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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Und wie natürlich ist es, daß auch aus der Nachbarschaft gefreit wird! Beide,
Jüngling und Mädchen, sind ja zusammen Kinder gewesen, in derselben Um¬
gebung erwachsen, sie reden dieselbe Sprache, die Eltern sind sich bekannt, viel¬
leicht befreundet -- das paßt zu einander; sich täglich sehen, heißt in dem Alter,
wo das Naturgefühl erwacht, sich lieben, mit allmächtigen, nur durch die Scham
verhülltem und gehemmtem Zuge einander zustreben. So giebt schon der alte
Hesiod die Lehre: "Du heiratest am besten die, die nahe bei dir wohnt" (Werke
und Tage, 700):



und so waren Hermanns Eltern Nachbarskinder gewesen, so sind es Alexis und
Dora:


Schöne Nachbarin, ja so war ich gewohnt dich zu sehen --

und wäre es nach des Vaters Willen gegangen, so hätte sich Hermann drüben
aus dem grünen Nachbarhause eine der Töchter geholt. Aber Hermann mochte
dies nicht, denn, wie der gleich folgende Vers der "Werke und Tage" taillee:
"Schaue gleichwohl bei der Wahl um dich, daß du nicht zur Schadenfreude der
Nachbarn werdest":


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In ältester Zeit, wo unsre Voreltern mit ihren Herden noch unstät umher¬
zogen, da raubte sich der Mann aus der Ferne, aus fremdem Stamme das
Mädchen zum Weibe, und so kam immer frisches Blut in die abgeschlossene
Horde und mit dem Wechsel oft auch Veredlung. Dann wurden die Menschen
ansässig, und die Blutsverwandten, die Stammesgenossen siedelten sich neben¬
einander an- Noch später lockerte sich das patriarchalische Band und die Nach¬
barschaft erhielt in friedlicher Zeit freien sittlichen Wert. Gute Nachbarn wurden
ein Segen, böse Nachbarn ein Fluch, und viele Sprichwörter der Alten und der
Neuern geben darüber Bescheid. Wenn es in der vierten Bitte im Vaterunser
heißt: "Unser täglich Brot gieb uns heute," so solle" wir darunter, wie Luther
erläutert, nicht bloß des Leibes Nahrung und Notdurft verstehe", sondern auch
"gute Freunde und getreue Nachbarn." Als einst Themistokles, so wird er¬
zählt, ein Grundstück verkaufen wollte, ließ er ausrufen, es habe den Vorzug
guter, wohlgesinnter Nachbarn. Oft hadern zwei Nachbarn um ein Stück Land;
giebt nun der eine seine Tochter dem andern zum Weibe, so erledigt sich der
Streit von selbst. So thaten der Brautvater und der Bräutigam im "Götz
von Berlichingen," und es kehrte Ruh und Frieden unter ihnen wieder ein.
Hermann freilich verband sich mit einer Fremden von jenseits des Rheines --
er hatte sie aber sicher erkannt, und als Fremde brachte sie Bewegung und
neue Gedanken in das sonst allzu stille Haus und Städtchen. Und wäre wohl


Gedanken über Goethe.

Und wie natürlich ist es, daß auch aus der Nachbarschaft gefreit wird! Beide,
Jüngling und Mädchen, sind ja zusammen Kinder gewesen, in derselben Um¬
gebung erwachsen, sie reden dieselbe Sprache, die Eltern sind sich bekannt, viel¬
leicht befreundet — das paßt zu einander; sich täglich sehen, heißt in dem Alter,
wo das Naturgefühl erwacht, sich lieben, mit allmächtigen, nur durch die Scham
verhülltem und gehemmtem Zuge einander zustreben. So giebt schon der alte
Hesiod die Lehre: „Du heiratest am besten die, die nahe bei dir wohnt" (Werke
und Tage, 700):



und so waren Hermanns Eltern Nachbarskinder gewesen, so sind es Alexis und
Dora:


Schöne Nachbarin, ja so war ich gewohnt dich zu sehen —

und wäre es nach des Vaters Willen gegangen, so hätte sich Hermann drüben
aus dem grünen Nachbarhause eine der Töchter geholt. Aber Hermann mochte
dies nicht, denn, wie der gleich folgende Vers der „Werke und Tage" taillee:
„Schaue gleichwohl bei der Wahl um dich, daß du nicht zur Schadenfreude der
Nachbarn werdest":


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In ältester Zeit, wo unsre Voreltern mit ihren Herden noch unstät umher¬
zogen, da raubte sich der Mann aus der Ferne, aus fremdem Stamme das
Mädchen zum Weibe, und so kam immer frisches Blut in die abgeschlossene
Horde und mit dem Wechsel oft auch Veredlung. Dann wurden die Menschen
ansässig, und die Blutsverwandten, die Stammesgenossen siedelten sich neben¬
einander an- Noch später lockerte sich das patriarchalische Band und die Nach¬
barschaft erhielt in friedlicher Zeit freien sittlichen Wert. Gute Nachbarn wurden
ein Segen, böse Nachbarn ein Fluch, und viele Sprichwörter der Alten und der
Neuern geben darüber Bescheid. Wenn es in der vierten Bitte im Vaterunser
heißt: „Unser täglich Brot gieb uns heute," so solle» wir darunter, wie Luther
erläutert, nicht bloß des Leibes Nahrung und Notdurft verstehe», sondern auch
„gute Freunde und getreue Nachbarn." Als einst Themistokles, so wird er¬
zählt, ein Grundstück verkaufen wollte, ließ er ausrufen, es habe den Vorzug
guter, wohlgesinnter Nachbarn. Oft hadern zwei Nachbarn um ein Stück Land;
giebt nun der eine seine Tochter dem andern zum Weibe, so erledigt sich der
Streit von selbst. So thaten der Brautvater und der Bräutigam im „Götz
von Berlichingen," und es kehrte Ruh und Frieden unter ihnen wieder ein.
Hermann freilich verband sich mit einer Fremden von jenseits des Rheines —
er hatte sie aber sicher erkannt, und als Fremde brachte sie Bewegung und
neue Gedanken in das sonst allzu stille Haus und Städtchen. Und wäre wohl


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[0262] Gedanken über Goethe. Und wie natürlich ist es, daß auch aus der Nachbarschaft gefreit wird! Beide, Jüngling und Mädchen, sind ja zusammen Kinder gewesen, in derselben Um¬ gebung erwachsen, sie reden dieselbe Sprache, die Eltern sind sich bekannt, viel¬ leicht befreundet — das paßt zu einander; sich täglich sehen, heißt in dem Alter, wo das Naturgefühl erwacht, sich lieben, mit allmächtigen, nur durch die Scham verhülltem und gehemmtem Zuge einander zustreben. So giebt schon der alte Hesiod die Lehre: „Du heiratest am besten die, die nahe bei dir wohnt" (Werke und Tage, 700): und so waren Hermanns Eltern Nachbarskinder gewesen, so sind es Alexis und Dora: Schöne Nachbarin, ja so war ich gewohnt dich zu sehen — und wäre es nach des Vaters Willen gegangen, so hätte sich Hermann drüben aus dem grünen Nachbarhause eine der Töchter geholt. Aber Hermann mochte dies nicht, denn, wie der gleich folgende Vers der „Werke und Tage" taillee: „Schaue gleichwohl bei der Wahl um dich, daß du nicht zur Schadenfreude der Nachbarn werdest": ?r«or« «/izütg t'<)Vu^, ^e-rook ^a^/t«?« /^/^s> In ältester Zeit, wo unsre Voreltern mit ihren Herden noch unstät umher¬ zogen, da raubte sich der Mann aus der Ferne, aus fremdem Stamme das Mädchen zum Weibe, und so kam immer frisches Blut in die abgeschlossene Horde und mit dem Wechsel oft auch Veredlung. Dann wurden die Menschen ansässig, und die Blutsverwandten, die Stammesgenossen siedelten sich neben¬ einander an- Noch später lockerte sich das patriarchalische Band und die Nach¬ barschaft erhielt in friedlicher Zeit freien sittlichen Wert. Gute Nachbarn wurden ein Segen, böse Nachbarn ein Fluch, und viele Sprichwörter der Alten und der Neuern geben darüber Bescheid. Wenn es in der vierten Bitte im Vaterunser heißt: „Unser täglich Brot gieb uns heute," so solle» wir darunter, wie Luther erläutert, nicht bloß des Leibes Nahrung und Notdurft verstehe», sondern auch „gute Freunde und getreue Nachbarn." Als einst Themistokles, so wird er¬ zählt, ein Grundstück verkaufen wollte, ließ er ausrufen, es habe den Vorzug guter, wohlgesinnter Nachbarn. Oft hadern zwei Nachbarn um ein Stück Land; giebt nun der eine seine Tochter dem andern zum Weibe, so erledigt sich der Streit von selbst. So thaten der Brautvater und der Bräutigam im „Götz von Berlichingen," und es kehrte Ruh und Frieden unter ihnen wieder ein. Hermann freilich verband sich mit einer Fremden von jenseits des Rheines — er hatte sie aber sicher erkannt, und als Fremde brachte sie Bewegung und neue Gedanken in das sonst allzu stille Haus und Städtchen. Und wäre wohl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/262>, abgerufen am 28.07.2024.