich darauf und in demselben Briefe
in das Sie des Plurals. In den Briefen an die Mutter vor der Schweizer¬
reise 1779, in denen er ihr seinen und des Herzogs Besuch in Frankfurt an¬
kündigt, redet er sie in der dritten Person des Singulars an: "Sie möcht ich
recht fröhlich sehen und Ihr einen guten Tag bieten, wie noch keinen"; "ant¬
worte Sie mir sogleich"; "wenn Sie mir erst Ihre Ideen geschrieben hat";
"so eine Antwort wünscht ich von Ihr, liebe Mutter"; "was Ihr noch ein¬
kommt, schreibe Sie mir" n. s. w.; wo beide Eltern gemeint sind, braucht der
Schreibende Ihr und Euch. Aber drei Jahre später, in dem für sein inneres
Leben bedeutungsvollen Schreiben an die Mutter vom 11. August 1781 herrscht
schon durchgängig das Sie und Ihre und Ihnen, ganz wie heutzutage.
Wenden wir uns zu den Dichtungen jener Jahre, so findet sich im "Faust"
noch gar kein Sie, es wechselt darin Er, Ihr und Du, zuweilen ohne viel
Wahl, wie ein lebhaftes Gespräch es mit sich bringt, meistens aber in der
Unterscheidung, die das Verhältnis der Stände forderte. Faust bei der ersten'
Begegnung auf der Straße redet Gretchen mit der feinsten Höflichkeit in der
dritten Person des Singulars an:


Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

In der darauf folgenden Gartenszene sagt Gretchen immer Ihr, Faust giebt ihr
in der Sprache der Liebe das feurige, innige Du, bis auch sie am Schlüsse in
den Ruf ausbricht:


Bester Mann, von Herzen lieb ich dich!

Zwischen Faust und Wagner herrscht, wie es bei Professor und Student oder
Famulus sich ziemt, das althergebrachte Ihr, das nur am Ende des Spazier¬
ganges bei lebhafterer Aktion in das ungezwungene Du übergeht. In der
Szene, wo Mephistopheles im Doktorkleide den Schüler empfängt, wird von
beiden Seiten, wie billig, das Ihr angewandt; in der, wo Mephisto sich zuerst
der Frau Marthe Schwerdtlein vorstellt, sagt er ehrerbietig im Singular:


Ich kenne Sie (gg.in) jetzt, mir ist das genug;
Sie hat da gar vornehmen Besuch --

Gedanken über Goethe.

dem Redenden und dem Angeredeten, den Abstand, der die Stände schied, nicht
groß genug machen konnte, verwandelten es in das Sie und Ihnen des
Plurals, und dieser unsinnige Gebrauch hatte um die Zeit von Goethes Jugend
schon weiten Raum gewonnen. So gab es nun vier Stufen der Höflichkeit,
die eine immer feiner, demütiger als die andre: das Ihr stand dem Du nicht
sehr fern, das Er dauerte neben dem Plural, doch immer mehr sinkend, während
des Jahrhunderts fort. Der junge Student Goethe in Leipzig hatte im Jahre
1765 seinen: Freunde Niese mit Ihr und Euer geschrieben, jener antwortet mit
Sie und Ihnen, und Goethe zürnt darüber („Sie, Sie — das lautet meinen
Ohren so unerträglich"). In Straßburg schreibt er 1770 einem andern Freunde
Limprecht mit Er und Ihm, fällt aber gleich darauf und in demselben Briefe
in das Sie des Plurals. In den Briefen an die Mutter vor der Schweizer¬
reise 1779, in denen er ihr seinen und des Herzogs Besuch in Frankfurt an¬
kündigt, redet er sie in der dritten Person des Singulars an: „Sie möcht ich
recht fröhlich sehen und Ihr einen guten Tag bieten, wie noch keinen"; „ant¬
worte Sie mir sogleich"; „wenn Sie mir erst Ihre Ideen geschrieben hat";
„so eine Antwort wünscht ich von Ihr, liebe Mutter"; „was Ihr noch ein¬
kommt, schreibe Sie mir" n. s. w.; wo beide Eltern gemeint sind, braucht der
Schreibende Ihr und Euch. Aber drei Jahre später, in dem für sein inneres
Leben bedeutungsvollen Schreiben an die Mutter vom 11. August 1781 herrscht
schon durchgängig das Sie und Ihre und Ihnen, ganz wie heutzutage.
Wenden wir uns zu den Dichtungen jener Jahre, so findet sich im „Faust"
noch gar kein Sie, es wechselt darin Er, Ihr und Du, zuweilen ohne viel
Wahl, wie ein lebhaftes Gespräch es mit sich bringt, meistens aber in der
Unterscheidung, die das Verhältnis der Stände forderte. Faust bei der ersten'
Begegnung auf der Straße redet Gretchen mit der feinsten Höflichkeit in der
dritten Person des Singulars an:


Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

In der darauf folgenden Gartenszene sagt Gretchen immer Ihr, Faust giebt ihr
in der Sprache der Liebe das feurige, innige Du, bis auch sie am Schlüsse in
den Ruf ausbricht:


Bester Mann, von Herzen lieb ich dich!

Zwischen Faust und Wagner herrscht, wie es bei Professor und Student oder
Famulus sich ziemt, das althergebrachte Ihr, das nur am Ende des Spazier¬
ganges bei lebhafterer Aktion in das ungezwungene Du übergeht. In der
Szene, wo Mephistopheles im Doktorkleide den Schüler empfängt, wird von
beiden Seiten, wie billig, das Ihr angewandt; in der, wo Mephisto sich zuerst
der Frau Marthe Schwerdtlein vorstellt, sagt er ehrerbietig im Singular:


Ich kenne Sie (gg.in) jetzt, mir ist das genug;
Sie hat da gar vornehmen Besuch —

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[0316] Gedanken über Goethe. dem Redenden und dem Angeredeten, den Abstand, der die Stände schied, nicht groß genug machen konnte, verwandelten es in das Sie und Ihnen des Plurals, und dieser unsinnige Gebrauch hatte um die Zeit von Goethes Jugend schon weiten Raum gewonnen. So gab es nun vier Stufen der Höflichkeit, die eine immer feiner, demütiger als die andre: das Ihr stand dem Du nicht sehr fern, das Er dauerte neben dem Plural, doch immer mehr sinkend, während des Jahrhunderts fort. Der junge Student Goethe in Leipzig hatte im Jahre 1765 seinen: Freunde Niese mit Ihr und Euer geschrieben, jener antwortet mit Sie und Ihnen, und Goethe zürnt darüber („Sie, Sie — das lautet meinen Ohren so unerträglich"). In Straßburg schreibt er 1770 einem andern Freunde Limprecht mit Er und Ihm, fällt aber gleich darauf und in demselben Briefe in das Sie des Plurals. In den Briefen an die Mutter vor der Schweizer¬ reise 1779, in denen er ihr seinen und des Herzogs Besuch in Frankfurt an¬ kündigt, redet er sie in der dritten Person des Singulars an: „Sie möcht ich recht fröhlich sehen und Ihr einen guten Tag bieten, wie noch keinen"; „ant¬ worte Sie mir sogleich"; „wenn Sie mir erst Ihre Ideen geschrieben hat"; „so eine Antwort wünscht ich von Ihr, liebe Mutter"; „was Ihr noch ein¬ kommt, schreibe Sie mir" n. s. w.; wo beide Eltern gemeint sind, braucht der Schreibende Ihr und Euch. Aber drei Jahre später, in dem für sein inneres Leben bedeutungsvollen Schreiben an die Mutter vom 11. August 1781 herrscht schon durchgängig das Sie und Ihre und Ihnen, ganz wie heutzutage. Wenden wir uns zu den Dichtungen jener Jahre, so findet sich im „Faust" noch gar kein Sie, es wechselt darin Er, Ihr und Du, zuweilen ohne viel Wahl, wie ein lebhaftes Gespräch es mit sich bringt, meistens aber in der Unterscheidung, die das Verhältnis der Stände forderte. Faust bei der ersten' Begegnung auf der Straße redet Gretchen mit der feinsten Höflichkeit in der dritten Person des Singulars an: Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen? In der darauf folgenden Gartenszene sagt Gretchen immer Ihr, Faust giebt ihr in der Sprache der Liebe das feurige, innige Du, bis auch sie am Schlüsse in den Ruf ausbricht: Bester Mann, von Herzen lieb ich dich! Zwischen Faust und Wagner herrscht, wie es bei Professor und Student oder Famulus sich ziemt, das althergebrachte Ihr, das nur am Ende des Spazier¬ ganges bei lebhafterer Aktion in das ungezwungene Du übergeht. In der Szene, wo Mephistopheles im Doktorkleide den Schüler empfängt, wird von beiden Seiten, wie billig, das Ihr angewandt; in der, wo Mephisto sich zuerst der Frau Marthe Schwerdtlein vorstellt, sagt er ehrerbietig im Singular: Ich kenne Sie (gg.in) jetzt, mir ist das genug; Sie hat da gar vornehmen Besuch —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/316>, abgerufen am 28.07.2024.