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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Auch "Alexis und Dora," in der Reihe der kleineren Goethischen Dichtungen
eine der köstlichsten, die man nicht müde wird, sich immer wieder herzusagen,
entstand nicht lange vor "Hermann und Dorothea," aber ätherischer, gleichsam
verklärter als dies bürgerliche Epos, bringt uns jenes Gedicht Urgestalt menschlichen
Lebens in lauterer Einfalt zur Anschauung. Das Haus und der unendliche
Schatz von Gefühl und Sitte, den es birgt, der von den Eltern scheidende Sohn:


da drückte der wackere Vater,
Würdig, die segnende Hand mir auf das lockige Haupt;
Sorglich reichte die Mutter ein nachbereitetes Bündel!
Glücklich kehre zurück, riefen sie, glücklich und reich --,

die Mutter und ihr zur Seite die erblühte Tochter, der Knabe, der trotzig des
Mädchens nicht achtet und sie ansieht,


Wie man die Sterne sieht, wie man den Mond sich beschaut,
Sich um ihnen erfreut und innen im ruhigen Busen
Nicht der entfernteste Wunsch, sie zu besitze", sich regt --,

bis plötzlich der Strahl der Liebe in sein Herz fällt und ihn allgewaltig ver¬
wandelt, der Bräutigam und die Braut, die Nachbarn nebeneinander, der Brunnen
und die wasserschöpfenden Mädchen, auf dem Markt die Körbe gefüllt mit
Früchten, der Garten und sein Pförtchen. der Kaufmann mit seinem Handel
und Wandel, das Meer und der Bootsmann und das Segel, die Furche, die
das Schiff zieht, überhaupt das uralte, poetische Gewerbe des Schiffers, das
so heilig ist wie das des Hirten oder Ackermannes oder Fischers -- dies alles
zieht in der Erinnerung eines bewegten Herzens an uns vorüber, unruhig wie
vom Spiegel eines Wellcnflusses aufgefangen, bald andeutend, bald verweilend,
von so tiefer Rührung durchdrungen, daß der Dichter selbst es aufgiebt, ihren
Grund zu erschöpfen, und innehaltend mit dem Anruf an die Göttinnen des
Gesanges schließt:


Nun, ihr Musen, genug -- vergebens strebt ihr zu schildern,
Wie sich Jammer und Glück wechseln in liebender Brust --

ganz wie Lothario seine Erzählung abbricht: "und ich überlasse euch zu denken,
mit welchem Herzen ich blieb und mit welchem ich mich entfernte." Der Schau¬
platz, auf dem wir uns in "Alexis und Dora" befinden, ist ein ideal un¬
bestimmter. Es ist ein südliches Land, ein Hafenstädtchen, von dem niemand
sagen kann, wo es liegt. Die Orange wächst dort, die "schwer ruht als ein
goldener Ball," auch die "weichliche Feige, die jeder Druck schon entstellet," und
blühende Myrten biegen sich um und bilden ein Laube im Garten. Delphine
umschwärmen das Schiff, wie im tyrrhenischen oder ionischen oder ägäischen
Meer, und blaue Uferberge folgen noch lange dem Blick des Schiffenden. Wie
der Raum, schwebt auch die Zeit, in die der Dichter uns versetzt, in unbestimmter
Allgemeinheit; es könnte wohl das Altertum sein, wohl auch ein neueres Jahr-


Gedanken über Goethe.

Auch „Alexis und Dora," in der Reihe der kleineren Goethischen Dichtungen
eine der köstlichsten, die man nicht müde wird, sich immer wieder herzusagen,
entstand nicht lange vor „Hermann und Dorothea," aber ätherischer, gleichsam
verklärter als dies bürgerliche Epos, bringt uns jenes Gedicht Urgestalt menschlichen
Lebens in lauterer Einfalt zur Anschauung. Das Haus und der unendliche
Schatz von Gefühl und Sitte, den es birgt, der von den Eltern scheidende Sohn:


da drückte der wackere Vater,
Würdig, die segnende Hand mir auf das lockige Haupt;
Sorglich reichte die Mutter ein nachbereitetes Bündel!
Glücklich kehre zurück, riefen sie, glücklich und reich —,

die Mutter und ihr zur Seite die erblühte Tochter, der Knabe, der trotzig des
Mädchens nicht achtet und sie ansieht,


Wie man die Sterne sieht, wie man den Mond sich beschaut,
Sich um ihnen erfreut und innen im ruhigen Busen
Nicht der entfernteste Wunsch, sie zu besitze», sich regt —,

bis plötzlich der Strahl der Liebe in sein Herz fällt und ihn allgewaltig ver¬
wandelt, der Bräutigam und die Braut, die Nachbarn nebeneinander, der Brunnen
und die wasserschöpfenden Mädchen, auf dem Markt die Körbe gefüllt mit
Früchten, der Garten und sein Pförtchen. der Kaufmann mit seinem Handel
und Wandel, das Meer und der Bootsmann und das Segel, die Furche, die
das Schiff zieht, überhaupt das uralte, poetische Gewerbe des Schiffers, das
so heilig ist wie das des Hirten oder Ackermannes oder Fischers — dies alles
zieht in der Erinnerung eines bewegten Herzens an uns vorüber, unruhig wie
vom Spiegel eines Wellcnflusses aufgefangen, bald andeutend, bald verweilend,
von so tiefer Rührung durchdrungen, daß der Dichter selbst es aufgiebt, ihren
Grund zu erschöpfen, und innehaltend mit dem Anruf an die Göttinnen des
Gesanges schließt:


Nun, ihr Musen, genug — vergebens strebt ihr zu schildern,
Wie sich Jammer und Glück wechseln in liebender Brust —

ganz wie Lothario seine Erzählung abbricht: „und ich überlasse euch zu denken,
mit welchem Herzen ich blieb und mit welchem ich mich entfernte." Der Schau¬
platz, auf dem wir uns in „Alexis und Dora" befinden, ist ein ideal un¬
bestimmter. Es ist ein südliches Land, ein Hafenstädtchen, von dem niemand
sagen kann, wo es liegt. Die Orange wächst dort, die „schwer ruht als ein
goldener Ball," auch die „weichliche Feige, die jeder Druck schon entstellet," und
blühende Myrten biegen sich um und bilden ein Laube im Garten. Delphine
umschwärmen das Schiff, wie im tyrrhenischen oder ionischen oder ägäischen
Meer, und blaue Uferberge folgen noch lange dem Blick des Schiffenden. Wie
der Raum, schwebt auch die Zeit, in die der Dichter uns versetzt, in unbestimmter
Allgemeinheit; es könnte wohl das Altertum sein, wohl auch ein neueres Jahr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/21>, abgerufen am 27.07.2024.