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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

das Gedicht möglich gewesen, wenn alles nach dem Maße gemeiner Sitte ge¬
gangen wäre?

In älterer Zeit, berichtet uns der Apotheker, war es Gebrauch, daß wenn
die Eltern für ihren Sohn eine Braut sich ersehen hatten, sie einen vertrauten
Freund des Hauses beriefen und ihn als Frciersmann zu den Eltern des Mädchens
sandten. Dieser kam etwa Sonntags nach Tische stattlich geputzt in das er¬
korene Haus, sprach zuerst über allgemeines, lenkte dann das Gespräch geschickt
auf die Tochter, die er nach Gebühr lobte, dann auf den Mann, von dem er
kam und dessen er gleichfalls rühmend gedachte. Kluge Leute merkten die Ab¬
sicht und konnten sich weiter erklären; ward der Antrag abgelehnt, so wars
für niemand eine Schande. Gelang aber die Unterhandlung, so blieb im Hause
des neuen Paares der Freiersmann auf immer der Erste, und sie erinnerten
sich seiner ihr Leben lang. "Jetzt ist das alles, fügt der Sprechende hinzu,
mit andern guten Gebräuchen aus der Mode gekommen." Hier ist zunächst
die letztere Äußerung ganz im Geiste und Sinne des Bürgers: in die behag¬
liche Gegenwart eingesponnen, stößt er doch auf dieses und jenes Hindernis,
auf mehr als eine unwillkommene Neuerung; unmutig über die Störung, liebt
er es, auf frühere, bessere Zeiten sich zu berufen und die jetzigen Unsitten zu
beklagen. Sonst, sagt der Gastwirt, ging man bequem im Pantoffel und
Mütze, jetzt will man, der Mann soll immer gestiefelt sein u. f. w. Alles
wird täglich teurer, klagt er bei andrer Gelegenheit, und der Apotheker sagt,
er hätte wohl auch gern sein Haus erneuert,


Aber es fürchtet sich jeder, auch nur zu rücken das Kleinste,
Denn wer vermöchte wohl jetzt die Arbeitsleute zu zahlen?

Ganz so heißt es von König Emmerichs Schatze (im "Reineke Fuchs," 5. Gesaug)


Goldenes Kunstwerk: man macht es nicht mehr, wer wollt' es bezahlen?

Dann ist jene Art der Ehestiftung, wo die Eltern wühlen, die am meisten
bürgerliche, denn sie setzt ein noch ungebrochenes Dasein voraus, Einheit der
Sitte und des Gemütes. Der Sohn muß heiraten -- dieser Entschluß geht
voraus. Die Eltern ratschlagen; indem sie seinen Sinn auf ein Mädchen lenken,
folgt daraus von selbst die Neigung. Hegel an einer berühmten Stelle seiner
"Philosophie des Rechtes" (§ 162) möchte es sogar ganz im allgemeinen für sitt¬
licher halten, wenn die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern den Anfang
macht, und in der That, die Eltern werden bei ihrer Wahl mehr durch den
Sachverhalt, den allgemeinen Zweck bestimmt, sie erwägen, ob die Häuser passen,
das Vermögen zureicht, die neue Familie gedeihliche Verhältnisse vorfindet; der
Sohn, unverdorben und von den Ausschweifungen übergreifender Phantasie
unberührt, begehrt nur uach Ergänzung durch das Geschlecht überhaupt, und
das nußbraune Mädchen gilt ihm dann soviel als das schneeweiße. In einer
völlig gesunden Welt freilich werden beide Seiten nicht in Widerspruch geraten,


Gedanken über Goethe.

das Gedicht möglich gewesen, wenn alles nach dem Maße gemeiner Sitte ge¬
gangen wäre?

In älterer Zeit, berichtet uns der Apotheker, war es Gebrauch, daß wenn
die Eltern für ihren Sohn eine Braut sich ersehen hatten, sie einen vertrauten
Freund des Hauses beriefen und ihn als Frciersmann zu den Eltern des Mädchens
sandten. Dieser kam etwa Sonntags nach Tische stattlich geputzt in das er¬
korene Haus, sprach zuerst über allgemeines, lenkte dann das Gespräch geschickt
auf die Tochter, die er nach Gebühr lobte, dann auf den Mann, von dem er
kam und dessen er gleichfalls rühmend gedachte. Kluge Leute merkten die Ab¬
sicht und konnten sich weiter erklären; ward der Antrag abgelehnt, so wars
für niemand eine Schande. Gelang aber die Unterhandlung, so blieb im Hause
des neuen Paares der Freiersmann auf immer der Erste, und sie erinnerten
sich seiner ihr Leben lang. „Jetzt ist das alles, fügt der Sprechende hinzu,
mit andern guten Gebräuchen aus der Mode gekommen." Hier ist zunächst
die letztere Äußerung ganz im Geiste und Sinne des Bürgers: in die behag¬
liche Gegenwart eingesponnen, stößt er doch auf dieses und jenes Hindernis,
auf mehr als eine unwillkommene Neuerung; unmutig über die Störung, liebt
er es, auf frühere, bessere Zeiten sich zu berufen und die jetzigen Unsitten zu
beklagen. Sonst, sagt der Gastwirt, ging man bequem im Pantoffel und
Mütze, jetzt will man, der Mann soll immer gestiefelt sein u. f. w. Alles
wird täglich teurer, klagt er bei andrer Gelegenheit, und der Apotheker sagt,
er hätte wohl auch gern sein Haus erneuert,


Aber es fürchtet sich jeder, auch nur zu rücken das Kleinste,
Denn wer vermöchte wohl jetzt die Arbeitsleute zu zahlen?

Ganz so heißt es von König Emmerichs Schatze (im „Reineke Fuchs," 5. Gesaug)


Goldenes Kunstwerk: man macht es nicht mehr, wer wollt' es bezahlen?

Dann ist jene Art der Ehestiftung, wo die Eltern wühlen, die am meisten
bürgerliche, denn sie setzt ein noch ungebrochenes Dasein voraus, Einheit der
Sitte und des Gemütes. Der Sohn muß heiraten — dieser Entschluß geht
voraus. Die Eltern ratschlagen; indem sie seinen Sinn auf ein Mädchen lenken,
folgt daraus von selbst die Neigung. Hegel an einer berühmten Stelle seiner
„Philosophie des Rechtes" (§ 162) möchte es sogar ganz im allgemeinen für sitt¬
licher halten, wenn die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern den Anfang
macht, und in der That, die Eltern werden bei ihrer Wahl mehr durch den
Sachverhalt, den allgemeinen Zweck bestimmt, sie erwägen, ob die Häuser passen,
das Vermögen zureicht, die neue Familie gedeihliche Verhältnisse vorfindet; der
Sohn, unverdorben und von den Ausschweifungen übergreifender Phantasie
unberührt, begehrt nur uach Ergänzung durch das Geschlecht überhaupt, und
das nußbraune Mädchen gilt ihm dann soviel als das schneeweiße. In einer
völlig gesunden Welt freilich werden beide Seiten nicht in Widerspruch geraten,


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[0263] Gedanken über Goethe. das Gedicht möglich gewesen, wenn alles nach dem Maße gemeiner Sitte ge¬ gangen wäre? In älterer Zeit, berichtet uns der Apotheker, war es Gebrauch, daß wenn die Eltern für ihren Sohn eine Braut sich ersehen hatten, sie einen vertrauten Freund des Hauses beriefen und ihn als Frciersmann zu den Eltern des Mädchens sandten. Dieser kam etwa Sonntags nach Tische stattlich geputzt in das er¬ korene Haus, sprach zuerst über allgemeines, lenkte dann das Gespräch geschickt auf die Tochter, die er nach Gebühr lobte, dann auf den Mann, von dem er kam und dessen er gleichfalls rühmend gedachte. Kluge Leute merkten die Ab¬ sicht und konnten sich weiter erklären; ward der Antrag abgelehnt, so wars für niemand eine Schande. Gelang aber die Unterhandlung, so blieb im Hause des neuen Paares der Freiersmann auf immer der Erste, und sie erinnerten sich seiner ihr Leben lang. „Jetzt ist das alles, fügt der Sprechende hinzu, mit andern guten Gebräuchen aus der Mode gekommen." Hier ist zunächst die letztere Äußerung ganz im Geiste und Sinne des Bürgers: in die behag¬ liche Gegenwart eingesponnen, stößt er doch auf dieses und jenes Hindernis, auf mehr als eine unwillkommene Neuerung; unmutig über die Störung, liebt er es, auf frühere, bessere Zeiten sich zu berufen und die jetzigen Unsitten zu beklagen. Sonst, sagt der Gastwirt, ging man bequem im Pantoffel und Mütze, jetzt will man, der Mann soll immer gestiefelt sein u. f. w. Alles wird täglich teurer, klagt er bei andrer Gelegenheit, und der Apotheker sagt, er hätte wohl auch gern sein Haus erneuert, Aber es fürchtet sich jeder, auch nur zu rücken das Kleinste, Denn wer vermöchte wohl jetzt die Arbeitsleute zu zahlen? Ganz so heißt es von König Emmerichs Schatze (im „Reineke Fuchs," 5. Gesaug) Goldenes Kunstwerk: man macht es nicht mehr, wer wollt' es bezahlen? Dann ist jene Art der Ehestiftung, wo die Eltern wühlen, die am meisten bürgerliche, denn sie setzt ein noch ungebrochenes Dasein voraus, Einheit der Sitte und des Gemütes. Der Sohn muß heiraten — dieser Entschluß geht voraus. Die Eltern ratschlagen; indem sie seinen Sinn auf ein Mädchen lenken, folgt daraus von selbst die Neigung. Hegel an einer berühmten Stelle seiner „Philosophie des Rechtes" (§ 162) möchte es sogar ganz im allgemeinen für sitt¬ licher halten, wenn die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern den Anfang macht, und in der That, die Eltern werden bei ihrer Wahl mehr durch den Sachverhalt, den allgemeinen Zweck bestimmt, sie erwägen, ob die Häuser passen, das Vermögen zureicht, die neue Familie gedeihliche Verhältnisse vorfindet; der Sohn, unverdorben und von den Ausschweifungen übergreifender Phantasie unberührt, begehrt nur uach Ergänzung durch das Geschlecht überhaupt, und das nußbraune Mädchen gilt ihm dann soviel als das schneeweiße. In einer völlig gesunden Welt freilich werden beide Seiten nicht in Widerspruch geraten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/263>, abgerufen am 28.07.2024.