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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

muß es dann mit ansehen, wie andre, die ein leichteres Gewissen haben, in
ihren: Geschäft fortkommen und gedeihen. Durch Schulen wird die Bildung
bis in die untersten Schichten verbreitet, aber die Bildung ist nur schön, wenn
sie vollendet ist, und da sie das für die Menge nicht sein kann, so giebt sie für
die verlorene Sicherheit der Natur keinen oder nur trügerischen Ersatz. Jeder
glaubt alles zu verstehen, und je weniger sein Urteil über Menschen und Ver¬
hältnisse zulangt, mit umso schnöderem, selbstgefälligerem Dünkel giebt er es
ab, am liebsten in der Form höhnischen Witzes, der das Ideal und alles Be¬
stehende zersetzt.

Weniger als die bürgerliche Mittelklasse hat dieser Verlauf der Dinge den
Adel und die höhere Gesellschaft betroffen -- obgleich auch diese mit jedem
Jahre mehr durch die an einen fremden Stamm geknüpfte Plutokratie aus ihrer
Stellung gedrängt und durch das Konnubium mit derselben innerlich, bis auf
den letzten Blutstropfen und die geheimste Regung des Gemütes und Gewissens,
verwandelt wird. Zu Goethes Zeit bildete der Adel noch eine eigne Welt, die
seine Hand gleichfalls in sprechenden Lebens- und Sittenbildern vor uns aus¬
breitet. Wir versuchen auch diese Eigenheiten zu sammeln und sie nach des
Dichters Vorgang dem Bürgertum, wie es war und ist, gegenüberzustellen.

^ Schon in den Jugendwcrken finden sich einzelne Züge der Art zerstreut,
z. B. in Auerbachs Keller:


Sie sind aus einem hohen Haus,
Sie sehen stolz und unzufrieden aus*) --

oder Mephisto zu Gretchen (um sie als Fräulein zu bezeichnen):


Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf --

oder Gretchen allein:


Er sah gewiß recht wacker aus
Und ist aus einem edlen Haus,
Das konnt' ich ihm an der Stirne lesen --
Er wär auch sonst nicht so keck gewesen --

oder Gretchen von ihrem Schmuck:


Mit dem könnt' eine Edelfrau
Am höchsten Feiertage gehn.

Welchen Begriff sich der junge Dichter von der adlich-diplomatischen Gesellschaft
machte, geht aus dem zweiten Teil von "Werthers Leiden" besonders deutlich



*) Man vergleiche damit im Philander von Sittewald (wir brauchen unsre heutige
Orthographie): "Mancher Pfeffersack, Bläcker (d. h. Schreiber, Tintcnklcxer) und Bären¬
häuter, sobald er in ein fremdes Land kommt, eine wohlgclöstc Zung hat, saur sehen kann,
einen sammeten Mutzen (d. h. Rock, Wams) zahlen kann, will mit Don und Scüor trak-
tiret werden." Auch hier also die Unzufriedenheit, das Scmerschen als Kriterium der Vor¬
nehmheit. Solcher altpopulären Züge, Meinungen, Vorurteile, Sprachwcndungen unzählige
bei Goethe.
Gedanken über Goethe.

muß es dann mit ansehen, wie andre, die ein leichteres Gewissen haben, in
ihren: Geschäft fortkommen und gedeihen. Durch Schulen wird die Bildung
bis in die untersten Schichten verbreitet, aber die Bildung ist nur schön, wenn
sie vollendet ist, und da sie das für die Menge nicht sein kann, so giebt sie für
die verlorene Sicherheit der Natur keinen oder nur trügerischen Ersatz. Jeder
glaubt alles zu verstehen, und je weniger sein Urteil über Menschen und Ver¬
hältnisse zulangt, mit umso schnöderem, selbstgefälligerem Dünkel giebt er es
ab, am liebsten in der Form höhnischen Witzes, der das Ideal und alles Be¬
stehende zersetzt.

Weniger als die bürgerliche Mittelklasse hat dieser Verlauf der Dinge den
Adel und die höhere Gesellschaft betroffen — obgleich auch diese mit jedem
Jahre mehr durch die an einen fremden Stamm geknüpfte Plutokratie aus ihrer
Stellung gedrängt und durch das Konnubium mit derselben innerlich, bis auf
den letzten Blutstropfen und die geheimste Regung des Gemütes und Gewissens,
verwandelt wird. Zu Goethes Zeit bildete der Adel noch eine eigne Welt, die
seine Hand gleichfalls in sprechenden Lebens- und Sittenbildern vor uns aus¬
breitet. Wir versuchen auch diese Eigenheiten zu sammeln und sie nach des
Dichters Vorgang dem Bürgertum, wie es war und ist, gegenüberzustellen.

^ Schon in den Jugendwcrken finden sich einzelne Züge der Art zerstreut,
z. B. in Auerbachs Keller:


Sie sind aus einem hohen Haus,
Sie sehen stolz und unzufrieden aus*) —

oder Mephisto zu Gretchen (um sie als Fräulein zu bezeichnen):


Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf —

oder Gretchen allein:


Er sah gewiß recht wacker aus
Und ist aus einem edlen Haus,
Das konnt' ich ihm an der Stirne lesen —
Er wär auch sonst nicht so keck gewesen —

oder Gretchen von ihrem Schmuck:


Mit dem könnt' eine Edelfrau
Am höchsten Feiertage gehn.

Welchen Begriff sich der junge Dichter von der adlich-diplomatischen Gesellschaft
machte, geht aus dem zweiten Teil von „Werthers Leiden" besonders deutlich



*) Man vergleiche damit im Philander von Sittewald (wir brauchen unsre heutige
Orthographie): „Mancher Pfeffersack, Bläcker (d. h. Schreiber, Tintcnklcxer) und Bären¬
häuter, sobald er in ein fremdes Land kommt, eine wohlgclöstc Zung hat, saur sehen kann,
einen sammeten Mutzen (d. h. Rock, Wams) zahlen kann, will mit Don und Scüor trak-
tiret werden." Auch hier also die Unzufriedenheit, das Scmerschen als Kriterium der Vor¬
nehmheit. Solcher altpopulären Züge, Meinungen, Vorurteile, Sprachwcndungen unzählige
bei Goethe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/303>, abgerufen am 01.09.2024.