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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Tod gebracht haben. Denselben Fehltritt wie Gretchen hatte Melinas nach¬
malige Gattin begangen, und sie bekannte dies frei; dies schadete ihr in Wilhelms
Augen nichts, anders aber dachten die Gerichtspersonen und die gegenwärtigen
Bürger: die einen erkannten sie für eine "freche Dirne," die andern dankten
Gott, "daß dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen
oder nicht bekannt geworden waren" (Wilhelm Meister 1, 13). Auch nahm es
mit Frau Melina ein fast ebenso böses Ende wie mit Gretchen und Klarchen:
sie wurde Schauspielerin, und was konnte es Verächtlicheres geben, als dies
landstreicherische, zuchtlose Gewerbe? Ein bedeutungsvoller Kontrast ist es, daß
Wilhelm, der angehende Bretterheld, der mit einer desgleichen Heldin durch¬
gehen wollte, der Sohn eines stattlichen und richtigen Kaufherrn sein mußte;
daß er, der in Marianens Kammer alles durcheinander liegen sah, in einem
feinen Bürgerhause, wo Ordnung und Reinlichkeit aufs höchste galten, erzogen
war (1, 15; "fein" ist hier der technische Ausdruck; auch Goethes Vaterhaus
war ein feines, Hermanns Vater ein feiner Bürger). Aber eben die "ver¬
worrene Wirtschaft" ist es, die zur Entdeckung von Marianens Untreue führt;
der Nebenbuhler war ein junger Kaufmann, und in den wenigen Zeilen seines
Briefchens (am Ende des ersten Buches) malt sich meisterhaft, in jeder Wendung
und bis ins kleinste Wort, die eigentümliche Rohheit der Jünglinge dieses Standes.
Der Kaufmann gehört zwar auch zum Bürgertum, aber in gewissem Sinne ist
er darüber hinaus; er spekulirt und reflektive, und so trägt ihn der Grund
naiver Sitte nicht mehr; er muß die Menschen beobachten, die Zeiten bedenken,
damit er aus beiden seinen Vorteil ziehe; ideale Motive liegen ihm fern, und er
verfällt leicht in grobe Sinnlichkeit; er gehört zu den besten Kunden des Austern¬
kellers und der Kupplerin; da er das Geld nicht zu sparen braucht, so gelingt
ihm die Verführung bald, und nicht bloß die Tänzerin, auch die Tochter armer
Eltern nimmt seine Geschenke an und leiht ihm Gehör.^ So war Norberg, der
das erwähnte Zettelchen schrieb, so auch von andrer Seite Werner. Goethe,
als geborner Frankfurter, wußte in der Kaufmannswelt Bescheid, und wenn er
sie meist in ungünstiger Beleuchtung schildert, so geschieht es, weil sie ihm als
Gegensatz zu der Wärme des Gemütes und dem Adel der Erscheinung dienen
muß. Aus Frankfurt schreibt er an Schiller (9. August 1797): "Menschen,
die aus dem Kaufmannsstamm zur Literatur und besonders zur Poesie über¬
gehen, scheinen mir keiner Erhebung fähig, so wenig als des Begriffs, worauf
es eigentlich ankommt; vielleicht thue ich dieser Kaste unrecht. In "Hermann und
Dorothea" ist das Haus des Kaufmanns, das dem goldnen Löwen gegenüber
liegt, neu und schön, mit weißen Schnörkeln in grünen Feldern und großen
glänzenden Spiegelscheiben -- "denn wo gewinnt nicht der Kaufmann," der bei
seinem Vermögen


auch die Wege noch kennt, aus welchen das Beste zu haben?

Er fährt im offenen Landauer Wagen mit seinen drei Töchtern; Sonntags


Gedanken über Goethe.

Tod gebracht haben. Denselben Fehltritt wie Gretchen hatte Melinas nach¬
malige Gattin begangen, und sie bekannte dies frei; dies schadete ihr in Wilhelms
Augen nichts, anders aber dachten die Gerichtspersonen und die gegenwärtigen
Bürger: die einen erkannten sie für eine „freche Dirne," die andern dankten
Gott, „daß dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen
oder nicht bekannt geworden waren" (Wilhelm Meister 1, 13). Auch nahm es
mit Frau Melina ein fast ebenso böses Ende wie mit Gretchen und Klarchen:
sie wurde Schauspielerin, und was konnte es Verächtlicheres geben, als dies
landstreicherische, zuchtlose Gewerbe? Ein bedeutungsvoller Kontrast ist es, daß
Wilhelm, der angehende Bretterheld, der mit einer desgleichen Heldin durch¬
gehen wollte, der Sohn eines stattlichen und richtigen Kaufherrn sein mußte;
daß er, der in Marianens Kammer alles durcheinander liegen sah, in einem
feinen Bürgerhause, wo Ordnung und Reinlichkeit aufs höchste galten, erzogen
war (1, 15; „fein" ist hier der technische Ausdruck; auch Goethes Vaterhaus
war ein feines, Hermanns Vater ein feiner Bürger). Aber eben die „ver¬
worrene Wirtschaft" ist es, die zur Entdeckung von Marianens Untreue führt;
der Nebenbuhler war ein junger Kaufmann, und in den wenigen Zeilen seines
Briefchens (am Ende des ersten Buches) malt sich meisterhaft, in jeder Wendung
und bis ins kleinste Wort, die eigentümliche Rohheit der Jünglinge dieses Standes.
Der Kaufmann gehört zwar auch zum Bürgertum, aber in gewissem Sinne ist
er darüber hinaus; er spekulirt und reflektive, und so trägt ihn der Grund
naiver Sitte nicht mehr; er muß die Menschen beobachten, die Zeiten bedenken,
damit er aus beiden seinen Vorteil ziehe; ideale Motive liegen ihm fern, und er
verfällt leicht in grobe Sinnlichkeit; er gehört zu den besten Kunden des Austern¬
kellers und der Kupplerin; da er das Geld nicht zu sparen braucht, so gelingt
ihm die Verführung bald, und nicht bloß die Tänzerin, auch die Tochter armer
Eltern nimmt seine Geschenke an und leiht ihm Gehör.^ So war Norberg, der
das erwähnte Zettelchen schrieb, so auch von andrer Seite Werner. Goethe,
als geborner Frankfurter, wußte in der Kaufmannswelt Bescheid, und wenn er
sie meist in ungünstiger Beleuchtung schildert, so geschieht es, weil sie ihm als
Gegensatz zu der Wärme des Gemütes und dem Adel der Erscheinung dienen
muß. Aus Frankfurt schreibt er an Schiller (9. August 1797): „Menschen,
die aus dem Kaufmannsstamm zur Literatur und besonders zur Poesie über¬
gehen, scheinen mir keiner Erhebung fähig, so wenig als des Begriffs, worauf
es eigentlich ankommt; vielleicht thue ich dieser Kaste unrecht. In „Hermann und
Dorothea" ist das Haus des Kaufmanns, das dem goldnen Löwen gegenüber
liegt, neu und schön, mit weißen Schnörkeln in grünen Feldern und großen
glänzenden Spiegelscheiben — „denn wo gewinnt nicht der Kaufmann," der bei
seinem Vermögen


auch die Wege noch kennt, aus welchen das Beste zu haben?

Er fährt im offenen Landauer Wagen mit seinen drei Töchtern; Sonntags


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[0256] Gedanken über Goethe. Tod gebracht haben. Denselben Fehltritt wie Gretchen hatte Melinas nach¬ malige Gattin begangen, und sie bekannte dies frei; dies schadete ihr in Wilhelms Augen nichts, anders aber dachten die Gerichtspersonen und die gegenwärtigen Bürger: die einen erkannten sie für eine „freche Dirne," die andern dankten Gott, „daß dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen oder nicht bekannt geworden waren" (Wilhelm Meister 1, 13). Auch nahm es mit Frau Melina ein fast ebenso böses Ende wie mit Gretchen und Klarchen: sie wurde Schauspielerin, und was konnte es Verächtlicheres geben, als dies landstreicherische, zuchtlose Gewerbe? Ein bedeutungsvoller Kontrast ist es, daß Wilhelm, der angehende Bretterheld, der mit einer desgleichen Heldin durch¬ gehen wollte, der Sohn eines stattlichen und richtigen Kaufherrn sein mußte; daß er, der in Marianens Kammer alles durcheinander liegen sah, in einem feinen Bürgerhause, wo Ordnung und Reinlichkeit aufs höchste galten, erzogen war (1, 15; „fein" ist hier der technische Ausdruck; auch Goethes Vaterhaus war ein feines, Hermanns Vater ein feiner Bürger). Aber eben die „ver¬ worrene Wirtschaft" ist es, die zur Entdeckung von Marianens Untreue führt; der Nebenbuhler war ein junger Kaufmann, und in den wenigen Zeilen seines Briefchens (am Ende des ersten Buches) malt sich meisterhaft, in jeder Wendung und bis ins kleinste Wort, die eigentümliche Rohheit der Jünglinge dieses Standes. Der Kaufmann gehört zwar auch zum Bürgertum, aber in gewissem Sinne ist er darüber hinaus; er spekulirt und reflektive, und so trägt ihn der Grund naiver Sitte nicht mehr; er muß die Menschen beobachten, die Zeiten bedenken, damit er aus beiden seinen Vorteil ziehe; ideale Motive liegen ihm fern, und er verfällt leicht in grobe Sinnlichkeit; er gehört zu den besten Kunden des Austern¬ kellers und der Kupplerin; da er das Geld nicht zu sparen braucht, so gelingt ihm die Verführung bald, und nicht bloß die Tänzerin, auch die Tochter armer Eltern nimmt seine Geschenke an und leiht ihm Gehör.^ So war Norberg, der das erwähnte Zettelchen schrieb, so auch von andrer Seite Werner. Goethe, als geborner Frankfurter, wußte in der Kaufmannswelt Bescheid, und wenn er sie meist in ungünstiger Beleuchtung schildert, so geschieht es, weil sie ihm als Gegensatz zu der Wärme des Gemütes und dem Adel der Erscheinung dienen muß. Aus Frankfurt schreibt er an Schiller (9. August 1797): „Menschen, die aus dem Kaufmannsstamm zur Literatur und besonders zur Poesie über¬ gehen, scheinen mir keiner Erhebung fähig, so wenig als des Begriffs, worauf es eigentlich ankommt; vielleicht thue ich dieser Kaste unrecht. In „Hermann und Dorothea" ist das Haus des Kaufmanns, das dem goldnen Löwen gegenüber liegt, neu und schön, mit weißen Schnörkeln in grünen Feldern und großen glänzenden Spiegelscheiben — „denn wo gewinnt nicht der Kaufmann," der bei seinem Vermögen auch die Wege noch kennt, aus welchen das Beste zu haben? Er fährt im offenen Landauer Wagen mit seinen drei Töchtern; Sonntags

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/256>, abgerufen am 28.07.2024.