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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken in>e>' Goethe.

letzt wird alles im Wilhelm gefaßt und beschlossen" -- und in der Morphologie,
Schicksal der Handschrist: "Das dritte, was mich beschäftigte" (nach der Rück¬
kehr aus Italien), "waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie
aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und
Wollen, von Bewegung und Widerstand ein drittes hervorgeht, was weder
Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, ab¬
sichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft."

Goethe selbst war bürgerlich geboren, und so zeigen uns seine Schriften
zunächst Abbilder gerade dieses Standes und der in demselben herrschenden Ge¬
sinnungen und Sitten. Dies gilt besonders von den Dichtungen vor Weimar,
dann von denen nach Italien. Über ihnen allen liegt ein eigentümlich bürger¬
licher Himmel, und von diesem weht uns der Atem freundlicher Wärme, ge¬
sunden Verstandes, sittlicher Begrenzung, aber auch herber Strenge entgegen.
Die letztere führt dann, da sie das Urrecht des Gemütes nicht anerkennen kann,
zu Elend und Verderben; aber indem ihr dies Opfer dargebracht wird, löst sie
sich in ihrem harten Eigensinn auf, und es ergiebt sich ein milderes Urteil
über den Selbstmörder, wie Werther war, oder über den Fall eines armen
Mädchens, wie Gretchen, die in Scham und Angst vergehend zur Kindesmördcrin
wird. Die Wahrheit dieser Schilderungen ist so groß, daß sie von selbst zur
Schalkheit wird -- die im nächsten Augenblick wieder in Ernst übergeht, der
aber vielleicht selbst nur verstellt und dadurch umso liebenswürdiger ist. Dies
alles kann mehr empfunden, als in Worte gefaßt und dargethan werden, und
wir begnügen uns daher, einige Züge aus dem Leben goethischer Bürgersleute
zu sammeln und die Sicherheit der Auffassung und Treue der Wiedergabe an
Beispielen ins Licht zu stellen.

Echt bürgerlich ist die Abneigung gegen Mystik und Vision, gegen Irr¬
wege der Phantasie und Verrückung der Grundlagen des Lebens. Für tiefere
Seetenleide" hat das Bürgertum weder Begriff noch Mitgefühl, es mag auch
in Kirche, Staat und Dichtung das Exzentrische nicht. Wie nnr aus diese"
Kreisen eine so reine Mädchennatur, wie Gretchen sie uns zeigt, hervorgehen
konnte -- aus dem Adel nicht, da wäre sie früh verbildet worden, aus dem
Bauerstande nicht, da wäre sie in grober Arbeit derb und ohne Seele ver¬
blieben --, so war auch nur dort ihr Schicksal so rettungslos; unerbittlich ist
Valentin in seinen letzten Worten, die Mädchen am Brunnen kennen kein Er¬
barmen, und der böse Geist im Dome flüstert der schuldbewußten schreckliche
Gedanken zu. Klärchens Mutter war schwach genug gewesen, die Liebe ihrer
Tochter zu dem vornehmen Ritter zuzulassen, doch macht sie sich Vorwürfe
und gedenkt mahnend der Zukunft; Gretchens Mutter muß aber eine strenge
Frau gewesen sein: "würden wir von ihr betroffen," sagt Gretchen, "ich wär
gleich auf der Stelle tot," und der Tochter Schande, sowie daß ihr Sohn ans
der Straße erstochen worden (beides hing ja genau zusammen), wird ihr den


Gedanken in>e>' Goethe.

letzt wird alles im Wilhelm gefaßt und beschlossen" — und in der Morphologie,
Schicksal der Handschrist: „Das dritte, was mich beschäftigte" (nach der Rück¬
kehr aus Italien), „waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie
aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und
Wollen, von Bewegung und Widerstand ein drittes hervorgeht, was weder
Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, ab¬
sichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft."

Goethe selbst war bürgerlich geboren, und so zeigen uns seine Schriften
zunächst Abbilder gerade dieses Standes und der in demselben herrschenden Ge¬
sinnungen und Sitten. Dies gilt besonders von den Dichtungen vor Weimar,
dann von denen nach Italien. Über ihnen allen liegt ein eigentümlich bürger¬
licher Himmel, und von diesem weht uns der Atem freundlicher Wärme, ge¬
sunden Verstandes, sittlicher Begrenzung, aber auch herber Strenge entgegen.
Die letztere führt dann, da sie das Urrecht des Gemütes nicht anerkennen kann,
zu Elend und Verderben; aber indem ihr dies Opfer dargebracht wird, löst sie
sich in ihrem harten Eigensinn auf, und es ergiebt sich ein milderes Urteil
über den Selbstmörder, wie Werther war, oder über den Fall eines armen
Mädchens, wie Gretchen, die in Scham und Angst vergehend zur Kindesmördcrin
wird. Die Wahrheit dieser Schilderungen ist so groß, daß sie von selbst zur
Schalkheit wird — die im nächsten Augenblick wieder in Ernst übergeht, der
aber vielleicht selbst nur verstellt und dadurch umso liebenswürdiger ist. Dies
alles kann mehr empfunden, als in Worte gefaßt und dargethan werden, und
wir begnügen uns daher, einige Züge aus dem Leben goethischer Bürgersleute
zu sammeln und die Sicherheit der Auffassung und Treue der Wiedergabe an
Beispielen ins Licht zu stellen.

Echt bürgerlich ist die Abneigung gegen Mystik und Vision, gegen Irr¬
wege der Phantasie und Verrückung der Grundlagen des Lebens. Für tiefere
Seetenleide» hat das Bürgertum weder Begriff noch Mitgefühl, es mag auch
in Kirche, Staat und Dichtung das Exzentrische nicht. Wie nnr aus diese»
Kreisen eine so reine Mädchennatur, wie Gretchen sie uns zeigt, hervorgehen
konnte — aus dem Adel nicht, da wäre sie früh verbildet worden, aus dem
Bauerstande nicht, da wäre sie in grober Arbeit derb und ohne Seele ver¬
blieben —, so war auch nur dort ihr Schicksal so rettungslos; unerbittlich ist
Valentin in seinen letzten Worten, die Mädchen am Brunnen kennen kein Er¬
barmen, und der böse Geist im Dome flüstert der schuldbewußten schreckliche
Gedanken zu. Klärchens Mutter war schwach genug gewesen, die Liebe ihrer
Tochter zu dem vornehmen Ritter zuzulassen, doch macht sie sich Vorwürfe
und gedenkt mahnend der Zukunft; Gretchens Mutter muß aber eine strenge
Frau gewesen sein: „würden wir von ihr betroffen," sagt Gretchen, „ich wär
gleich auf der Stelle tot," und der Tochter Schande, sowie daß ihr Sohn ans
der Straße erstochen worden (beides hing ja genau zusammen), wird ihr den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/255>, abgerufen am 01.09.2024.