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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken riber Goethe.

Völker löblicher Gebrauch" (Gott, Gemüt und Welt) -- "nach meiner löblichen
und unlöblichen Gewohnheit" (Italienische Reise) -- "herkömmlich löblicher Sitte
gemäß" (Campagne in Frankreich) -- "in der genauesten und bestimmtesten Be¬
schränkung einer löblichen hergebrachten Freiheit genoß" (Ans meinem Leben,
Buch 14) -- "der schweizerischen löblichen Ordnung und gesetzlichen Beschrän¬
kung" (ebenda, Buch 19) -- "in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen
und edeln Gegenständen, im Umgange mit guten Menschen aufgewachsen" (Wil¬
helm Meister) -- "die Frauen genießen einer löblichen Freiheit" (Die guten
Weiber) -- "nach alter löblicher oder uulöblicher Gewohnheit" (Otfried und
Lisena) -- "nach seiner löblichen Gewohnheit" (An Schiller, 15. Okt. 1796) --
und gewiß noch an andern Stellen.

Bürgerlich, kleinstädtisch ist auch die Geltung, die der Nachbarschaft zu¬
kommt. Die Nähe der Wohnung bringt gleiche Not, gleichen Zufall, wird zum
Bande der Freundschaft, zur Vertraulichkeit. Nachbar" sehen sich oft, helfen
sich aus, die Kinder erwachsen zusammenspielend auf demselben Hofe, klettern
über dieselben Gartenzäune herüber und hinüber. Die üble Nachrede ist nur
die andre Seite dieser wärmern menschlichen Teilnahme. Frau Marthe Schwerdt-
lein, die von ihrem Städtchen klagt:


es ist ein gar zu böser Ort,
Es ist als hätte niemand nichts zu treiben
Und nichts zu schaffen,
Als auf des Nachbarn Tritt und Schritt zu gaffen,
Und man kommt ins Gered', ivie man sich immer stellt --

ist Gretchens Nachbarin, zu ihr springt Gretchen hinüber, vertraut ihr, was sie
der Mutter nicht zu gestehen wagt, und in ihrem Garten geschehen die Zu¬
sammenkünfte mit Faust. Der Apotheker wird mit "Nachbar" angeredet und
hat als solcher ein Recht, Hermann bei der Brautwerbung zu helfen und in
einer so wichtigen Angelegenheit seine Stimme abzugeben. "Frisch, Herr Nachbar,
getrunken!" ruft ihm der Vater zu, und ein andermal: "Gern geb' ich es zu,
Herr Nachbar." Auch Hermann redet ihn so an: "Nachbar, keineswegs denk'
ich wie Ihr." Ein andres Beispiel bietet das Fastnachtsspiel vom Pater Brey.
Da ist der Würzkrämer als Nachbar befugt, der Frau Sibylle den Wahn zu
benehmen und den Herrn Pater zu entlarven. "Frau Nachbarin, sagt er, was
ist Ihr Begehr?" und sie spricht: "El, der Herr Nachbar braucht Einen nicht
!ehr," worauf er erwiedert:


Red sie das nicht. Es war eine Zeit,
Da waren wir gute Nachbarleut
Und borgten einander Schüsseln und Besen.

Und anch der Bürger, der am Ostcrnachmittage vor dem Thor spaziert, spricht
Ma andern:


Herr Nachbar, ja, so laß ichs auch geschehn.
Gedanken riber Goethe.

Völker löblicher Gebrauch" (Gott, Gemüt und Welt) — „nach meiner löblichen
und unlöblichen Gewohnheit" (Italienische Reise) — „herkömmlich löblicher Sitte
gemäß" (Campagne in Frankreich) — „in der genauesten und bestimmtesten Be¬
schränkung einer löblichen hergebrachten Freiheit genoß" (Ans meinem Leben,
Buch 14) — „der schweizerischen löblichen Ordnung und gesetzlichen Beschrän¬
kung" (ebenda, Buch 19) — „in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen
und edeln Gegenständen, im Umgange mit guten Menschen aufgewachsen" (Wil¬
helm Meister) — „die Frauen genießen einer löblichen Freiheit" (Die guten
Weiber) — „nach alter löblicher oder uulöblicher Gewohnheit" (Otfried und
Lisena) — „nach seiner löblichen Gewohnheit" (An Schiller, 15. Okt. 1796) —
und gewiß noch an andern Stellen.

Bürgerlich, kleinstädtisch ist auch die Geltung, die der Nachbarschaft zu¬
kommt. Die Nähe der Wohnung bringt gleiche Not, gleichen Zufall, wird zum
Bande der Freundschaft, zur Vertraulichkeit. Nachbar» sehen sich oft, helfen
sich aus, die Kinder erwachsen zusammenspielend auf demselben Hofe, klettern
über dieselben Gartenzäune herüber und hinüber. Die üble Nachrede ist nur
die andre Seite dieser wärmern menschlichen Teilnahme. Frau Marthe Schwerdt-
lein, die von ihrem Städtchen klagt:


es ist ein gar zu böser Ort,
Es ist als hätte niemand nichts zu treiben
Und nichts zu schaffen,
Als auf des Nachbarn Tritt und Schritt zu gaffen,
Und man kommt ins Gered', ivie man sich immer stellt —

ist Gretchens Nachbarin, zu ihr springt Gretchen hinüber, vertraut ihr, was sie
der Mutter nicht zu gestehen wagt, und in ihrem Garten geschehen die Zu¬
sammenkünfte mit Faust. Der Apotheker wird mit „Nachbar" angeredet und
hat als solcher ein Recht, Hermann bei der Brautwerbung zu helfen und in
einer so wichtigen Angelegenheit seine Stimme abzugeben. „Frisch, Herr Nachbar,
getrunken!" ruft ihm der Vater zu, und ein andermal: „Gern geb' ich es zu,
Herr Nachbar." Auch Hermann redet ihn so an: „Nachbar, keineswegs denk'
ich wie Ihr." Ein andres Beispiel bietet das Fastnachtsspiel vom Pater Brey.
Da ist der Würzkrämer als Nachbar befugt, der Frau Sibylle den Wahn zu
benehmen und den Herrn Pater zu entlarven. „Frau Nachbarin, sagt er, was
ist Ihr Begehr?" und sie spricht: „El, der Herr Nachbar braucht Einen nicht
!ehr," worauf er erwiedert:


Red sie das nicht. Es war eine Zeit,
Da waren wir gute Nachbarleut
Und borgten einander Schüsseln und Besen.

Und anch der Bürger, der am Ostcrnachmittage vor dem Thor spaziert, spricht
Ma andern:


Herr Nachbar, ja, so laß ichs auch geschehn.
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[0261] Gedanken riber Goethe. Völker löblicher Gebrauch" (Gott, Gemüt und Welt) — „nach meiner löblichen und unlöblichen Gewohnheit" (Italienische Reise) — „herkömmlich löblicher Sitte gemäß" (Campagne in Frankreich) — „in der genauesten und bestimmtesten Be¬ schränkung einer löblichen hergebrachten Freiheit genoß" (Ans meinem Leben, Buch 14) — „der schweizerischen löblichen Ordnung und gesetzlichen Beschrän¬ kung" (ebenda, Buch 19) — „in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen, im Umgange mit guten Menschen aufgewachsen" (Wil¬ helm Meister) — „die Frauen genießen einer löblichen Freiheit" (Die guten Weiber) — „nach alter löblicher oder uulöblicher Gewohnheit" (Otfried und Lisena) — „nach seiner löblichen Gewohnheit" (An Schiller, 15. Okt. 1796) — und gewiß noch an andern Stellen. Bürgerlich, kleinstädtisch ist auch die Geltung, die der Nachbarschaft zu¬ kommt. Die Nähe der Wohnung bringt gleiche Not, gleichen Zufall, wird zum Bande der Freundschaft, zur Vertraulichkeit. Nachbar» sehen sich oft, helfen sich aus, die Kinder erwachsen zusammenspielend auf demselben Hofe, klettern über dieselben Gartenzäune herüber und hinüber. Die üble Nachrede ist nur die andre Seite dieser wärmern menschlichen Teilnahme. Frau Marthe Schwerdt- lein, die von ihrem Städtchen klagt: es ist ein gar zu böser Ort, Es ist als hätte niemand nichts zu treiben Und nichts zu schaffen, Als auf des Nachbarn Tritt und Schritt zu gaffen, Und man kommt ins Gered', ivie man sich immer stellt — ist Gretchens Nachbarin, zu ihr springt Gretchen hinüber, vertraut ihr, was sie der Mutter nicht zu gestehen wagt, und in ihrem Garten geschehen die Zu¬ sammenkünfte mit Faust. Der Apotheker wird mit „Nachbar" angeredet und hat als solcher ein Recht, Hermann bei der Brautwerbung zu helfen und in einer so wichtigen Angelegenheit seine Stimme abzugeben. „Frisch, Herr Nachbar, getrunken!" ruft ihm der Vater zu, und ein andermal: „Gern geb' ich es zu, Herr Nachbar." Auch Hermann redet ihn so an: „Nachbar, keineswegs denk' ich wie Ihr." Ein andres Beispiel bietet das Fastnachtsspiel vom Pater Brey. Da ist der Würzkrämer als Nachbar befugt, der Frau Sibylle den Wahn zu benehmen und den Herrn Pater zu entlarven. „Frau Nachbarin, sagt er, was ist Ihr Begehr?" und sie spricht: „El, der Herr Nachbar braucht Einen nicht !ehr," worauf er erwiedert: Red sie das nicht. Es war eine Zeit, Da waren wir gute Nachbarleut Und borgten einander Schüsseln und Besen. Und anch der Bürger, der am Ostcrnachmittage vor dem Thor spaziert, spricht Ma andern: Herr Nachbar, ja, so laß ichs auch geschehn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/261>, abgerufen am 28.07.2024.