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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Herr Doktor, das ist schön von Euch,
Daß Ihr uns heute nicht verschmäht
Und unter dieses Volksgcdriing
Als so ein Hochgelehrter geht.

Auch die Unarten und Leidenschaften, die sich in der Landgemeinde regen, sehe"
wir unter den Flüchtlingen in "Hermann und Dorothea" ausbrechen, eben so,
wie dann der Richter oder Schulze, der Dvrfwcise, der zugleich der wohl¬
habendste zu sein Pflegt und unter den Dvrfgenosscn viel Verwandte hat, auf¬
tritt und Ruh und Frieden gebietet. Der Dichter selbst erging sich ohne Scheu
bei Schützenfesten, in Wirtshäusern, auf seinen Wanderungen unter dem niedern
Volke; wie oft hat er mit den Bauermädchen die halbe, ja die ganze Nacht
getanzt -- er berichtet darüber selbst in seinen Briefen --, und auf der Harz-
reisc ist er glücklich, den Masken des Hofes entflohen zu sein und Menschen zu
treffen, "die ein bestimmtes, einfaches, dauerndes, wichtiges Geschäft haben"
(7. Dezember 1777). Drei Tage vorher hatte er geschrieben: "Wie sehr ich
wieder auf diesem dunkeln Zug Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe,
die man niedere nennt, die aber für Gott die höchste ist! Da sind doch alle
Tugenden beisammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude
über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Ausharren --!" Zwei Jahre-
darauf spricht er im Tagebuch zu sich selbst (14. Juli 1779): "Wilts Gott,
daß mir Acker und Wiese noch werden und ich für'diesen simpelsten Erwerb
der Menschen Sinn kriege" -- und aus der Schweiz schreibt er im November
desselben Jahres: "Eins glaub ich überall zu bemerken: je weiter man von der
Landstraße und dem größern Gewerbe der Menschen abkommt, je mehr in den
Gebirgen die Menschen beschränkt, abgeschnitten und auf die allerersten Bedürf¬
nisse des Lebens zurückgewieselt sind, je mehr sie sich von einem einfachen, lang¬
samen, unveränderlichen Erwerbe nähren, desto besser, willfähriger, frenndlicher,
uneigennütziger, gastfreier bei ihrer Armut hab ich sie gefunden." Und am
11. Oktober 1781 will er zu Fuß von Gotha über die Gleichen nach Kochbcrg
wandern (er, der Geheimerat, der die letzten Tage im herzoglichen Schlosse ans
dem Friedenstein als gern gesehener Gast geweilt und mit dem Pariser Welt¬
mann Grimm verkehrt hatte!) und meldet dies dem Herzog mit den Worten:
"Vom hohen Friedenstein durch das flache Land, aus dem zusammengefaßten
Leben der obern Menschen zum einzelnen und einfacheren der niederen Landes¬
bewohner." Es ist als hätte er sich, als er diese Worte schrieb, nach der Ge-
fangenschaft am Gothaer Hof zurück zu sich selbst, zu der einsamen Natur ge¬
sehnt und in ländlichen Herbergen, unter einfältigen, beschränkten, unschuldigen
Menschen Erholung von den Fesseln der Gesellschaft gesucht. Biederer und mehr
politischer Art ist die Äußerung, die er ein halbes Jahr später gegen Knebel
fallen ließ (17. April 1782): "So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe
den Bauersmann der Erde das Notdürftige abfordern, das doch auch ein be-


Gedanken über Goethe.

Herr Doktor, das ist schön von Euch,
Daß Ihr uns heute nicht verschmäht
Und unter dieses Volksgcdriing
Als so ein Hochgelehrter geht.

Auch die Unarten und Leidenschaften, die sich in der Landgemeinde regen, sehe»
wir unter den Flüchtlingen in „Hermann und Dorothea" ausbrechen, eben so,
wie dann der Richter oder Schulze, der Dvrfwcise, der zugleich der wohl¬
habendste zu sein Pflegt und unter den Dvrfgenosscn viel Verwandte hat, auf¬
tritt und Ruh und Frieden gebietet. Der Dichter selbst erging sich ohne Scheu
bei Schützenfesten, in Wirtshäusern, auf seinen Wanderungen unter dem niedern
Volke; wie oft hat er mit den Bauermädchen die halbe, ja die ganze Nacht
getanzt — er berichtet darüber selbst in seinen Briefen —, und auf der Harz-
reisc ist er glücklich, den Masken des Hofes entflohen zu sein und Menschen zu
treffen, „die ein bestimmtes, einfaches, dauerndes, wichtiges Geschäft haben"
(7. Dezember 1777). Drei Tage vorher hatte er geschrieben: „Wie sehr ich
wieder auf diesem dunkeln Zug Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe,
die man niedere nennt, die aber für Gott die höchste ist! Da sind doch alle
Tugenden beisammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude
über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Ausharren —!" Zwei Jahre-
darauf spricht er im Tagebuch zu sich selbst (14. Juli 1779): „Wilts Gott,
daß mir Acker und Wiese noch werden und ich für'diesen simpelsten Erwerb
der Menschen Sinn kriege" — und aus der Schweiz schreibt er im November
desselben Jahres: „Eins glaub ich überall zu bemerken: je weiter man von der
Landstraße und dem größern Gewerbe der Menschen abkommt, je mehr in den
Gebirgen die Menschen beschränkt, abgeschnitten und auf die allerersten Bedürf¬
nisse des Lebens zurückgewieselt sind, je mehr sie sich von einem einfachen, lang¬
samen, unveränderlichen Erwerbe nähren, desto besser, willfähriger, frenndlicher,
uneigennütziger, gastfreier bei ihrer Armut hab ich sie gefunden." Und am
11. Oktober 1781 will er zu Fuß von Gotha über die Gleichen nach Kochbcrg
wandern (er, der Geheimerat, der die letzten Tage im herzoglichen Schlosse ans
dem Friedenstein als gern gesehener Gast geweilt und mit dem Pariser Welt¬
mann Grimm verkehrt hatte!) und meldet dies dem Herzog mit den Worten:
„Vom hohen Friedenstein durch das flache Land, aus dem zusammengefaßten
Leben der obern Menschen zum einzelnen und einfacheren der niederen Landes¬
bewohner." Es ist als hätte er sich, als er diese Worte schrieb, nach der Ge-
fangenschaft am Gothaer Hof zurück zu sich selbst, zu der einsamen Natur ge¬
sehnt und in ländlichen Herbergen, unter einfältigen, beschränkten, unschuldigen
Menschen Erholung von den Fesseln der Gesellschaft gesucht. Biederer und mehr
politischer Art ist die Äußerung, die er ein halbes Jahr später gegen Knebel
fallen ließ (17. April 1782): „So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe
den Bauersmann der Erde das Notdürftige abfordern, das doch auch ein be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/310>, abgerufen am 28.07.2024.