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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

ein ewig Bleibendes dar, wie im siebenten Buche Lotharios anmutiges Aben¬
teuer lehrt. Lothario, ein reicher junger Edelmann, hatte einst Margarete, die
schöne Pachterstochter in der Nachbarschaft, geliebt; drauf war sie weit weg
verheiratet worden und kam nun mit ihren sechs Kindern, den Vater zu besuchen.
Und wieder war es Frühling, wie damals zur Zeit ihrer Liebe, denn auch der
Frühling, der so bald scheidet, kehrt ja immer wieder:*) wilde Rosen blühten
an den Hecke", und die Knaben schüttelten Maikäfer von den Bäumen. Und
von einer Krankheit eben genesen und dadurch weich gestimmt ritt Lothario
den alten, wohlbekannten Weg dahin, glaubte eine Mutter zu begrüßen und
fand statt ihrer ein blühendes Mädchen, ganz mit den Zügen und in der Gestalt
wie Margarete ehemals: es war die Muhme, und er wußte nicht, was er denken
sollte und wie ihm geschah. Dann sah er sie auch selbst wieder, und sie führte
ihn in die Stube, wo beinahe alles noch auf dem alten Platze stand. "Die
schöne Muhme, erzählt er, saß auf eben dem Schemel hinter dem Spinnrocken,
wo ich meine Geliebte in eben der Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines
Mädchen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so
stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und der
Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüten und
Früchte stufenweise neben einander leben." Margarete sagte ihm, da sie eine"
Augenblick allein gelassen waren: "Auch ich kann Ihnen versichern, daß ich eine
unaussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gewünscht, Sie nur noch
einmal im Leben wiederzusehen; ich habe es in Augenblicken gewünscht, die ich
für meine letzten hielt." Diese Worte waren wie aus dem Munde Friederikens
von Sessenheim gesprochen, die der Dichter nach acht Jahren wiedersah: die
Freude war auch damals von beiden Seiten groß, der Schmerz der Trennung
geheilt und die Gemüter versöhnt. Friederike war noch unvermählt, aber Lili,
da er sie tags drauf in Straßburg besuchte, hatte wie Margarete ein Kind
auf dem Arme; und so glichen auch diese Augenblicke denen, die dem Dichter
nach so langer Zeit vorschwebten. "Es ist nichts reizender, sagt Lothario bei
dieser Gelegenheit, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme,
und nichts ehrwürdiger, als eine Mutter unter vielen Kindern." Seine Er¬
zählung von dieser Wiederbegegnung, die drei weiblichen Lebensalter neben ein¬
ander, diese ganze Novelle, die mit einer ruhenden Szene, wie auf einem ideale"
Theater, schließt, hätte verdient, statt in einen Roman eingeschoben zu werde",
ein eignes Gedicht zu bilden. In der Verflechtung mit den Personen und Ge¬
sprächen des Romans erhält sie ein mehr weltliches oder unheiliges Kolorit,
und so schön sie auch in dieser milden, durchsichtigen, sanft hingleitenden Prosa
ist, es fehlt ihr doch die Göttersprache des Verses und Rhhthmus, in der "Alexis
und Dora" zu uns redet.



Weder der Tag, schreibt der Dichter am 6. März 1731, noch der Frühling, noch die
Liebe werden immer wiederkehrend alt.
Gedanken über Goethe.

ein ewig Bleibendes dar, wie im siebenten Buche Lotharios anmutiges Aben¬
teuer lehrt. Lothario, ein reicher junger Edelmann, hatte einst Margarete, die
schöne Pachterstochter in der Nachbarschaft, geliebt; drauf war sie weit weg
verheiratet worden und kam nun mit ihren sechs Kindern, den Vater zu besuchen.
Und wieder war es Frühling, wie damals zur Zeit ihrer Liebe, denn auch der
Frühling, der so bald scheidet, kehrt ja immer wieder:*) wilde Rosen blühten
an den Hecke», und die Knaben schüttelten Maikäfer von den Bäumen. Und
von einer Krankheit eben genesen und dadurch weich gestimmt ritt Lothario
den alten, wohlbekannten Weg dahin, glaubte eine Mutter zu begrüßen und
fand statt ihrer ein blühendes Mädchen, ganz mit den Zügen und in der Gestalt
wie Margarete ehemals: es war die Muhme, und er wußte nicht, was er denken
sollte und wie ihm geschah. Dann sah er sie auch selbst wieder, und sie führte
ihn in die Stube, wo beinahe alles noch auf dem alten Platze stand. „Die
schöne Muhme, erzählt er, saß auf eben dem Schemel hinter dem Spinnrocken,
wo ich meine Geliebte in eben der Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines
Mädchen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so
stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und der
Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüten und
Früchte stufenweise neben einander leben." Margarete sagte ihm, da sie eine»
Augenblick allein gelassen waren: „Auch ich kann Ihnen versichern, daß ich eine
unaussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gewünscht, Sie nur noch
einmal im Leben wiederzusehen; ich habe es in Augenblicken gewünscht, die ich
für meine letzten hielt." Diese Worte waren wie aus dem Munde Friederikens
von Sessenheim gesprochen, die der Dichter nach acht Jahren wiedersah: die
Freude war auch damals von beiden Seiten groß, der Schmerz der Trennung
geheilt und die Gemüter versöhnt. Friederike war noch unvermählt, aber Lili,
da er sie tags drauf in Straßburg besuchte, hatte wie Margarete ein Kind
auf dem Arme; und so glichen auch diese Augenblicke denen, die dem Dichter
nach so langer Zeit vorschwebten. „Es ist nichts reizender, sagt Lothario bei
dieser Gelegenheit, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme,
und nichts ehrwürdiger, als eine Mutter unter vielen Kindern." Seine Er¬
zählung von dieser Wiederbegegnung, die drei weiblichen Lebensalter neben ein¬
ander, diese ganze Novelle, die mit einer ruhenden Szene, wie auf einem ideale»
Theater, schließt, hätte verdient, statt in einen Roman eingeschoben zu werde»,
ein eignes Gedicht zu bilden. In der Verflechtung mit den Personen und Ge¬
sprächen des Romans erhält sie ein mehr weltliches oder unheiliges Kolorit,
und so schön sie auch in dieser milden, durchsichtigen, sanft hingleitenden Prosa
ist, es fehlt ihr doch die Göttersprache des Verses und Rhhthmus, in der „Alexis
und Dora" zu uns redet.



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Liebe werden immer wiederkehrend alt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/20>, abgerufen am 27.07.2024.