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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Hier würde sich das schöne Gedicht "Die glücklichen Gatten," das dem Dichter
bis in sein höchstes Alter lieb war, passend anschließen, wenn wir davon nicht
schon an einer andern Stelle gesprochen hätten.*)

Nachdem die Woche über fleißig gearbeitet worden, ist der Sonntag die
Zeit der Erholung, bescheidenen Genusses, der Spaziergänge vors Thor, der
Landfahrten. Am Vormittag geht der Bürger, sauber gewaschen und gekämmt,
das Gesangbuch unterm Arme, in die aus alten Zeiten stammende Kirche, die
durch ihre seltsame Bauart nur noch ehrwürdiger wird; die Stube, die Werk¬
statt ist schon tags vorher gescheuert und ausgestäubt, die messingenen Beschläge
glänzen spiegelhell, die Betten sind schneeweiß überzogen, ein Gericht mehr wird
aufgetragen. Nachmittags gehts in Begleitung von Frau und Töchtern, Ge¬
sellen und Burschen, zum Thor hinaus, ins Freie. So sehen wir im "Faust"
am Osternachmittage die Stadt nach allen Richtungen aufs Land, an die Lust¬
örter sich ergießen, und sie wandern alle an uns vorbei, Typen jeder Art, je
nach Stand und Alter in den natürlichsten Worten redend, die der Dichter in die
ungezwungensten, holdesten Reime gefaßt hat. "Saure Wochen, frohe Feste" --
diese Lehre wird dem Schatzgräber zuteil, d. h. dem, der auf abenteuerlichen
Wegen dem Glück nachjagt und den wahren Schatz, die bleibende Befriedigung
in Arbeit und geordnetem Wechsel, nicht zu finden weiß. Nur der Fleißige
genießt den Sonntag, den Festtag, der ihn auf eine Weile frei macht und sich
selbst zurückgiebt:


Aus Handwerks- und Gewerbesbanden
Sind sie alle ans Licht gebracht.

In der Stille des Sonntags regt sich das Höhere im Menschen -- wir sehen
es an Hans Sachs. Er steht im saubern Feierwams da, hat das schmutzige Schurz¬
fell abgelegt, läßt Pechdraht, Hammer und Kneipe rasten, und da naht ihm die Muse
und giebt ihm schwanke und gute Sprüche und Lehren ein. Damals, als der Vater
des Apothekers dem Knaben die Ungeduld benahm und drüben die Tischlerwerkstatt
geschlossen war, da war es Sonntag, und die Fahrt ging nach dem Lindenbrunnen,
und der Tischler mit seinen Gesellen wird sich auch dort eingefunden haben. Als
vor zwanzig Jahren die Feuersbrunst im Städtchen ausbrach, wurde sie deshalb
so gefährlich, weil alle Leute als am Sonntag in festlichen Kleidern spazierend
ni dri Dörfern und in Schenken und Mühlen sich zerstreut hatten. Und an
dem Tage, wo die Geschichte in "Hermann und Dorothea" vorgeht, ist es



*) Unter den "Naturformen." Manches von dem, was in jenem Kapitel zusammen¬
gestellt worden, ließe sich auch hier unter den Sitten des Bürgertums einordnen und um¬
gekehrt, wie das Allgemeine und das Besondere sich nicht trennen, sondern sich immer auf
einander beziehen. Doch ist der Gesichtspunkt hier und dort ein verschiedener und in
andrer Betrachtung tritt aus demselben Gegenstände auch ein andrer Inhalt hervor.
Gedanken über Goethe.

Hier würde sich das schöne Gedicht „Die glücklichen Gatten," das dem Dichter
bis in sein höchstes Alter lieb war, passend anschließen, wenn wir davon nicht
schon an einer andern Stelle gesprochen hätten.*)

Nachdem die Woche über fleißig gearbeitet worden, ist der Sonntag die
Zeit der Erholung, bescheidenen Genusses, der Spaziergänge vors Thor, der
Landfahrten. Am Vormittag geht der Bürger, sauber gewaschen und gekämmt,
das Gesangbuch unterm Arme, in die aus alten Zeiten stammende Kirche, die
durch ihre seltsame Bauart nur noch ehrwürdiger wird; die Stube, die Werk¬
statt ist schon tags vorher gescheuert und ausgestäubt, die messingenen Beschläge
glänzen spiegelhell, die Betten sind schneeweiß überzogen, ein Gericht mehr wird
aufgetragen. Nachmittags gehts in Begleitung von Frau und Töchtern, Ge¬
sellen und Burschen, zum Thor hinaus, ins Freie. So sehen wir im „Faust"
am Osternachmittage die Stadt nach allen Richtungen aufs Land, an die Lust¬
örter sich ergießen, und sie wandern alle an uns vorbei, Typen jeder Art, je
nach Stand und Alter in den natürlichsten Worten redend, die der Dichter in die
ungezwungensten, holdesten Reime gefaßt hat. „Saure Wochen, frohe Feste" —
diese Lehre wird dem Schatzgräber zuteil, d. h. dem, der auf abenteuerlichen
Wegen dem Glück nachjagt und den wahren Schatz, die bleibende Befriedigung
in Arbeit und geordnetem Wechsel, nicht zu finden weiß. Nur der Fleißige
genießt den Sonntag, den Festtag, der ihn auf eine Weile frei macht und sich
selbst zurückgiebt:


Aus Handwerks- und Gewerbesbanden
Sind sie alle ans Licht gebracht.

In der Stille des Sonntags regt sich das Höhere im Menschen — wir sehen
es an Hans Sachs. Er steht im saubern Feierwams da, hat das schmutzige Schurz¬
fell abgelegt, läßt Pechdraht, Hammer und Kneipe rasten, und da naht ihm die Muse
und giebt ihm schwanke und gute Sprüche und Lehren ein. Damals, als der Vater
des Apothekers dem Knaben die Ungeduld benahm und drüben die Tischlerwerkstatt
geschlossen war, da war es Sonntag, und die Fahrt ging nach dem Lindenbrunnen,
und der Tischler mit seinen Gesellen wird sich auch dort eingefunden haben. Als
vor zwanzig Jahren die Feuersbrunst im Städtchen ausbrach, wurde sie deshalb
so gefährlich, weil alle Leute als am Sonntag in festlichen Kleidern spazierend
ni dri Dörfern und in Schenken und Mühlen sich zerstreut hatten. Und an
dem Tage, wo die Geschichte in „Hermann und Dorothea" vorgeht, ist es



*) Unter den „Naturformen." Manches von dem, was in jenem Kapitel zusammen¬
gestellt worden, ließe sich auch hier unter den Sitten des Bürgertums einordnen und um¬
gekehrt, wie das Allgemeine und das Besondere sich nicht trennen, sondern sich immer auf
einander beziehen. Doch ist der Gesichtspunkt hier und dort ein verschiedener und in
andrer Betrachtung tritt aus demselben Gegenstände auch ein andrer Inhalt hervor.
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[0265] Gedanken über Goethe. Hier würde sich das schöne Gedicht „Die glücklichen Gatten," das dem Dichter bis in sein höchstes Alter lieb war, passend anschließen, wenn wir davon nicht schon an einer andern Stelle gesprochen hätten.*) Nachdem die Woche über fleißig gearbeitet worden, ist der Sonntag die Zeit der Erholung, bescheidenen Genusses, der Spaziergänge vors Thor, der Landfahrten. Am Vormittag geht der Bürger, sauber gewaschen und gekämmt, das Gesangbuch unterm Arme, in die aus alten Zeiten stammende Kirche, die durch ihre seltsame Bauart nur noch ehrwürdiger wird; die Stube, die Werk¬ statt ist schon tags vorher gescheuert und ausgestäubt, die messingenen Beschläge glänzen spiegelhell, die Betten sind schneeweiß überzogen, ein Gericht mehr wird aufgetragen. Nachmittags gehts in Begleitung von Frau und Töchtern, Ge¬ sellen und Burschen, zum Thor hinaus, ins Freie. So sehen wir im „Faust" am Osternachmittage die Stadt nach allen Richtungen aufs Land, an die Lust¬ örter sich ergießen, und sie wandern alle an uns vorbei, Typen jeder Art, je nach Stand und Alter in den natürlichsten Worten redend, die der Dichter in die ungezwungensten, holdesten Reime gefaßt hat. „Saure Wochen, frohe Feste" — diese Lehre wird dem Schatzgräber zuteil, d. h. dem, der auf abenteuerlichen Wegen dem Glück nachjagt und den wahren Schatz, die bleibende Befriedigung in Arbeit und geordnetem Wechsel, nicht zu finden weiß. Nur der Fleißige genießt den Sonntag, den Festtag, der ihn auf eine Weile frei macht und sich selbst zurückgiebt: Aus Handwerks- und Gewerbesbanden Sind sie alle ans Licht gebracht. In der Stille des Sonntags regt sich das Höhere im Menschen — wir sehen es an Hans Sachs. Er steht im saubern Feierwams da, hat das schmutzige Schurz¬ fell abgelegt, läßt Pechdraht, Hammer und Kneipe rasten, und da naht ihm die Muse und giebt ihm schwanke und gute Sprüche und Lehren ein. Damals, als der Vater des Apothekers dem Knaben die Ungeduld benahm und drüben die Tischlerwerkstatt geschlossen war, da war es Sonntag, und die Fahrt ging nach dem Lindenbrunnen, und der Tischler mit seinen Gesellen wird sich auch dort eingefunden haben. Als vor zwanzig Jahren die Feuersbrunst im Städtchen ausbrach, wurde sie deshalb so gefährlich, weil alle Leute als am Sonntag in festlichen Kleidern spazierend ni dri Dörfern und in Schenken und Mühlen sich zerstreut hatten. Und an dem Tage, wo die Geschichte in „Hermann und Dorothea" vorgeht, ist es *) Unter den „Naturformen." Manches von dem, was in jenem Kapitel zusammen¬ gestellt worden, ließe sich auch hier unter den Sitten des Bürgertums einordnen und um¬ gekehrt, wie das Allgemeine und das Besondere sich nicht trennen, sondern sich immer auf einander beziehen. Doch ist der Gesichtspunkt hier und dort ein verschiedener und in andrer Betrachtung tritt aus demselben Gegenstände auch ein andrer Inhalt hervor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/265>, abgerufen am 28.07.2024.