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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

die Menschen, wie sie sind, zu schildern -- daß unter diesen nicht gerade das
Böse, wohl aber die List und der Verstand stets die Oberhand behalten --, so
ist es besonders reich an sprichwörtlichen Wendungen echt deutscher Art, und
wer sie sammeln wollte, könnte wohl mehr als einen Bogen damit füllen.
Drum hier nur ein paar Beispiele. Im ersten Gesang:


Alt und wahr beweist sich das Sprichwort:
Feindes Mund frommt selten.

Im zweiten:


Aber vergebens, wie Thoren sich oft mit Hoffnung betrügen.

Ebenda:


Maß ist überall gut, bei allen Dingen.

Sechster Gesang:


Besser geschworen als verloren.

Achter Gesang:


Durch die Welt sich zu helfen, ist ganz was eignes; man kann sich
Nicht so heilig bewahren, als wie im Kloster, das wißt ihr;
Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger.

Ebenda:


Kleine Diebe hängt man so weg, es haben die großen
Starken Vorsprung, mögen das Land und die Schlösser verwalten.

Neben solchen Erfahruugssützen findet auch die positive Religion in dieser Bürger¬
welt die gebührende Achtung und Ehrfurcht, doch nur insofern sie den natür¬
lichen Verlauf des Lebens begleitet und die bestehenden sittlichen Anstalten heiligt
und regelt, Geburt und Tod, Verlobung und Trauung, silberne Hochzeit, Frie¬
densschluß, Fest des Landesherrn, Weihe des Hauses u. s. f.; sie ist umso will¬
kommener, je mehr sie mit mäßigem Anspruch im Geleise des Hergebrachten ver¬
bleibt und mit ihren Satzungen sich nicht aufdrängt. So ist auch der Pfarrer
in "Hermann und Dorothea" ein milder, aufgeklärter Mann, der nicht bloß die
heiligen, sondern auch die besten weltlichen Schriften kennt und schätzt und mit
seinen Tröstungen und Ermahnungen nur die allgemeine Gesinnung bestätigt
und durch höhere Bildung läutert und adelt.

Daß die Gewohnheit dem Bürgersmann heilig ist, erhellt aus allem obigen.
Durch neues wird das Behagen gestört; ein lange getragenes Kleid ist bequem,
und man legt es nicht gern ab; ein neuer Schuh drückt immer, auch wenn ihn
der Meister Knieriem von drüben mit bekannter Geschicklichkeit dem Fuße an¬
gepaßt hat. Wir wollen nur an eine Redensart erinnern, durch welche die
Sprache selbst diesen Umstand zu bekräftigen scheint: die löbliche Gewohnheit,
das löbliche Herkommen, die löbliche Ordnung und Sitte. Bei Goethe kehrt
diese Formel häufig wieder: "Im Innern ist ein Universum auch, daher der


Gedanken über Goethe.

die Menschen, wie sie sind, zu schildern — daß unter diesen nicht gerade das
Böse, wohl aber die List und der Verstand stets die Oberhand behalten —, so
ist es besonders reich an sprichwörtlichen Wendungen echt deutscher Art, und
wer sie sammeln wollte, könnte wohl mehr als einen Bogen damit füllen.
Drum hier nur ein paar Beispiele. Im ersten Gesang:


Alt und wahr beweist sich das Sprichwort:
Feindes Mund frommt selten.

Im zweiten:


Aber vergebens, wie Thoren sich oft mit Hoffnung betrügen.

Ebenda:


Maß ist überall gut, bei allen Dingen.

Sechster Gesang:


Besser geschworen als verloren.

Achter Gesang:


Durch die Welt sich zu helfen, ist ganz was eignes; man kann sich
Nicht so heilig bewahren, als wie im Kloster, das wißt ihr;
Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger.

Ebenda:


Kleine Diebe hängt man so weg, es haben die großen
Starken Vorsprung, mögen das Land und die Schlösser verwalten.

Neben solchen Erfahruugssützen findet auch die positive Religion in dieser Bürger¬
welt die gebührende Achtung und Ehrfurcht, doch nur insofern sie den natür¬
lichen Verlauf des Lebens begleitet und die bestehenden sittlichen Anstalten heiligt
und regelt, Geburt und Tod, Verlobung und Trauung, silberne Hochzeit, Frie¬
densschluß, Fest des Landesherrn, Weihe des Hauses u. s. f.; sie ist umso will¬
kommener, je mehr sie mit mäßigem Anspruch im Geleise des Hergebrachten ver¬
bleibt und mit ihren Satzungen sich nicht aufdrängt. So ist auch der Pfarrer
in „Hermann und Dorothea" ein milder, aufgeklärter Mann, der nicht bloß die
heiligen, sondern auch die besten weltlichen Schriften kennt und schätzt und mit
seinen Tröstungen und Ermahnungen nur die allgemeine Gesinnung bestätigt
und durch höhere Bildung läutert und adelt.

Daß die Gewohnheit dem Bürgersmann heilig ist, erhellt aus allem obigen.
Durch neues wird das Behagen gestört; ein lange getragenes Kleid ist bequem,
und man legt es nicht gern ab; ein neuer Schuh drückt immer, auch wenn ihn
der Meister Knieriem von drüben mit bekannter Geschicklichkeit dem Fuße an¬
gepaßt hat. Wir wollen nur an eine Redensart erinnern, durch welche die
Sprache selbst diesen Umstand zu bekräftigen scheint: die löbliche Gewohnheit,
das löbliche Herkommen, die löbliche Ordnung und Sitte. Bei Goethe kehrt
diese Formel häufig wieder: „Im Innern ist ein Universum auch, daher der


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[0260] Gedanken über Goethe. die Menschen, wie sie sind, zu schildern — daß unter diesen nicht gerade das Böse, wohl aber die List und der Verstand stets die Oberhand behalten —, so ist es besonders reich an sprichwörtlichen Wendungen echt deutscher Art, und wer sie sammeln wollte, könnte wohl mehr als einen Bogen damit füllen. Drum hier nur ein paar Beispiele. Im ersten Gesang: Alt und wahr beweist sich das Sprichwort: Feindes Mund frommt selten. Im zweiten: Aber vergebens, wie Thoren sich oft mit Hoffnung betrügen. Ebenda: Maß ist überall gut, bei allen Dingen. Sechster Gesang: Besser geschworen als verloren. Achter Gesang: Durch die Welt sich zu helfen, ist ganz was eignes; man kann sich Nicht so heilig bewahren, als wie im Kloster, das wißt ihr; Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger. Ebenda: Kleine Diebe hängt man so weg, es haben die großen Starken Vorsprung, mögen das Land und die Schlösser verwalten. Neben solchen Erfahruugssützen findet auch die positive Religion in dieser Bürger¬ welt die gebührende Achtung und Ehrfurcht, doch nur insofern sie den natür¬ lichen Verlauf des Lebens begleitet und die bestehenden sittlichen Anstalten heiligt und regelt, Geburt und Tod, Verlobung und Trauung, silberne Hochzeit, Frie¬ densschluß, Fest des Landesherrn, Weihe des Hauses u. s. f.; sie ist umso will¬ kommener, je mehr sie mit mäßigem Anspruch im Geleise des Hergebrachten ver¬ bleibt und mit ihren Satzungen sich nicht aufdrängt. So ist auch der Pfarrer in „Hermann und Dorothea" ein milder, aufgeklärter Mann, der nicht bloß die heiligen, sondern auch die besten weltlichen Schriften kennt und schätzt und mit seinen Tröstungen und Ermahnungen nur die allgemeine Gesinnung bestätigt und durch höhere Bildung läutert und adelt. Daß die Gewohnheit dem Bürgersmann heilig ist, erhellt aus allem obigen. Durch neues wird das Behagen gestört; ein lange getragenes Kleid ist bequem, und man legt es nicht gern ab; ein neuer Schuh drückt immer, auch wenn ihn der Meister Knieriem von drüben mit bekannter Geschicklichkeit dem Fuße an¬ gepaßt hat. Wir wollen nur an eine Redensart erinnern, durch welche die Sprache selbst diesen Umstand zu bekräftigen scheint: die löbliche Gewohnheit, das löbliche Herkommen, die löbliche Ordnung und Sitte. Bei Goethe kehrt diese Formel häufig wieder: „Im Innern ist ein Universum auch, daher der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/260>, abgerufen am 28.07.2024.