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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Levin Schücking.

geistigen Ausruhens eintraten, die er doch nicht nach seiner eignen Theorie zu
Ruhepunkten der Seele benutzen wollte oder -- konnte. Erst am Ausgange der
sechziger und Eingange der siebziger Jahre beginnen einige seiner Produktionen
wieder aus der großen Anzahl derer hcranszuragen, in denen sich Schücking
trotz all seiner Feinsinnigkeit und Bildung, trotz aller Klarheit seines Stils und
einem gewissen Fonds von Lcbensbeobachtung und Lebenserfahrung, den er
auch auf die leichtesten Arbeiten verwendete, der Leihbibliothekenliteratur bedenk¬
lich näherte. Eine bezeichnende Probe für die Art, in welcher der Schriftsteller
dem Unterhaltungsbedürfnis auf seine Weise genügt, haben wir in dem Roman
"Verschlungene Wege" (1867) vor uns. Hier ist es wieder einmal die Schil¬
derung heimatlicher Besonderheiten, jener äußersten westdeutschen Landschaften,
die von zehntausend anderwärts gebornen Deutschen immer nur einige erblicken, der
Emslande und der westfälischen Ebene, der eigentümlichen Menschencharaktere
und Sitten, welche sich in ihnen erhalten haben, was einer abenteuerlichen und
keineswegs durch besondern geistigen oder leidenschaftlichen Gehalt ausgezeich¬
neten Familiengeschichte nicht sowohl eine höhere Bedeutung als einen gewissen
Reiz verleiht. Es ist interessant, an dieser wie an andern Schückingschen
Erzählungen zu beobachten, daß die Mitwirkung der angedeuteten Schilderungs¬
elemente an der Originalität eines Romans immerhin nicht gering ist. Unsers
Wissens hat noch niemand versucht, die neuere deutsche Romanliteratur auf ihre
ethnographischen Teile hin zu betrachten und den Einfluß von "Land und
Leuten," um mit Riehl zu reden, auf die Phantasie der Dichter und Erzähler
genauer zu untersuchen. Bei einer Charakterisirung der landschaftlichen Bestand¬
teile, umfassender Lebcnsdarstellungen würden Schückings Romane Westfalen und
das gesamte Land am Niederrhein in hervorragender Weise vertreten. Aber frei¬
lich wäre es bedenklich, darauf allzu großes Gewicht zu legen, die Empfindung
für das, was von der einzelnen Kunstgattung zu erwarten und zu fordern sei,
ist ohnehin schon unklar genug -- sehe jeder zu, daß er nicht, statt zu besserer
Erkenntnis der schaffenden Naturen, zu noch sinnloseren gestempelten Kunstphrasen
Anlaß giebt, als ohnehin im Schwange gehen.

Eine wesentliche tiefere Idee und eine künstlerisch weit bedeutendere Aus¬
führung muß dem historischen Roman "Luther in Rom" (1870) zugesprochen
werden. Bekanntlich hat der deutsche Reformator in Geschäften seines Ordens
Rom besucht und wenige Jahre vor dem Beginn des folgenschweren Abla߬
streites mit Tetzel die päpstliche Stadt im höchsten Glänze ihrer Herrlichkeit,
als Mittelpunkt der gewaltigen literarischen und künstlerischen Kultur der Hoch¬
renaissance, des Luxus und des schwelgerischen Genusses gesehen, welche jenen
Jahrzehnten eigen waren. Mit sicherm Instinkt hat Levin Schücking heraus¬
gefühlt, daß in dieser Anwesenheit des einsamen deutschen Mönches, des asketischen
Augustiners, in der Prachtstadt Julius' II. und Leos X. einer der größten welt¬
geschichtlichen Gegensätze Fleisch und Blut gewonnen hat und ein poetisch dar-


Levin Schücking.

geistigen Ausruhens eintraten, die er doch nicht nach seiner eignen Theorie zu
Ruhepunkten der Seele benutzen wollte oder — konnte. Erst am Ausgange der
sechziger und Eingange der siebziger Jahre beginnen einige seiner Produktionen
wieder aus der großen Anzahl derer hcranszuragen, in denen sich Schücking
trotz all seiner Feinsinnigkeit und Bildung, trotz aller Klarheit seines Stils und
einem gewissen Fonds von Lcbensbeobachtung und Lebenserfahrung, den er
auch auf die leichtesten Arbeiten verwendete, der Leihbibliothekenliteratur bedenk¬
lich näherte. Eine bezeichnende Probe für die Art, in welcher der Schriftsteller
dem Unterhaltungsbedürfnis auf seine Weise genügt, haben wir in dem Roman
„Verschlungene Wege" (1867) vor uns. Hier ist es wieder einmal die Schil¬
derung heimatlicher Besonderheiten, jener äußersten westdeutschen Landschaften,
die von zehntausend anderwärts gebornen Deutschen immer nur einige erblicken, der
Emslande und der westfälischen Ebene, der eigentümlichen Menschencharaktere
und Sitten, welche sich in ihnen erhalten haben, was einer abenteuerlichen und
keineswegs durch besondern geistigen oder leidenschaftlichen Gehalt ausgezeich¬
neten Familiengeschichte nicht sowohl eine höhere Bedeutung als einen gewissen
Reiz verleiht. Es ist interessant, an dieser wie an andern Schückingschen
Erzählungen zu beobachten, daß die Mitwirkung der angedeuteten Schilderungs¬
elemente an der Originalität eines Romans immerhin nicht gering ist. Unsers
Wissens hat noch niemand versucht, die neuere deutsche Romanliteratur auf ihre
ethnographischen Teile hin zu betrachten und den Einfluß von „Land und
Leuten," um mit Riehl zu reden, auf die Phantasie der Dichter und Erzähler
genauer zu untersuchen. Bei einer Charakterisirung der landschaftlichen Bestand¬
teile, umfassender Lebcnsdarstellungen würden Schückings Romane Westfalen und
das gesamte Land am Niederrhein in hervorragender Weise vertreten. Aber frei¬
lich wäre es bedenklich, darauf allzu großes Gewicht zu legen, die Empfindung
für das, was von der einzelnen Kunstgattung zu erwarten und zu fordern sei,
ist ohnehin schon unklar genug — sehe jeder zu, daß er nicht, statt zu besserer
Erkenntnis der schaffenden Naturen, zu noch sinnloseren gestempelten Kunstphrasen
Anlaß giebt, als ohnehin im Schwange gehen.

Eine wesentliche tiefere Idee und eine künstlerisch weit bedeutendere Aus¬
führung muß dem historischen Roman „Luther in Rom" (1870) zugesprochen
werden. Bekanntlich hat der deutsche Reformator in Geschäften seines Ordens
Rom besucht und wenige Jahre vor dem Beginn des folgenschweren Abla߬
streites mit Tetzel die päpstliche Stadt im höchsten Glänze ihrer Herrlichkeit,
als Mittelpunkt der gewaltigen literarischen und künstlerischen Kultur der Hoch¬
renaissance, des Luxus und des schwelgerischen Genusses gesehen, welche jenen
Jahrzehnten eigen waren. Mit sicherm Instinkt hat Levin Schücking heraus¬
gefühlt, daß in dieser Anwesenheit des einsamen deutschen Mönches, des asketischen
Augustiners, in der Prachtstadt Julius' II. und Leos X. einer der größten welt¬
geschichtlichen Gegensätze Fleisch und Blut gewonnen hat und ein poetisch dar-


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[0202] Levin Schücking. geistigen Ausruhens eintraten, die er doch nicht nach seiner eignen Theorie zu Ruhepunkten der Seele benutzen wollte oder — konnte. Erst am Ausgange der sechziger und Eingange der siebziger Jahre beginnen einige seiner Produktionen wieder aus der großen Anzahl derer hcranszuragen, in denen sich Schücking trotz all seiner Feinsinnigkeit und Bildung, trotz aller Klarheit seines Stils und einem gewissen Fonds von Lcbensbeobachtung und Lebenserfahrung, den er auch auf die leichtesten Arbeiten verwendete, der Leihbibliothekenliteratur bedenk¬ lich näherte. Eine bezeichnende Probe für die Art, in welcher der Schriftsteller dem Unterhaltungsbedürfnis auf seine Weise genügt, haben wir in dem Roman „Verschlungene Wege" (1867) vor uns. Hier ist es wieder einmal die Schil¬ derung heimatlicher Besonderheiten, jener äußersten westdeutschen Landschaften, die von zehntausend anderwärts gebornen Deutschen immer nur einige erblicken, der Emslande und der westfälischen Ebene, der eigentümlichen Menschencharaktere und Sitten, welche sich in ihnen erhalten haben, was einer abenteuerlichen und keineswegs durch besondern geistigen oder leidenschaftlichen Gehalt ausgezeich¬ neten Familiengeschichte nicht sowohl eine höhere Bedeutung als einen gewissen Reiz verleiht. Es ist interessant, an dieser wie an andern Schückingschen Erzählungen zu beobachten, daß die Mitwirkung der angedeuteten Schilderungs¬ elemente an der Originalität eines Romans immerhin nicht gering ist. Unsers Wissens hat noch niemand versucht, die neuere deutsche Romanliteratur auf ihre ethnographischen Teile hin zu betrachten und den Einfluß von „Land und Leuten," um mit Riehl zu reden, auf die Phantasie der Dichter und Erzähler genauer zu untersuchen. Bei einer Charakterisirung der landschaftlichen Bestand¬ teile, umfassender Lebcnsdarstellungen würden Schückings Romane Westfalen und das gesamte Land am Niederrhein in hervorragender Weise vertreten. Aber frei¬ lich wäre es bedenklich, darauf allzu großes Gewicht zu legen, die Empfindung für das, was von der einzelnen Kunstgattung zu erwarten und zu fordern sei, ist ohnehin schon unklar genug — sehe jeder zu, daß er nicht, statt zu besserer Erkenntnis der schaffenden Naturen, zu noch sinnloseren gestempelten Kunstphrasen Anlaß giebt, als ohnehin im Schwange gehen. Eine wesentliche tiefere Idee und eine künstlerisch weit bedeutendere Aus¬ führung muß dem historischen Roman „Luther in Rom" (1870) zugesprochen werden. Bekanntlich hat der deutsche Reformator in Geschäften seines Ordens Rom besucht und wenige Jahre vor dem Beginn des folgenschweren Abla߬ streites mit Tetzel die päpstliche Stadt im höchsten Glänze ihrer Herrlichkeit, als Mittelpunkt der gewaltigen literarischen und künstlerischen Kultur der Hoch¬ renaissance, des Luxus und des schwelgerischen Genusses gesehen, welche jenen Jahrzehnten eigen waren. Mit sicherm Instinkt hat Levin Schücking heraus¬ gefühlt, daß in dieser Anwesenheit des einsamen deutschen Mönches, des asketischen Augustiners, in der Prachtstadt Julius' II. und Leos X. einer der größten welt¬ geschichtlichen Gegensätze Fleisch und Blut gewonnen hat und ein poetisch dar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/202>, abgerufen am 01.09.2024.