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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

mit dem Messer. Den schlug ich wacker aus dazumal." Die polnischen Edel¬
leute überfallen in Schwärmen gegenseitig ihre Schlösser und ziehen erst weiter,
wenn alles aufgezehrt und ausgeleert ist, ja mancher arme Graf lebt nur als
solcher Krippenrciter ("Wahlverwandtschaften," Teil 2, Kap. 5): Charlottens
Wintervorräte waren zu Ende und einer in der Gesellschaft rief: "So lassen
Sie es uns auf polnische Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch
auf, und so gehet es dann weiter in der Runde herum!"

Auch die Deutsche" selbst werden nach ihren Eigenschaften von Goethe oft
übel behandelt, und Schiller that desgleichen -- es war der ungeheure Abstand,
der beide Dichter von der Platten, urtcilslosen Menge trennte, und die Ver-
kennung, die sie erfuhren, was sie oft zu bitterem Hohn gegen "Vetter Michel
in seiner wohlbekannten Deutschheit" hinriß. Doch gehen wir an dieser Stelle
nicht darauf ein und gedenken nur der Art, wie Aurelie im "Wilhelm Meister"
das deutsche Wesen zeichnet (4, 20): "Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine
Deutsche bin; es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer
werden, daß alles über ihnen schwer wird," (4, 16): "Die deutsche Nation kam
mir im ganzen so linkisch vor, so übel erzogen, so leer von gefälligem Wesen,
so geschmacklos. Oft rief ich aus: Es kann doch kein Deutscher einen Schuh
zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat." Ähnlich war
ohne Zweifel Goethes Stimmung in manchen Augenblicken, wie es auch das
Urteil der Fremden zu sein pflegt, doch fühlte er wohl, daß damit nur die eine
Seite getroffen war, und versäumte nicht, Aurelie sogleich den Zusatz in den
Mund zu legen: "Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht
ich war."

Was nun noch einen Bestandteil der europäischen Bevölkerung betrifft, der
jetzt dem Beobachter auf alleu Wegen als herrschend begegnet, wir meinen die
Judenschaft, so war dieser zu Goethes Zeit noch in allen Landen als ein Fremdes,
gänzlich Heterogenes in Schranken und zur Seite gehalten, und so tritt nirgends
in Goethes Dramen und Romanen ein Jude als Gestalt für sich auf -- außer
wenn man die possenhafte Figur des Mardochcn im "Jahrmarktsfest von Plun¬
dersweilern" als solchen gelten lassen will. Aber am 28. Oktober 1782 schreibt
er der Frau von Stein: "Einen guten Morgen zu sagen, hat mich der Jude
Ephraim abgehalten. Von ihm zu erzählen, wird mir ein Spaß sein. Bald hab
ich das Bedeutende der Judenheit zusammen. Und habe große Lust, in meinem
Roman auch einen Juden anzubringen." Leider kam dieser Plan nicht zur
Ausführung; die Charakteristik Ware ohne Zweifel eine lebendige, nicht, wie bei
Lessing, von einem bloßen abstrakten Grundsatz, dem des gleichen Menschenrechts
und der religiösen Duldung, eingegebene gewesen -- zumal da schon der Knabe
Goethe in seiner Vaterstadt auch sonst Gelegenheit fand, die jüdische Art und
Unart frühzeitig kennen zu lernen. Vielleicht entstand bald, nachdem jene Brief-
stelle geschrieben worden, das spätere Zwischenspiel im Jahrmcirktsfeft, wo Hainen


Gedanken über Goethe.

mit dem Messer. Den schlug ich wacker aus dazumal." Die polnischen Edel¬
leute überfallen in Schwärmen gegenseitig ihre Schlösser und ziehen erst weiter,
wenn alles aufgezehrt und ausgeleert ist, ja mancher arme Graf lebt nur als
solcher Krippenrciter („Wahlverwandtschaften," Teil 2, Kap. 5): Charlottens
Wintervorräte waren zu Ende und einer in der Gesellschaft rief: „So lassen
Sie es uns auf polnische Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch
auf, und so gehet es dann weiter in der Runde herum!"

Auch die Deutsche» selbst werden nach ihren Eigenschaften von Goethe oft
übel behandelt, und Schiller that desgleichen — es war der ungeheure Abstand,
der beide Dichter von der Platten, urtcilslosen Menge trennte, und die Ver-
kennung, die sie erfuhren, was sie oft zu bitterem Hohn gegen „Vetter Michel
in seiner wohlbekannten Deutschheit" hinriß. Doch gehen wir an dieser Stelle
nicht darauf ein und gedenken nur der Art, wie Aurelie im „Wilhelm Meister"
das deutsche Wesen zeichnet (4, 20): „Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine
Deutsche bin; es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer
werden, daß alles über ihnen schwer wird," (4, 16): „Die deutsche Nation kam
mir im ganzen so linkisch vor, so übel erzogen, so leer von gefälligem Wesen,
so geschmacklos. Oft rief ich aus: Es kann doch kein Deutscher einen Schuh
zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat." Ähnlich war
ohne Zweifel Goethes Stimmung in manchen Augenblicken, wie es auch das
Urteil der Fremden zu sein pflegt, doch fühlte er wohl, daß damit nur die eine
Seite getroffen war, und versäumte nicht, Aurelie sogleich den Zusatz in den
Mund zu legen: „Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht
ich war."

Was nun noch einen Bestandteil der europäischen Bevölkerung betrifft, der
jetzt dem Beobachter auf alleu Wegen als herrschend begegnet, wir meinen die
Judenschaft, so war dieser zu Goethes Zeit noch in allen Landen als ein Fremdes,
gänzlich Heterogenes in Schranken und zur Seite gehalten, und so tritt nirgends
in Goethes Dramen und Romanen ein Jude als Gestalt für sich auf — außer
wenn man die possenhafte Figur des Mardochcn im „Jahrmarktsfest von Plun¬
dersweilern" als solchen gelten lassen will. Aber am 28. Oktober 1782 schreibt
er der Frau von Stein: „Einen guten Morgen zu sagen, hat mich der Jude
Ephraim abgehalten. Von ihm zu erzählen, wird mir ein Spaß sein. Bald hab
ich das Bedeutende der Judenheit zusammen. Und habe große Lust, in meinem
Roman auch einen Juden anzubringen." Leider kam dieser Plan nicht zur
Ausführung; die Charakteristik Ware ohne Zweifel eine lebendige, nicht, wie bei
Lessing, von einem bloßen abstrakten Grundsatz, dem des gleichen Menschenrechts
und der religiösen Duldung, eingegebene gewesen — zumal da schon der Knabe
Goethe in seiner Vaterstadt auch sonst Gelegenheit fand, die jüdische Art und
Unart frühzeitig kennen zu lernen. Vielleicht entstand bald, nachdem jene Brief-
stelle geschrieben worden, das spätere Zwischenspiel im Jahrmcirktsfeft, wo Hainen


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[0313] Gedanken über Goethe. mit dem Messer. Den schlug ich wacker aus dazumal." Die polnischen Edel¬ leute überfallen in Schwärmen gegenseitig ihre Schlösser und ziehen erst weiter, wenn alles aufgezehrt und ausgeleert ist, ja mancher arme Graf lebt nur als solcher Krippenrciter („Wahlverwandtschaften," Teil 2, Kap. 5): Charlottens Wintervorräte waren zu Ende und einer in der Gesellschaft rief: „So lassen Sie es uns auf polnische Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch auf, und so gehet es dann weiter in der Runde herum!" Auch die Deutsche» selbst werden nach ihren Eigenschaften von Goethe oft übel behandelt, und Schiller that desgleichen — es war der ungeheure Abstand, der beide Dichter von der Platten, urtcilslosen Menge trennte, und die Ver- kennung, die sie erfuhren, was sie oft zu bitterem Hohn gegen „Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutschheit" hinriß. Doch gehen wir an dieser Stelle nicht darauf ein und gedenken nur der Art, wie Aurelie im „Wilhelm Meister" das deutsche Wesen zeichnet (4, 20): „Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutsche bin; es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden, daß alles über ihnen schwer wird," (4, 16): „Die deutsche Nation kam mir im ganzen so linkisch vor, so übel erzogen, so leer von gefälligem Wesen, so geschmacklos. Oft rief ich aus: Es kann doch kein Deutscher einen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat." Ähnlich war ohne Zweifel Goethes Stimmung in manchen Augenblicken, wie es auch das Urteil der Fremden zu sein pflegt, doch fühlte er wohl, daß damit nur die eine Seite getroffen war, und versäumte nicht, Aurelie sogleich den Zusatz in den Mund zu legen: „Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht ich war." Was nun noch einen Bestandteil der europäischen Bevölkerung betrifft, der jetzt dem Beobachter auf alleu Wegen als herrschend begegnet, wir meinen die Judenschaft, so war dieser zu Goethes Zeit noch in allen Landen als ein Fremdes, gänzlich Heterogenes in Schranken und zur Seite gehalten, und so tritt nirgends in Goethes Dramen und Romanen ein Jude als Gestalt für sich auf — außer wenn man die possenhafte Figur des Mardochcn im „Jahrmarktsfest von Plun¬ dersweilern" als solchen gelten lassen will. Aber am 28. Oktober 1782 schreibt er der Frau von Stein: „Einen guten Morgen zu sagen, hat mich der Jude Ephraim abgehalten. Von ihm zu erzählen, wird mir ein Spaß sein. Bald hab ich das Bedeutende der Judenheit zusammen. Und habe große Lust, in meinem Roman auch einen Juden anzubringen." Leider kam dieser Plan nicht zur Ausführung; die Charakteristik Ware ohne Zweifel eine lebendige, nicht, wie bei Lessing, von einem bloßen abstrakten Grundsatz, dem des gleichen Menschenrechts und der religiösen Duldung, eingegebene gewesen — zumal da schon der Knabe Goethe in seiner Vaterstadt auch sonst Gelegenheit fand, die jüdische Art und Unart frühzeitig kennen zu lernen. Vielleicht entstand bald, nachdem jene Brief- stelle geschrieben worden, das spätere Zwischenspiel im Jahrmcirktsfeft, wo Hainen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/313>, abgerufen am 28.07.2024.