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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe,

überläßt, Jarno, in dem Wilhelm einen beobachtenden, herzlosen Weltmann
findet ("der Edelmann sei kalt, aber verständig, verstellt, aber klug") und der
ihm dennoch, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab (er trägt in
manchen Zügen das Antlitz Herders, wie seine spätere Gattin Lybie das der
Karoline Flachsland, der Elektra), vor allem ihn mit Shakespeare bekannt macht
(der Dichter hätte, wenn dies angegangen wäre, statt Shakespeares auch seine
eignen Werke nennen können, die auch die damalige Nichtigkeit wie ein Feuer
verzehrten) u. s. w. Gegen Ende des Romans steigen wir allmählich in eine
höhere, edlere Bildungs- und Gcsinnungssphäre auf; durch furchtbare Schick¬
sale, durch Krankheit und Tod vertieft sich die Betrachtung, läutert sich die
Ansicht des Lebens, die trübe, verworrene Leidenschaft löst sich in weise Hu¬
manität auf. Wilhelm, der anfangs auf so vielen falschen Wegen irrte, hat sich
zurechtgefunden; er hat im Umgang mit edeln Frauen und äußerlich reichen
und vornehmen, innerlich gehaltvollen Männern die Harmonie von Geist und
Körper erreicht, die die Idee des Adels bildet, er hat sich z. B. fleißig im
Fechten und Tanzen geübt; und um des Gegensatzes willen kommt noch zuletzt
Werner, der erwerbsame prosaische Bürgersmann, hinzu, mit der spitzen Nase,
dem Kahlkopf und der hellen, schreienden Stimme, und findet seinen Freund
"größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen
'angenehmer geworden" -- "seht nur einmal, rief er, wie er steht, wie das alles
Paßt und zusammenhängt!" -- und was er sonst noch ähnliches hinzusetzt.
Ebendahin gehört die schöne Verteidigung des weiblichen Putzes, in einer Zeit,
deren Prophet Jean-Jacques, deren Fahne rohe Natürlichkeit war: "Wie thö¬
richt lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen
gegen Putz und Pracht auf und verlangen nur in einfachen, der Natur ange-
messenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen" u. s. w., und zum Schlüsse:
"Wenn Minerva ganz gerüstet aus dem Haupte des Jupiter entsprang, so
scheint diese Göttin ^die Gräfin^ in ihrem vollen Putze ans irgend einer Blume
mit leichtem Fuße hervorgetreten zu sein!"

Auch in den "Wahlverwandtschaften" sind wir ganz auf dem adlichen Schlosse
und nehmen Teil an den Liebhabereien, Gesinnungen, Beschäftigungen des Adels:
da werden Bau- und Parkanlagen gemacht, lebende Bilder aufgeführt, Klavier
und Flöte gespielt, Lustfahrten unternommen, Pferde nach Tische besehen (wie
im "Wilhelm Meister" 3, 8 auch Hunde und -- Schauspieler); da geht der
Herr Baron, weil zu Hause die Dinge sich verwickelt haben, wieder ins Regi¬
ment, vermutlich in kaiserliche Dienste, und verdient sich militärische Orden.
Auch die Liebe untergeordneter Personen zu adlichen Fräulein ist nicht vergessen,
aber sie muß ein Geheimnis bleiben und erregt nur Lächeln, wenn sie sich verrät.
Die Ehe in ihrer Zerrüttung wirkt umso ergreifender, als die Naturgewalt der
Leidenschaft mitten in einem Reiche der Selbstbeherrschung und geselliger Formen
nicht roh ausbrechen darf und nur wie unter einer Hülle lodert und das Herz


Grenzboten IV. 1883. 33
Gedanken über Goethe,

überläßt, Jarno, in dem Wilhelm einen beobachtenden, herzlosen Weltmann
findet („der Edelmann sei kalt, aber verständig, verstellt, aber klug") und der
ihm dennoch, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab (er trägt in
manchen Zügen das Antlitz Herders, wie seine spätere Gattin Lybie das der
Karoline Flachsland, der Elektra), vor allem ihn mit Shakespeare bekannt macht
(der Dichter hätte, wenn dies angegangen wäre, statt Shakespeares auch seine
eignen Werke nennen können, die auch die damalige Nichtigkeit wie ein Feuer
verzehrten) u. s. w. Gegen Ende des Romans steigen wir allmählich in eine
höhere, edlere Bildungs- und Gcsinnungssphäre auf; durch furchtbare Schick¬
sale, durch Krankheit und Tod vertieft sich die Betrachtung, läutert sich die
Ansicht des Lebens, die trübe, verworrene Leidenschaft löst sich in weise Hu¬
manität auf. Wilhelm, der anfangs auf so vielen falschen Wegen irrte, hat sich
zurechtgefunden; er hat im Umgang mit edeln Frauen und äußerlich reichen
und vornehmen, innerlich gehaltvollen Männern die Harmonie von Geist und
Körper erreicht, die die Idee des Adels bildet, er hat sich z. B. fleißig im
Fechten und Tanzen geübt; und um des Gegensatzes willen kommt noch zuletzt
Werner, der erwerbsame prosaische Bürgersmann, hinzu, mit der spitzen Nase,
dem Kahlkopf und der hellen, schreienden Stimme, und findet seinen Freund
„größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen
'angenehmer geworden" — „seht nur einmal, rief er, wie er steht, wie das alles
Paßt und zusammenhängt!" — und was er sonst noch ähnliches hinzusetzt.
Ebendahin gehört die schöne Verteidigung des weiblichen Putzes, in einer Zeit,
deren Prophet Jean-Jacques, deren Fahne rohe Natürlichkeit war: „Wie thö¬
richt lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen
gegen Putz und Pracht auf und verlangen nur in einfachen, der Natur ange-
messenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen" u. s. w., und zum Schlüsse:
„Wenn Minerva ganz gerüstet aus dem Haupte des Jupiter entsprang, so
scheint diese Göttin ^die Gräfin^ in ihrem vollen Putze ans irgend einer Blume
mit leichtem Fuße hervorgetreten zu sein!"

Auch in den „Wahlverwandtschaften" sind wir ganz auf dem adlichen Schlosse
und nehmen Teil an den Liebhabereien, Gesinnungen, Beschäftigungen des Adels:
da werden Bau- und Parkanlagen gemacht, lebende Bilder aufgeführt, Klavier
und Flöte gespielt, Lustfahrten unternommen, Pferde nach Tische besehen (wie
im „Wilhelm Meister" 3, 8 auch Hunde und — Schauspieler); da geht der
Herr Baron, weil zu Hause die Dinge sich verwickelt haben, wieder ins Regi¬
ment, vermutlich in kaiserliche Dienste, und verdient sich militärische Orden.
Auch die Liebe untergeordneter Personen zu adlichen Fräulein ist nicht vergessen,
aber sie muß ein Geheimnis bleiben und erregt nur Lächeln, wenn sie sich verrät.
Die Ehe in ihrer Zerrüttung wirkt umso ergreifender, als die Naturgewalt der
Leidenschaft mitten in einem Reiche der Selbstbeherrschung und geselliger Formen
nicht roh ausbrechen darf und nur wie unter einer Hülle lodert und das Herz


Grenzboten IV. 1883. 33
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[0307] Gedanken über Goethe, überläßt, Jarno, in dem Wilhelm einen beobachtenden, herzlosen Weltmann findet („der Edelmann sei kalt, aber verständig, verstellt, aber klug") und der ihm dennoch, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab (er trägt in manchen Zügen das Antlitz Herders, wie seine spätere Gattin Lybie das der Karoline Flachsland, der Elektra), vor allem ihn mit Shakespeare bekannt macht (der Dichter hätte, wenn dies angegangen wäre, statt Shakespeares auch seine eignen Werke nennen können, die auch die damalige Nichtigkeit wie ein Feuer verzehrten) u. s. w. Gegen Ende des Romans steigen wir allmählich in eine höhere, edlere Bildungs- und Gcsinnungssphäre auf; durch furchtbare Schick¬ sale, durch Krankheit und Tod vertieft sich die Betrachtung, läutert sich die Ansicht des Lebens, die trübe, verworrene Leidenschaft löst sich in weise Hu¬ manität auf. Wilhelm, der anfangs auf so vielen falschen Wegen irrte, hat sich zurechtgefunden; er hat im Umgang mit edeln Frauen und äußerlich reichen und vornehmen, innerlich gehaltvollen Männern die Harmonie von Geist und Körper erreicht, die die Idee des Adels bildet, er hat sich z. B. fleißig im Fechten und Tanzen geübt; und um des Gegensatzes willen kommt noch zuletzt Werner, der erwerbsame prosaische Bürgersmann, hinzu, mit der spitzen Nase, dem Kahlkopf und der hellen, schreienden Stimme, und findet seinen Freund „größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen 'angenehmer geworden" — „seht nur einmal, rief er, wie er steht, wie das alles Paßt und zusammenhängt!" — und was er sonst noch ähnliches hinzusetzt. Ebendahin gehört die schöne Verteidigung des weiblichen Putzes, in einer Zeit, deren Prophet Jean-Jacques, deren Fahne rohe Natürlichkeit war: „Wie thö¬ richt lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen gegen Putz und Pracht auf und verlangen nur in einfachen, der Natur ange- messenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen" u. s. w., und zum Schlüsse: „Wenn Minerva ganz gerüstet aus dem Haupte des Jupiter entsprang, so scheint diese Göttin ^die Gräfin^ in ihrem vollen Putze ans irgend einer Blume mit leichtem Fuße hervorgetreten zu sein!" Auch in den „Wahlverwandtschaften" sind wir ganz auf dem adlichen Schlosse und nehmen Teil an den Liebhabereien, Gesinnungen, Beschäftigungen des Adels: da werden Bau- und Parkanlagen gemacht, lebende Bilder aufgeführt, Klavier und Flöte gespielt, Lustfahrten unternommen, Pferde nach Tische besehen (wie im „Wilhelm Meister" 3, 8 auch Hunde und — Schauspieler); da geht der Herr Baron, weil zu Hause die Dinge sich verwickelt haben, wieder ins Regi¬ ment, vermutlich in kaiserliche Dienste, und verdient sich militärische Orden. Auch die Liebe untergeordneter Personen zu adlichen Fräulein ist nicht vergessen, aber sie muß ein Geheimnis bleiben und erregt nur Lächeln, wenn sie sich verrät. Die Ehe in ihrer Zerrüttung wirkt umso ergreifender, als die Naturgewalt der Leidenschaft mitten in einem Reiche der Selbstbeherrschung und geselliger Formen nicht roh ausbrechen darf und nur wie unter einer Hülle lodert und das Herz Grenzboten IV. 1883. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/307>, abgerufen am 01.09.2024.