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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Levin Schücking.

eine große und mannichfaltige Intrigue, welche in den unhistorischen Kreisen des
Lebens spielt, doch überall auf die historischen hinausweist. Schücking ging
zufolge seiner Auffassung des Romans derartigen Stoffen nicht aus dem Wege,
Das Abenteuerliche, Geheimnisvolle, Unerklärte hatte für ihn wie für seine
poetische Freundin Annette von Droste einen unwiderstehlichen Reiz. Während
sich die Dichterin mehr dem zuwandte, was mit den Nachtseiten der Natur und
dem Hereinragen einer andern Welt in die unsre zusammenzuhängen schien, suchte
der Romanschriftsteller mit Vorliebe die Rätsel in der Geschichte, im Menschen¬
verkehr auf, Schücking hatte jenen naiven Zug der Erzähler andrer Zeit, welche
dem seltsamen, erst allmählich Aufzuhellenden einen gewissen Vorzug gaben.
Gerade indem Roman "EinStaatsgeheimnis" macht sich aber auch wieder geltend,
wie er dergleichen Dinge zu beleben verstand und wie sie ihm als Basis für
eine außerordentliche Mannichfaltigkeit der Gestalten dienten. Gegenwärtig, wo
die Söhne Nauudorfs als angebliche Prinzen von Bourbon einen Aufruf an
Frankreich erlassen haben und gegen die Ansprüche des Grafen von Paris
protestiren, vermöchte der vergessene Roman wieder eine gewisse, freilich nicht
dem Kunstwerk geltende Teilnahme zu finden.

Unter den nächstfolgenden Romanen "Die Sphinx" (1856), "Günther von
Schwarzburg" (1367), "Der Held der Zukunft" (1859) müssen wir dem letzt¬
genannten dem geistigen Gehalt nach den Vorzug geben. Er gehört zu den
kürzeren Romanen des Schriftstellers, aber zu denen, in welchen er einen be¬
deutenden Teil seiner reichen Lebenserfahrungen und seiner Empfindungen über
die Lebenserscheinungen der Gegenwart aufgenommen hat. Die Erfindung hat
hier nichts Abenteuerliches, sonderlich Ungewöhnliches, doch die Charakteristik
ist tiefer und lebendiger und die poetische Stimmung anheimelnder als in zahl¬
reichen Romanen, welche Bilder aus der Gegenwart geben. "Der Held der
Zukunft" ist offenbar unter den Eindrücken jener ersten fünfziger Jahre ent¬
standen, in denen die Gemüter nach einer Trostformel für das Scheitern aller
ein paar Jahre früher gehegten politischen Hoffnungen suchten. Der Titel hat
einen ironischen Beigeschmack, insofern wenigstens ein Held der Zukunft, der
zum Tode verurteilte Demokrat und Sozialist Wallheim, einen gewaltigen Um¬
schlag erlebt, als er die Entdeckung macht, daß er ein Reichsgraf von Mcrwiug
ist. Der tiefere Grundgedanke des Werkes ist, daß das bloße Streben der
Gegenwart, das leidenschaftliche Verlangen nach der That schlechthin, ohne
tieferes Seelenleben und Gemütsauteil, ohne innere Hingabe des Menschen an
sei" Thun in der gleichen Weise verödet, wie die bloße Beschaulichkeit und jenes
Innenleben, das nur ein verfeinerter thatunkräftiger Egoismus ist. Gewisse
leise Einwirkungen von Gutzkows "Rittern vom Geist," die um jene Zeit in
großem Ansehen standen, sind nicht zu verkennen, aber die feine Natur Schückings
bildet auch diese Einwirkungen um und giebt mit wärmeren Anteil an seinen
Gestalten und unendlich größerer Knappheit ein sehr lebendiges Zeitbild. Eigen-


Levin Schücking.

eine große und mannichfaltige Intrigue, welche in den unhistorischen Kreisen des
Lebens spielt, doch überall auf die historischen hinausweist. Schücking ging
zufolge seiner Auffassung des Romans derartigen Stoffen nicht aus dem Wege,
Das Abenteuerliche, Geheimnisvolle, Unerklärte hatte für ihn wie für seine
poetische Freundin Annette von Droste einen unwiderstehlichen Reiz. Während
sich die Dichterin mehr dem zuwandte, was mit den Nachtseiten der Natur und
dem Hereinragen einer andern Welt in die unsre zusammenzuhängen schien, suchte
der Romanschriftsteller mit Vorliebe die Rätsel in der Geschichte, im Menschen¬
verkehr auf, Schücking hatte jenen naiven Zug der Erzähler andrer Zeit, welche
dem seltsamen, erst allmählich Aufzuhellenden einen gewissen Vorzug gaben.
Gerade indem Roman „EinStaatsgeheimnis" macht sich aber auch wieder geltend,
wie er dergleichen Dinge zu beleben verstand und wie sie ihm als Basis für
eine außerordentliche Mannichfaltigkeit der Gestalten dienten. Gegenwärtig, wo
die Söhne Nauudorfs als angebliche Prinzen von Bourbon einen Aufruf an
Frankreich erlassen haben und gegen die Ansprüche des Grafen von Paris
protestiren, vermöchte der vergessene Roman wieder eine gewisse, freilich nicht
dem Kunstwerk geltende Teilnahme zu finden.

Unter den nächstfolgenden Romanen „Die Sphinx" (1856), „Günther von
Schwarzburg" (1367), „Der Held der Zukunft" (1859) müssen wir dem letzt¬
genannten dem geistigen Gehalt nach den Vorzug geben. Er gehört zu den
kürzeren Romanen des Schriftstellers, aber zu denen, in welchen er einen be¬
deutenden Teil seiner reichen Lebenserfahrungen und seiner Empfindungen über
die Lebenserscheinungen der Gegenwart aufgenommen hat. Die Erfindung hat
hier nichts Abenteuerliches, sonderlich Ungewöhnliches, doch die Charakteristik
ist tiefer und lebendiger und die poetische Stimmung anheimelnder als in zahl¬
reichen Romanen, welche Bilder aus der Gegenwart geben. „Der Held der
Zukunft" ist offenbar unter den Eindrücken jener ersten fünfziger Jahre ent¬
standen, in denen die Gemüter nach einer Trostformel für das Scheitern aller
ein paar Jahre früher gehegten politischen Hoffnungen suchten. Der Titel hat
einen ironischen Beigeschmack, insofern wenigstens ein Held der Zukunft, der
zum Tode verurteilte Demokrat und Sozialist Wallheim, einen gewaltigen Um¬
schlag erlebt, als er die Entdeckung macht, daß er ein Reichsgraf von Mcrwiug
ist. Der tiefere Grundgedanke des Werkes ist, daß das bloße Streben der
Gegenwart, das leidenschaftliche Verlangen nach der That schlechthin, ohne
tieferes Seelenleben und Gemütsauteil, ohne innere Hingabe des Menschen an
sei» Thun in der gleichen Weise verödet, wie die bloße Beschaulichkeit und jenes
Innenleben, das nur ein verfeinerter thatunkräftiger Egoismus ist. Gewisse
leise Einwirkungen von Gutzkows „Rittern vom Geist," die um jene Zeit in
großem Ansehen standen, sind nicht zu verkennen, aber die feine Natur Schückings
bildet auch diese Einwirkungen um und giebt mit wärmeren Anteil an seinen
Gestalten und unendlich größerer Knappheit ein sehr lebendiges Zeitbild. Eigen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/200>, abgerufen am 28.07.2024.